Kapitel 7

Ich stehe vor dem Wandspiegel im Flur der WG und tusche mir die Wimpern. Zum zweiten Mal an diesem Abend... Das erste Mal habe ich mir mehr das Augenlid angemalt anstatt meine Wimpern und musste es wieder abwaschen. Denn, egal wie oft ich mich schon geschminkt habe, irgendwie kann ich mir die feinmotorischen Bewegungen nicht einprägen und es fühlt sich jedes Mal an, als würde ich wieder von Null anfangen. Okay, größtenteils hat Mama das Schminken übernommen, wenn sie mir vorm Ausgehen oder vor Festen wie fast immer die Haare gestylt hat. Gewöhnlich ist sie auch gleich noch mit ein paar Pinseln, Schwämmen und Stiften über mein Gesicht gefahren und hat daraus ein komplett neues Antlitz erschaffen.

Argh! Soeben habe ich mir mit der stacheligen Mascarabürste ins Auge gestochen. Ich blinzele hektisch die Tränen weg.

Also langsam sollte ich wenigstens die Augen fertig haben. Es ist bestimmt schon eine halbe Stunde vergangen, seit ich mich von der bunten Gruppe aus Sid und ihren Freunden gelöst habe, um mich für den Abend fertig zu machen. Nachdem die gesamte Mannschaft auf mich eingeredet hat, doch auf die Tigerenten-Party zu gehen, habe ich schließlich versprochen, dass ich mir den Gaming-Abend nur kurz anschauen und mich ihnen später anschließen würde. Konrad war sofort Feuer und Flamme, als er gehört hat, welche Spiele dort auf dem Programm stehen und will mich nun unbedingt zum Gaming-Abend begleiten. Obwohl mir die Namen der Spiele nichts gesagt haben, konnte ich sie mir trotzdem einwandfrei merken, als Luong sie beim Mittagessen herunterratterte.

Ach ja, das Mittagessen...

Dort kam ich mir noch mehr fehl am Platz vor als bei den fünf Mädels. Im Gegensatz zu denen haben Luong und seine Kumpanen quasi gar kein Deutsch mehr gesprochen, sondern fließend informatisch. Tom, der mit der Zahnspange und dem Topfhaarschnitt, hat mich übrigens keines Blickes mehr gewürdigt, als er erfuhr, dass ich noch nie programmiert habe. Ich hatte zwar versucht vorzutäuschen, eine erfahrene Programmiererin zu sein, aber nach der ersten informatischen Frage wurde ich sofort entlarvt. Die Frage lautete, welche meine Lieblingsprogrammiersprache sei. Und meine Antwort, dass ich am liebsten in Deutsch programmiere, war wohl nicht richtig. Na gut, Toms Gesellschaft werde ich bestimmt nicht hinterhertrauern. Der kann sich von mir aus für was Besseres halten, solange er will. Ich schnaube verächtlich, als ich mir den überlegenen Blick in Erinnerung rufe, mit dem er mich jedes Mal bedacht hat, wenn ich es gewagt habe, den Mund aufzumachen. Blödmann!

"Milla, willst du noch ein Bier?", kommt es von Sid aus der Küche geschallt.

"Liebend gerne!", rufe ich erfreut zurück.

Als ich in die Küche schreite, schaut mich Sid mit schief gelegtem Kopf und gerunzelter Stirn an.

"Sag mal, hast du nur dein rechtes Auge geschminkt?" Ups. Vor lauter Verärgerung über den eingebildeten Tom habe ich ganz vergessen, weswegen ich vor dem Spiegel stand. Und wo habe ich denn die Wimperntusche gelassen?

"Ich muss mir erst Mut antrinken, bevor ich mir ein Auge aussteche.", gebe ich so cool wie möglich zurück.

Sid lacht. "So schlimm?" Sie schaut mich mit ihrem perfekt geschminkten Elfengesicht mitleidig an, während sie meine Bierflasche mit einem präzise kalkulierten Schlag auf die Tischkante öffnet.

Ich beobachte das Schauspiel erstaunt und nicke.

"Ach, dann übernehme ich das einfach, wenn ich mein Bier ausgetrunken habe!", bietet sie mir an und streckt mir die Bierflasche hin, die ich gerne entgegen nehme.

"Das wäre super!", sage ich dankbar und nicke abermals. Ich will mich durch das Schminken ja schöner machen und nicht hässlicher.

"Hey Sid, kannst du dich mal bei Netflix einloggen? Charlie kennt 'How I met your mother' nicht und das muss sich schleunigst ändern!", tönt eine Männerstimme aus dem Wohnzimmer. Das muss Jonas sein. Oder hieß er Thomas? Oder doch Lukas? Mann, wieso kann ich mir Namen nur so schlecht merken? Sie hatten sich mir vorhin alle vorgestellt. Aber bis auf 'Charlie' hatte ich alle Namen sofort wieder vergessen.

"Ja, ich komme!", ruft Sid und stößt sich vom Kühlschrank ab, an den sie sich gerade gelehnt hat. "Also von mir aus muss man die Serie auch nicht kennen. Wird total überbewertet.", sagt sie zu mir und verdreht die Augen. Ich nicke einfach zustimmend, obwohl ich die Serie auch nicht kenne.

"Kommst du mit rüber?", fragt sie.

"Yep.", antworte ich, setze mich in Bewegung und habe das halb geschminkte Gesicht vorerst wieder vergessen.

Das Wohnzimmerlicht ist gedämmt und eine kleine Discokugel dreht sich an der Decke. Sie projiziert unzählige tanzende Lichtpunkte an die Wände.

"Also meine nächste Reise führt nach Südamerika! Der Kontinent fasziniert mich schon, seit ich als Kind eine Azteken-Ausstellung besucht habe.", schnappe ich von einem Mädchen in schwarzem Top und blauem Jeansrock auf.

"Ja, da würde ich auch sehr gerne mal hin!", pflichtet ihr ein Typ mit hochgegelten, dunkelblonden Haaren bei. Ich habe ihn und seine zwei Kumpels der Einfachheit halber Tick, Trick und Track getauft, auch weil sie jeweils ein grünes, rotes und blaues Oberteil tragen, wie die drei Neffen von Donald Duck.

"Oh, dann solltet ihr mal Milla ausfragen! Die war in der Oberstufe ein Jahr lang in Ecuador!", erzählt Sid stolz. Ich spucke den Schluck Bier, den ich gerade genommen habe, entsetzt wieder in die Flasche zurück. Oh nein, bitte nicht!

"Ui, das ist ja toll!", ruft das Mädchen begeistert aus. Es hat irgendeinen Namen mit 'L'. "Wie hat es dir gefallen und wo warst du denn überall?"

Shit. Was sage ich jetzt bloß?

"Es war super! Ich würde am liebsten nochmal hingehen. Das Wetter war immer schön, die Menschen mega nett und das Essen sehr lecker.", berichte ich vage und hoffe, dass sie ihre zweite Frage wieder vergessen hat. Immerhin weiß ich jetzt, dass Ecuador in Südamerika liegt.

"Ach, ich bin so neidisch!", sagt 'L' und ihre Augen bekommen einen träumerischen Glanz.

"Hey, das bringt mich auf eine Idee.", meint Tick. "Wir wollten morgen zusammen kochen. Du könntest ja auch kommen und eine ecuadorianische Spezialität mitbringen! Charlie bringt einen marokkanischen Nachtisch mit und Sid einen griechischen Salat. Was ist denn ein landestypisches Gericht für Ecuador?"

Tick, Trick, Track und L schauen mich gespannt an. Und auch Sid sieht erwartungsvoll von der Fernbedienung hoch. Oh nein... Oh nein!! Denk nach, Milla, denk nach! Tja, das hast du jetzt von deiner schamlosen Lügerei!, erklingt meine Vernunftsstimme hämisch. 'Halt die Klappe und such nach einem Ausweg!', schreie ich innerlich zurück. Ich habe wohl eine leicht schizophrene Ader.

Da kommt mir eine Idee.

"Oh, Moment!", sage ich und hole mein Handy aus der hinteren Hosentasche hervor. "Mein Handy vibriert. Ich erwarte eine wichtige Nachricht. Da muss ich kurz mal schauen." Hastig entsperre ich meinen Bildschirm und gebe mit flinken Fingern 'Spezialität Ecuador' in meine Suchmaschine ein. Ich klicke auf den ersten Link, der erscheint. Eine Spezialität ist ein Gericht namens 'Cuy'. Erleichtert sperre ich meinen Bildschirm und lasse das Handy wieder in der Hosentasche verschwinden.

"So...", fange ich dann an. "Was ich in Ecuador sehr oft gegessen habe, war 'Cuy'. Das kann ich morgen mitbringen."

Zufrieden nicke ich. Nach der Unterhaltung mit Tobi auf dem Balkon habe ich mir ja sowieso vorgenommen, mir ein Hobby zuzulegen. Dann probiere ich es doch einfach mal mit kochen! Hoffentlich ist 'Cuy' kein allzu schweres Gericht. Wieso habe ich mir denn die Zutaten nicht noch kurz durchgelesen?

"Aha, und aus was besteht Cuy?", fragt da auch schon Track interessiert nach. Na toll. Soll ich eine Zutatenliste erschwindeln oder lieber doch nochmal googeln? Wehe, du lügst dir das Gericht zusammen!, meldet sich wie zu erwarten sogleich mein Gewissen zu Wort. Okay. Ich beschließe ausnahmsweise darauf zu hören. Ohne zu lügen komme ich trotzdem nicht aus.

"Oh, schon wieder eine Nachricht!" Mit gespielter Verwunderung ziehe ich mein Handy erneut aus der Hosentasche und entsperre es. Sofort lande ich wieder auf dem Artikel über ecuadorianische Spezialitäten. Nach kurzem Scrollen lese ich: "Dabei wird ein gegrilltes Meerschweinchen in Erdnusssoße mit gekochten Kartoff..." MEERSCHWEINCHEN?! Ich quieke entsetzt auf.

"Ist alles in Ordnung?", fragt L besorgt. Ich schaffe es gerade so, schwach zu nicken. Meerschweinchen?! Wieso das denn? Ich muss an das putzige, braune Kerlchen mit den Rosetten von Cosima denken. Eigentlich wollte sie es nach sich selbst benennen, aber da haben Mama und James schließlich ihr Veto eingelegt und ihr befohlen, einen anderen Namen zu suchen. Jetzt heißt es 'Casimo'. Und ich könnte es niemals essen!

Die anderen schauen mich immer noch besorgt an. "Schlechte Nachrichten?", fragt Trick vorsichtig.

"Ähm..." Ich muss mir dringend was ausdenken. "Ja, dem Meerschweinchen meiner Schwester geht es nicht gut. Es muss über Nacht in der Tierklinik bleiben. Am besten rufe ich da mal eben an. Also meine Schwester rufe ich an, nicht das Meerschweinchen. Das ist ja in der Klinik und hat kein Telefon. Und selbst, wenn es eins hätte, könnte es ja nicht telefonieren..." Ich lache gekünstelt. Oh Gott, was rede ich da? Um Schlimmeres zu verhindern, klappe ich den Mund zu.

Tick, Trick, Track und L nicken verdattert und ich trete den Rückzug an.

Ich lande schließlich auf dem Balkon und setze ich mich auf die türkisfarbene Bank. Dort atme ich all die angehaltene Luft aus. Ohjee, wieso reite ich mich denn auch immer mehr in meine Lügen hinein? Weil du im Kern verdorben bist!, krakeelt meine Vernunftsstimme. 'Wie bitte?! Also das ist ja maßlos übertrieben!', weise ich sie zurecht. Ich lüge doch nicht mit Absicht. Sondern eher aus der Not heraus. Und überhaupt: 'Lügen' hört sich viel zu aktiv an. Das passiert mir ja eher aus Versehen. So wie sich zu verhaspeln oder zu versprechen. Ich verlüge mich vielmehr. Ja, lass es uns lieber 'verlügen' nennen! Wenn du es dir unbedingt schönreden musst, meinetwegen.

Ich seufze tief. Wie komme ich denn jetzt aus der Sache mit dem Meerschweinchen-Gericht wieder heraus? Oder am besten: Wie komme ich aus der ganzen Ecuador-Geschichte wieder heraus?

Selbst nach zehn Minuten grübeln, fällt mir nicht mal der Hauch einer Lösung ein. Nur sowas wie: taub und blind werden, oder eine Amnesie vortäuschen oder meine sieben Sachen packen und das nächste Taxi nach Timbuktu nehmen. Wo liegt das überhaupt? Und kommt man da mit dem Taxi hin? Und wo liegt denn jetzt Ecuador ganz genau? Wenn ich schon nicht aus der Sache herauskomme, kann ich mich wenigstens mal soweit informieren, dass ich nicht gleich auffliege.

Ich zücke wieder mein Handy und gebe 'Ecuador' ein. Nach weiteren zehn Minuten habe ich folgende Fakten zusammengetragen:

- Ecuador ist nach dem Äquator benannt, der durch das Land verläuft

- Es liegt am Meer und beherbergt einen Teil des Amazonas

- Die Landessprache ist spanisch

- Es hat um die siebzehn Millionen Einwohner

- Die Hauptstadt ist Quito

- Aufgrund der Höhenlage in Quito, kocht das Wasser dort bereits bei einer Temperatur von 90 Grad Celsius

- In Ecuador werden viele Bananen angebaut

- Und viele Meerschweinchen gehalten

- Das Gericht 'Tronquito' ist eine Suppe aus Bullenpenis

WTF? Zum Glück habe ich vorhin nicht ausversehen dieses Gericht genannt!


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Schalömmchen an die coolsten Leser von Wattpad! <3 

Wer schon mal in Ecuador war, klickt jetzt auf das Sternchen und erzählt mir ein bisschen über die Zeit dort ;) Ich war nämlich selbst noch nie in Ecuador und würde sehr gerne mehr darüber erfahren als Wikipedia-Fakten!

Die anderen voten natürlich auch :p  :****

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