Kapitel 4

Das einzige, was ich auf dem Bildschirm meines Handys sehe, ist James' Nase, die überproportional zu seinem restlichen Gesicht erscheint. Ich sitze auf dem kleinen Balkon, direkt neben Buschido, dem Hibiskus-Busch, der mir ziemlich auf die Pelle rückt. Es ist immer noch bitterkalt draußen, aber unter den fünf Lagen flauschiger Decken habe ich trotzdem eine angenehme Temperatur erreicht.

"One Love, kannst du mich jetzt hören?", kommt es von der Nase.

"Ja, hören funktioniert super. Aber ich sehe euch nicht wirklich."

Die Sonne ist mittlerweile untergegangen und lässt den Himmel zum Abschied noch einmal in den tiefsten Rot- und Orangetönen erstrahlen. Zum Glück ist es noch zu kalt für Mücken, denn wenn ich für irgendjemanden unwiderstehlich bin, dann für diese Biester!

"Und jetzt?", fragt James, von dem ich allerdings nur sein Ohr sehe, das den gesamten Bildschirm einnimmt.

"Versuch' mal, das Handy ein bisschen weiter weg zu halten."

Was ist das nur mit der älteren Generation und der Technik?

James folgt meiner Anweisung und - voilà - schon sehe ich sein ganzes Gesicht und neben ihm Phil. Von links krabbelt Cosima auf James' Schoß. Und hinter den Dreien reckt Mama ihren Hals in die Höhe, um über ihren Köpfen einen Blick auf das Handy erhaschen zu können.

"Ow yuh duh, mi princess?", möchte James wissen, was 'Wie geht es dir, meine Prinzessin?' heißt.

"All fruits ripe.", antworte ich. - Alles super. "Meine zwei Mitbewohner sind echt nett! Wir haben schon ein bisschen die Gegend erkundigt." Von dem seltsamen Zusammentreffen mit dem Flegel erzähle ich nichts. Ich kann immer noch nicht fassen, wie die Emotionen so schnell hochkochen konnten. Hoffentlich hänge ich jetzt nicht als 'Wanted'-Schild in der heruntergekommenen Garage, in der die Knochenbrecher vermutlich ihre Gräueltaten aushecken! Okay, jetzt übertreibst du aber.

"Du siehst irgendwie zehn Jahre älter aus, als gestern", reißt mich Phil aus meinen ausufernden Gedanken und grinst dabei keck. Wie gemein. Das muss der Kater sein, der mich immer noch gut im Griff hat.

"Und du siehst zehn Jahre jünger aus, als gestern. Also wie acht.", gebe ich griesgrämig zurück.

"Ach Kinder, streitet euch doch nicht schon wieder!", ruft Mama genervt aus.

"Ich finde, du siehs wundersön aus!", meint Cosima und strahlt mich an. Hach, ich liebe sie. "Wie ein Mops.", ergänzt sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Okay, vielleicht mag ich sie auch nur. Phil prustet los und auch James sowie Mama müssen sich ihr Lachen unter großer Anstrengung verkneifen.

Ich murmele: "Ähm, danke Cosi... Aber ich glaube, wir müssen uns nochmal darüber unterhalten, mit welchen Tieren man gerne verglichen wird und mit welchen nicht."

Aber darauf geht Cosima gar nicht ein. "Has du son Delfine gesehen?" Sie hüpft aufgeregt auf James' Schoß auf und ab, wodurch sein Handy wackelt und ich nur verschwommene Umrisse erkennen kann.

"Sweedeart, Delfine leben doch nur im Meer und nicht in Seen.", klärt James sie auf. 'Sweedeart' ist die jamaikanische Version von 'Sweetheart'.

"Und Meerjungfrauen?", fragt Cosima hoffnungsvoll.

"Die leben auch nur im Meer. Sie heißen ja schließlich Meerjungfrauen.", antwortet James. Nein, die leben gar nicht. Ich runzele die Stirn. Daher habe ich also meinen Hang zum Lügen. Er wurde mir anerzogen! Es ist also überhaupt nicht meine Schuld.

"Oh, aber dann Seejungfrauen!", meint sie.

Ich schüttele bedauernd den Kopf. "Leider nicht. Dafür sollen in diesem Teil vom See sehr viele Otter leben!"

"Toooll! Ich will auch einen Otter, Daddy!" Cosima klatscht aufgeregt in die Hände.

"Oh, ähm, dann müssen wir einfach bald mal Milla besuchen.", sagt James ausweichend.

"Schätzchen, wann musst du denn morgen zur Uni?", fragt Mama gespannt. Sie würde am liebsten über jeden einzelnen meiner Schritte auf dem Laufenden gehalten werden.

"Weiß ich noch nicht."

"Aber Milla, du willst doch nicht so weitermachen wie bisher! Ein Wunder, dass du überhaupt durch die Schule gekommen bist, so verpeilt wie du bist! Kannst du nicht mal deine Mitbewohner fragen, ob sie jemanden kennen, der Informatik studiert? Dann könntest du den fragen, wann du morgen dort sein musst. Und dann könntest du dir auch Tipps geben lassen, wie du am besten lernst und wenn du schon mal dabei bist, könntest du auch gleich nach einem Nachhilfelehrer suchen oder besser: dich mit einem anfreunden. Und dann ... "

"Mi empress", greift James ein, bevor mir vom wilden Gequassel meiner Mutter ganz schwindlig wird. 'Empress' heißt übrigens 'Kaiserin' auf deutsch. "Ich bin mir sicher, dass Milla die Uni sehr gut macht!" Er tätschelt Mamas Hand und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange. Phil verdreht die Augen und murrt:

"Ich find's echt blöd, dass du weg bist. Heute morgen ist Sabine viermal in mein Zimmer gekommen, um mich zu fragen, ob ich schon meine Hausaufgaben gemacht habe." Sabine ist der Name meiner Mutter. Und ich kann es mir sehr gut vorstellen. Jetzt, wo ich weg bin, konzentrieren sich ihre ständigen (übertriebenen) Sorgen wohl nur noch auf Phil, obwohl der vor nur knapp einer Woche erst seine Abi-Klausuren geschrieben hat und Hausaufgaben gerade einfach nicht wichtig erscheinen.

"Ja und das war auch nötig! Du hast sie nämlich immer noch nicht gemacht!", sagt Mama und sieht Phil streng an. Der verdreht nur die Augen und stöhnt.

"Kann ich bei dir einziehen, Millagorilla? Bitte, bitte." Die Hände zum Beten gefaltet, zieht er eine verzweifelte Schnute.

"Bei Millagorilla kannst du vielleicht einziehen, aber nicht bei mir! Die übrigens ganz normal Milla heißt.", gebe ich mit entrüstet verschränkten Armen zurück.

"Okay, okay, Killer-Milla." Phil hebt beschwichtigend die Hände.

"Bitte?! Das..."

"Phil wird so lange hier bleiben, bis er sein Abi bestanden hat. Nicht wahr, Phil?", unterbricht mich Mama und wirft ihm einen warnenden Blick zu. Dieser verzieht das Gesicht zu einem künstlichen Lächeln und erinnert mich dabei an Tante Rosa, wenn sie Gesichtsyoga macht. Für straffe Haut nimmt sie auch Wangenmuskelkater und Kieferkrämpfe in Kauf.

"Aber klar doch."

Mama erzählt mir, dass Tante Rosa jetzt einen Gurkenschälapparat gekauft hat und ständig damit angibt, wie viel Zeit sie dadurch spart. Hä, wie viele Gurken hat sie denn sonst täglich geschält? Außerdem ist sie nun Vorsitzende im Club für 'fitte Mütter' und hat dadurch nun "uuunglaublich" viel zu tun, aber es "eeehrt" sie sehr, dass ihr diese überaus "beträächtliche" Verantwortung anvertraut wird (Tante Rosa hat ein Faible für übertriebene Wortbetonungen). Ich will gar nicht zählen, wie oft während des Gesprächs die Augen verdreht wurden.

"Dass sie mir immer wieder unter die Nase reiben muss wie beliebt sie ist!", beschwert sich Mama. "Sie muss ja auch nicht arbeiten. Da kann man sich eine Popularität einfach aufbauen." Tatsächlich hat Tante Rosa in ihrem ganzen Leben nur fünf Jahre gearbeitet. Nach ihrem Innenarchitektur-Studium wurde sie in einem luxuriösen Einrichtungsgeschäft übernommen, wo sie nach drei Jahren ihren Mann Pierre kennengelernt hat, der als Chefaufseher einer internationalen Bank von Frankreich nach Deutschland versetzt wurde und sich für sein neues, schickes Penthouse edle Möbel zulegen wollte. Die Mühe, die Tante Rosa in die Empfehlung der exquisiten Stücke investierte, zahlte sich aus, denn nach ein paar Wochen zog sie mit Pierre und den begehrten Möbelstücken zusammen. Zwei Jahre später, im Alter von 25 Jahren, war sie bereit für ein Kind und es wurde ein überschwängliches Fest gefeiert, als sie schließlich mit Malina schwanger wurde. Und zwar einen Monat bevor auch Mama mit mir schwanger wurde. Allerdings war Mama da erst siebzehn und ich ein Unfall. Sie ging damals mit meinem leiblichen Vater zusammen in die Schule. Als der allerdings von der Schwangerschaft erfuhr, verschwand er von einem Tag auf den anderen und ward nie mehr gesehen.

Während Tante Rosas Leben nicht fantastischer hätte sein können, musste Mama die Schule abbrechen und mit Hilfe von Oma und Opa - die natürlich überhaupt nicht begeistert waren - ihr Kind, also mich, großziehen. Als ich drei Jahre alt war, begann Mama ihre Ausbildung zur Friseurin und sechs Jahre später lernte sie James kennen, als sie sich mit ihren besten Freundinnen ein Taxi zur nächsten Disco nahm. James war damals der Fahrer und steckte ihr seine Visitenkarte zu, damit er sie später wieder abholen und sicher nach Hause bringen konnte. Ein paar Mal noch stieg Mama zufällig in sein Taxi ein. Da James ihr jedes Mal auf seine offene und charmante Art Avancen machte, ließ sie sich schließlich auf ein Date mit ihm ein. Bis sie aber tatsächlich zusammen waren, dauerte es über ein Jahr, denn eigentlich hatte Mama sich vorgestellt, dass ihr nächster Freund monatlich ein hübsches Sümmchen verdienen würde und das traf auf James eher nicht zu.

Dieses Streben nach Vermögen und Status wurde ihr übrigens von ihren Eltern, also meinen Großeltern, eingetrichtert. Mein Opa hatte mit zwanzig die Vize-Leitung einer Reißverschlussfabrik übernommen, die später aber leider pleite ging und meine Oma war eine bekannte Journalistin, deren Artikel über die DDR-Zeit auch heute immer noch gerne gelesen werden. Dass ihre jüngere Tochter in der Hinsicht nicht viel erreicht hatte, gefiel ihnen gar nicht und sie schwärmten vor Mama gerne, was für eine tolle Partie Tante Rosa abgekriegt hatte und wie intelligent Malina sei, wodurch sich Mama immer unbedeutender vorkam (und ich auch). Jetzt konnte sie nur noch mit ihren Kindern auftrumpfen, die hoffentlich einmal etwas Außergewöhnliches leisten würden. In meinem Fall wäre das, eine hoch angesehene Informatikerin im Silicon Valley zu werden oder, wenn das nicht klappen würde, wenigstens die Frau eines hochangesehenen Informatikers. Ein Arzt, Jurist oder Manager bei Porsche wäre natürlich auch nicht verkehrt.

"Wir sind übrigens in drei Wochen zum 55. Geburtstag von Pierre eingeladen.", lässt mich Mama wissen. "Es wird ein etwas größeres Fest geben und Rosa lädt bestimmt den ganzen Club der knochigen Mütter ein. Das wird ... brsstmmm ... rtbar ..." Plötzlich wird die Verbindung sehr schlecht und ich verstehe nur noch abgehackte Wörter. "Sie prahlen ... tolles Haus ... toller ... Arten ... leckere ... Brüste ..." Wie bitte? "Und das Essen natürlich ... nur ... aus ... Besen ... viel in ... Aal ... ein Teller kostet da schon ... Gerte ... mehr als ... Golf ... da nehmen wir aber viele Tupperdosen mit und packen ordentlich was ein! Wenn wir uns den Abend schon antun müssen ..." Das Bild ist wieder schärfer geworden und ich sehe, wie Mama mir zuzwinkert. Ich nicke, auch wenn ich keine Lust auf Aal mit Besen habe ...

"Heute war übrigens Ulrike wieder zum Haare schneiden bei mir und sie hat erzählt, dass Kai und Sandra gerade Streit haben und dass Kai letztens wieder nach dir gefragt hat. Ulrike findet es ja sehr schade, dass ihr euch getrennt habt. Sie mag dich nämlich viel lieber als diese Sandra.", plaudert Mama, ohne sich um eine Überleitung zum neuen Thema zu bemühen. Nicht das schon wieder!

"Mama", sage ich warnend. Doch das ignoriert sie geflissentlich.

"Ihr wart einfach so ein schönes Paar! Das hat auch Ulrike gesagt.", schwärmt sie. Wo ist die schlechte Internetverbindung, wenn man sie mal braucht?

Mama ist damals sofort Kais Charme erlegen und hat ihn von Anfang an als neuen Schwiegersohn fest in die Familienplanung mit einbezogen. Naja, ich kann es ihr nicht verdenken, denn Kai hat tatsächlich immer das richtige zur rechten Zeit gesagt und einen zusätzlich mit seinem guten Aussehen und dem freundlichen Lächeln für sich eingenommen.

"Es liegt ja nicht an mir, dass es nicht geklappt hat.", murre ich und verdrehe genervt die Augen. Ich bin es verdammt leid, mich andauernd zu rechtfertigen, weil ich ihm keine Chance mehr geben will, nachdem er mich von vorne bis hinten verarscht hat.

"Also ich bin froh, dass ich diesen Kotzbrocken nicht mehr sehen muss.", meldet sich Phil zu Wort. "Mal ehrlich, dieser Kerl hat doch jedes Mal so eine fette Schleimspur hinterlassen, dass man darauf hätte ausrutschen können."

Ich nicke dankbar.

"So ein Quatsch! Kai war einfach sehr freundlich und höflich, was man von dir nicht behaupten kann.", entgegnet Mama mit einem Seitenblick auf Phil. Der antwortet mit einer Grimasse.

"Hallo? ... die ... Verbindung ... bricht ... immer ... ab ..." Ich habe beschlossen, das schlechte Netz einfach zu simulieren. "Ich ... rufe ... morgen ... nochmal ... an ... tschüss!" Stockend winke ich in die Kamera.

"Oh okay, ja dann bis morgen. Schlaf gut! Und vergiss nicht, dir einen Wecker für morgen zu stellen!", schreit Mama aus dem Handy.

"Gute Nacht!", rufen auch Phil, James und Cosima und winken mir zu. Dann lege ich auf und atme erst mal tief durch. Puh, das war anstrengend. Ich richte meinen Blick nach oben in den Himmel, an dem schon die ersten Sterne aufgetaucht sind und beruhigend auf mich herabstrahlen. Hach, schön.

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Schalömmchen :D

Habt ihr auch schon mal eine schlechte Internet-Verbindung vorgetäuscht?

Wenn ja, gebt ihr diesem Kapitel jetzt ein Vote! ;)

Sonst auch :p

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