Kapitel 9
Brrr! Es ist saukalt und ich friere mir gerade sämtliche Gliedmaße ab. Bald werde ich mich wohl von meinen Zehen verabschieden müssen. 'Bevor ihr abfallt, möchte ich euch noch dafür danken, dass ihr stets für mich da wart und mich bei jedem meiner Schritte tatkräftig unterstützt habt!', schicke ich als Dankesgruß nach unten. Der Alkohol muss mir wohl etwas zu Kopf gestiegen sein. Um mir ein bisschen Mut und etwas mehr Redseligkeit anzutrinken, habe ich, kurz bevor Konrad und ich zum Gaming-Abend aufgebrochen sind, noch ein paar Schnäpse gebechert, die Jonas-Thomas-Lukas aus Kirschen in seinem Garten selbst gebrannt hat.
Angeheitert habe ich mich dann auf Sids Fahrrad geschwungen und bin Konrad zur Uni gefolgt, wo der Gaming-Abend stattfand. Übrigens schon seit 18 Uhr. Es hat sich herausgestellt, dass ich mich verhört und statt achtzehn Uhr acht Uhr verstanden habe. Wir kamen also zwei Stunden zu spät und konnten nur noch zwei Stühle ergattern und sie neben Luong platzieren. Mein Plan, mich mit der coolen Mädelsgruppe anzufreunden, ist also wieder einmal gescheitert. Die nächsten zwei Stunden waren stinklangweilig. Erst, als ich auch mal an die Konsole durfte, hob sich meine Stimmung. Die, der anderen sank jedoch dramatisch, weil ich dabei ausversehen den Spielstand löschte. Hoppla. Das war dann meine letzte Runde FIFA.
Naja, war vielleicht besser so, denn ich vergaß zwischendurch mehrmals, welches Tor den Gegnern gehörte und steuerte meine Figur kurzzeitig planlos auf dem Feld hin und her. Vielleicht hätte ich doch erst nach dem Gaming-Abend zum Alkohol greifen sollen. Die letzten drei Stunden waren jedenfalls ein totaler Reinfall und ich war froh, als Sid mich anrief, um mir zu sagen, dass sie und die anderen sich nun auf den Weg zum Club machen würden und wir uns bereit halten sollten. Also schnappte ich mir meine kleine Umhängetasche und Konrad, der viel lieber beim Gaming-Abend geblieben wäre, und manövrierte beide nach draußen. Nach einer langen Fahrt, weil wir uns andauernd verfuhren, trafen wir schließlich auf die anderen. Bevor wir uns jedoch zusammen Richtung Club bewegten, wollte Sid noch Geld holen.
Und jetzt stehen wir um einen alten Brunnen in einem gruseligen Park herum und warten.
Unter 'Geld holen' versteht Sid nämlich, einen Wunschbrunnen auszurauben. Sie kniet gerade auf dem Rand des Brunnens und fischt mit den Händen nach Geldstücken. Ich weiß nicht, ob ich ihre Idee grandios oder verwerflich finden soll. Verwerflich natürlich!
"Sid, hast du endlich genug Münzen gefunden?", quengelt Charlie. Sie muss schon seit Ewigkeiten aufs Klo und überkreuzt krampfhaft die Beine.
"Einen Moment noch. Ich suche noch nach einem Fünfzig-Cent-Stück. Dann habe ich den Eintritt zusammen!" Bis sie endlich genug Geld akquiriert hat, sind mir wahrscheinlich schon die Finger abgestorben. Ich halte sie mir prüfend vors Gesicht, um ihre leicht bläuliche Verfärbung zu studieren. Noch ein wenig länger in der Kälte und ich verwandle mich in einen von den Na'vi, das blaue Volk aus dem Avatar-Film.
"Gefunden!", ruft Sid endlich und präsentiert uns stolz das goldene Geldstück. Ein allgemeines Aufseufzen geht durch die Runde. Ich schaue zu Tobi, der ungeduldig an einem Baum lehnt. Verwundert darüber, dass er nun doch zur Party geht, habe ich ihn vorhin gefragt, warum er es sich anders überlegt hat. Doch er schaute mich nur verwirrt an. Bevor er etwas dazu sagen konnte, kam Sid angeprescht und umarmte mich stürmisch.
"Ich hatte schon Sorge, dass wir dich an ein blödes Computerspiel verloren hätten.", lallte sie angeheitert. Sie hatte bei der Schnapsverkostung in unserer Küche leidenschaftlich mitgetrunken und weil sie so dünn ist, muss ihr der Alkohol trotz ihrer Größe ziemlich schnell zu Kopf gestiegen sein.
"Auf ins Gedränge, Freunde!", schallt ihr Schlachtruf jetzt durch den Park und unsere Truppe setzt sich in Bewegung. Ich greife nach Sids Fahrrad, das ich an der Mauer neben mir abgestellt habe, und löse den Ständer, um es neben mir herzuschieben. Der Weg zum Club ist von unserer WG aus nicht so weit, weswegen Konrad und ich die einzigen sind, die ein Fahrrad dabei haben. Mein Blick wandert wieder zu Tobi. Seit unserer Begrüßung hat er mich geflissentlich ignoriert und so getan, als ob wir uns nicht kennen würden und irgendwie wurmt mich das sehr.
Der Weg führt uns durch eine alte, verwinkelte Gasse, die viele heimelige Cafés beherbergt. Im Schein der Laternen erkenne ich einige hölzerne Klappliegen mit dem Schriftzug der Landesgartenschau, die in diesem Jahr hier stattfinden soll. Doch meine Gedanken schweifen sofort wieder zu Tobi und ich grübele darüber nach, warum er mich immer noch keines Blickes würdigt, sondern lieber in ein Gespräch mit Jonas-Thomas-Lukas und Sid verwickelt ist. Ist das eine Masche von ihm? Mich hinzuhalten und sich dadurch interessanter zu machen? Wenn ja, funktioniert es leider, wie ich mir widerwillig eingestehen muss.
"Wie lange, denkst du, bleiben wir auf der Party?" Konrad ist unbemerkt neben mich getreten und schaut mich nun miesepetrig an. Er trauert immer noch dem Zocken nach und macht daraus keinen Hehl.
"Naja, so lange wie wir Lust haben, denke ich."
"Mmh.", brummt er sichtlich unzufrieden mit meiner Antwort. Er trägt eine seiner hellbraunen Cordhosen und dazu ein blau-weiß kariertes Hemd, das aber gerade von einer grauen Wanderjacke verdeckt wird.
"Und weißt du schon, wie lange du Lust hast?"
"Ach, Konni, das wird bestimmt ganz witzig!", versuche ich ihn aufzumuntern.
"Mmh.", brummt er wieder.
Zum Glück taucht in dem Moment endlich der Club vor uns auf und vibrierende Bässe dringen an mein Ohr. Fasziniert mustere ich die schwarzgelb gestrichene Fassade und die große Tigerenten-Figur, die über dem Eingang zu schweben scheint. Auch nach krampfhaftem Augenzukneifen kann ich die Seile nicht erkennen, an denen die Ente offenbar hängen muss. Als ich Sid gestern Abend gefragt habe, was es mit dem Namen auf sich hat, meinte sie, dass keiner wüsste, warum diese ulkige Ente zum Symbol dieses Clubs geworden war. Nicht einmal die letzten drei Besitzer. Sie hatten den Stil bei der Übernahme einfach beibehalten, weil der Club durch sein Markenzeichen zu einer beliebten Sehenswürdigkeit für Touristen geworden war und dementsprechend gute Kohle lieferte.
"So!" Sid dreht sich zu uns um und klatscht freudig in die Hände. "Jetzt erfolgt Plan 'Einschleusen'."
Plan 'Einschleusen' stellte sich als kein wirklicher Plan heraus, denn er sah lediglich vor, Konrad unauffällig zum Hintereingang zu lotsen und den dortigen Wachmann mit einer guten Ausrede wegzulocken. Besagte Ausrede mussten wir uns allerdings erst noch ausdenken. Nach ewigem Hin- und Herüberlegen, einigten wir uns schließlich darauf, dass Tick und Trick eine lautstarke Auseinandersetzung simulieren sollten, die den Wachmann vorübergehend ablenken würde, während Sid von innen die Tür öffnen konnte.
Gesagt, getan.
Leider entpuppten sich Tick und Trick als Buddha und Mahatma Ghandi, die sich niemals gegenseitig anranzen würden und die Pöbelei nur sehr schlecht schauspielerten ("Du bist heute echt nicht nett!" - "Das ist aber gemein von dir!"). Anstatt einzugreifen, verdrehte der Wachmann nur genervt die Augen und fragte sarkastisch, ob sie nicht lieber gleich ihre Anwälte einschalten wollten, da er sie offenbar für verwöhnte Jura-Studenten hielt. Erst, als Jonas-Thomas-Lukas und Tobi sich einschalteten und dem Konflikt eine ganz neue Wendung bescherten, erhob sich der Wachmann und ging dazwischen. Das war der Moment, in dem sich Konrad an der Hauswand entlang drückte und durch die von Sid geöffnete Tür huschte. Der Plan schien aufzugehen. Wir hatten nur ein Problem: Der Wachmann schwärzte Tobi und die anderen drei Störenfriede bei den Türstehern am Eingang an, die den vieren danach den Eintritt verweigern wollten. Nur Sid schaffte es letztendlich, die Türsteher davon abzubringen. Keine Ahnung, welche Register sie dafür ziehen musste.
"Hier, deiner!", brüllt sie mir nun über die dröhnende Musik hinweg zu und reicht mir ein Shotglas, das mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt ist.
"Auf den reichen Wunsch-Brunnen und unseren genialen Plan!" Sie hebt das Glas in die Höhe, damit wir anstoßen können.
"Prost!", rufen wir alle gleichzeitig und das Klirren der Gläser verschmilzt mit der rhythmischen Musik. Nachdem ich den Shot geext habe, drehe ich mich zu Tobi um, der etwas abseits steht. Beim Eintreten hat er alle weiblichen und auch einige neidische männliche Blicke auf sich gezogen, denn obwohl er nur ein schlichtes, schwarzes T-Shirt und eine blaue Jeans trägt, sieht er verdammt heiß aus.
"Erzähl mir was Spannendes!", fordere ich ihn auf und bin gespannt, welchen Fakt er diesmal zum Besten gibt.
Tobi schaut mich jedoch nur irritiert an und sagt nach kurzem Überlegen:
"Ich habe heute meine letzte Klausur nachgeschrieben und habe ein ziemlich gutes Gefühl."
"Äh", mache ich verwirrt. "Das ist schön. Glückwunsch!" Hatte er keinen interessanten Fakt mehr auf Lager oder hat er nicht verstanden, worauf ich hinauswollte? Bevor ich ihn danach fragen kann, sagt er:
"Ich muss aufs Klo." und verschwindet durch eine Tür neben der Bar, die zu den Toiletten führt. Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Was war das denn?
"Milla!" Jemand tippt mir auf die Schulter. Es ist Sid, die mir einen neuen Shot vor die Nase hält.
"Hier kommt schon Nummer zwei."
Ich greife nach dem Gläschen, hebe es an meinen Mund und leere es ohne darüber nachzudenken.
"Braves Mädchen!" Sid grinst.
Dann fängt sie ein Gespräch mit Track an, das ich nur mit halbem Ohr verfolge, weil ich über Tobis seltsame Reaktion nachgrübele und dabei meinen Blick durch den großen Raum schweifen lasse. Hier befindet sich die größte der vier Tanzflächen und wie auch in den anderen Räumen ist keine Spur mehr von schwarzgelb gestreiften Federtieren zu sehen. Das Innere des Clubs wurde scheinbar frisch renoviert und man hatte diesmal keine lebensgroßen, des Quakens bemächtigten Kreaturen aufgehängt. In meinem berauschten Hirn braut sich dafür folgende potenzielle Erklärung zusammen: Hier gehen wohl genug Menschen ein und aus, die einen Vogel haben. Da braucht man nicht noch welche an die Decke zu hängen.
Ein paar Minuten später taucht Tobi auch schon wieder auf. Zu meinem Ärger allerdings nicht allein: Ein fremdes Mädchen stolziert neben ihm her und quasselt ihn voll. Dabei wirft sie lachend ihren Kopf in den Nacken und präsentiert ihre strahlend weißen Zähne. Sie muss sich jeden Tag eine hochdosierte Bleaching-Zahncreme in den Mund schmieren. Ich spüre einen Stich in meiner Magengegend. Wieso guckt Tobi sie so interessiert an? Wegen der glänzenden, schwarzen Haare, die ihr wie ein Seidenvorhang über die Schultern fallen und ihr bis zur Hüfte reichen? Oder wegen der fein geschwungenen Wimpern, die so lang sind wie Charlies Pony? Oder weil ihre Taille so schmal ist, dass ich sie mit einer Hand umgreifen könnte?
Hör auf! Du bist ja armselig!, meldet sich meine Vernunftsstimme zu Wort. Und sie hat ausnahmsweise mal recht. Trotzdem kann ich meinen Blick nicht von den beiden abwenden. Was will Tobi nur von diesem Vamp-Girl? Deren knallrote, sinnliche Lippen verziehen sich erneut zu einem Lachen und sie gibt Tobi spielerisch einen Klapps auf die Schulter. Grrrrrrrr...
"Du schaust so grimmig. Alles in Ordnung?", erkundigt sich Sid bei mir. Ich reiße meinen Blick vom flirtenden Vamp los.
"Ja, ja.", antworte ich schnell. "Ich habe nur eben eine Gesichtsyoga-Übung gemacht." Meine Lügen waren auch schon mal besser. Elender, das Hirn benebelnder Alkohol!
"Aha, soll das nicht eigentlich das Gesicht glätten, anstatt neue Falten hervorzubringen?" Sie deutet mit dem Finger auf den Bereich zwischen meinen Augenbrauen, wo sich wahrscheinlich meine Zornesfalte vertieft hat. Ich halte meine Hand an mein Ohr und tue so, als hätte ich sie durch die laute Musik nicht verstanden.
"Egal.", schreit Sid und winkt ab. "Komm, lass uns tanzen!" Sie zieht mich hinter sich her auf die volle Tanzfläche, wobei ich einem Ellenbogen ausweichen muss, der mir in den Magen stoßen will. Es läuft gerade ein Techno-Remix aus bunt zusammengewürfelten Beats. Wie soll man denn dazu tanzen? Nicht, dass ich zu irgendeiner Musik gut tanzen könnte, aber zu dieser kann ich nicht mal rhythmisch mit dem Kopf nicken.
Während Sid sich den Klängen hingibt und ihre geschmeidigen Bewegungen eins mit dem Takt werden, tippe ich abwechselnd mit dem rechten und dem linken Fuß auf den Boden und kreiere dabei einen völlig eigenen Rhythmus.
Das geht eine gefühlte Ewigkeit so, bis die Luft, die ich einatme mehr CO2 enthält, als die Luft, die ich ausatme und sich zudem ein Krampf im linken Fuß ankündigt. Da Sid seit ein paar Minuten sowieso intensiv mit einem Typen flirtet und ich mich wie das fünfte Rad am Wagen fühle, quetsche ich mich durch die Menschenmenge zum Ende der Tanzfläche, um mich ein bisschen auszuruhen.
Dort angekommen, entdecke ich Konrad, der sich in der VIP-Lounge auf ein freies Sofa fallen lässt. Wahrscheinlich weiß er nicht, dass man für diesen Luxus extra bezahlen muss und er vermutlich angeschnauzt wird, wenn die Mieter der VIP-Lounge zurückkommen. Ich beschließe, ihn zu warnen.
Als ich das Sofa erreicht habe, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, mich ebenfalls kurz darauf zu fläzen.
"Du, Konni...", rufe ich ihm über die Musik hinweg zu und lehne mich genießerisch gegen die weichen Polster. "Eigentlich dürfen wir hier nicht ohne VIP-Bändchen sitzen." Aber das ist mir in dem Moment sowas von egal. Ich will nur in diese samtigen Kissen sinken und mich von diesem flauschigen Stoff in ein traumloses Schläfchen tragen lassen. Hach.
Kurz bevor mir die Augen zufallen, vernehme ich eine gereizte Stimme:
"Hey, das ist unser Platz! Ihr dürft hier nicht sitzen. Wir haben den gemietet." Gnarf. Das war es wohl mit dem Traum vom Schlaf.
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Schalömmchen! <3
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