Kapitel 3
Ich trampele gerade die Treppe hinunter, als ich ein lautes Hämmern höre. Verdutzt schaue ich mich um. Da kommt auch schon Sid um die Ecke gedüst und reißt unsere Wohnungstür mit einem gewaltigen Schwung auf.
Vor ihr steht - ich muss zweimal blinzeln - das blonde Männermodel für die Werbung von Calvin Klein's Eau de Toilette, die ich immer anschauen muss, wenn ich YouTube-Videos konsumiere. Ich habe noch nie auf 'überspringen' geklickt...
"Hallo Tobi! Mal wieder vergessen, wie man die Klingel bedient?", fragt Sid neckisch.
Er schenkt ihr nur ein breites Grinsen und quetscht sich an ihr vorbei in den Flur.
"Warte kurz, ich hole dein Paket!", ruft Sid und verschwindet in ihr Zimmer.
Tobis Blick fällt auf mich, die mit großen Augen auf der letzten Treppenstufe steht und ihn neugierig anstarrt. Gott sei Dank, habe ich mir gerade eben etwas Anständiges angezogen.
"Ach, du musst Sids neue Mitbewohnerin sein! Nett, dich kennenzulernen. Ich bin Tobi." Er hebt kurz die Hand zum Gruß.
Ich räuspere mich. "Die Freude ist ganz meinerseits. Ich bin Milla."
Konrad, der gerade aus seiner Zimmertür treten wollte, macht kehrt und verkrümelt sich wieder. Tobi scheint ihn irgendwie einzuschüchtern.
"Was studierst du denn?", fragt mich Tobi.
"Informatik."
Er zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. "Ehrlich?! Ich hätte bei dir eher auf soziale Arbeit getippt. Das machen hier die meisten Mädels, die ich kenne." Mmh, wäre auch keine schlechte Idee. Da würde ich zumindest etwas verstehen.
"Ja, die Leute schätzen mich immer falsch ein. Dabei bin ich in Wirklichkeit ein begeisterter Hacker." Das wäre ich zumindest gerne. Und es klingt cool. Und du hast schon wieder gelogen! Mann, Mann, Mann.
Tobi grinst. "Und was hast du bis jetzt so gehackt?"
Sag ihm, dass das nur ein Spaß war!
"Ach nur Kinderkram", winke ich bescheiden ab. "Die Lehrer-Computer in der Schule zum Beispiel. Die Notenvergabe war immer ziemlich unfair und ich wollte das ein bisschen korrigieren." Och Manno, warum habe ich das jetzt gesagt? Ich muss noch Restalkohol im Blut haben.
"Und du? Was machst du so?", lenke ich die Aufmerksamkeit auf ihn, um mich vor weiteren Lügen zu schützen. Stehst du gerne vor der Kamera und bewirbst Parfüme?
Womöglich sowas wie: 'Duftende Gegensätze: Belebende Frische aus einem Marine-Akkord und spritzigen Zitrus-Noten trifft auf unbändig maskuline Nuancen von Büffel und Ochse. Ein Duft, der den Sieger in jedem Mann erweckt.'
Tobi sieht zwar so aus, als würde er zum Thema 'hacken' gerne noch etwas erwidern, entscheidet sich aber doch anders und sagt:
"Ich studiere Medizin."
Nun bin ich an der Reihe, die Augenbrauen hochzuziehen. Ein angehender Arzt also.
'Schnapp ihn dir! Der bringt mal viel Geld heim', höre ich schon die Stimme meiner Mutter rufen.
Typisch. Hauptsache sie heiratet den ärmsten Mann aus ihrem Umfeld, und zwar aus Liebe, aber ich soll mir am besten einen Millionär angeln (oder selbst Millionärin werden). Jaja, ich weiß, sie meint es eigentlich gut und möchte, dass ich mal nicht so viel arbeiten muss wie sie und nicht so viele Geldsorgen habe. Aber trotzdem... ganz uneigennützig ist ihr Wunsch natürlich nicht.
So hat sie mich in der elften Klasse (als ich nicht in Ecuador war) dazu überredet, mit dem Sohn einer ihrer Kundinnen auszugehen. Der studierte damals schon International Management dual bei Porsche und die Chancen, dass er danach direkt übernommen würde, standen ziemlich gut. Meine Mutter und seine Mutter redeten immer wieder auf uns ein, bis wir uns tatsächlich auf ein Date miteinander einließen. Weil Kai, so hieß er, doch nicht so übel war, wie ich vermutet hatte und weil er dasselbe wohl auch über mich dachte, was möglicherweise an den Lügen lag, die ich ihm über mich erzählte, waren aus dem einen Date eine ganze Serie an Dates geworden und schließlich verkündeten wir unseren aufgeregten Müttern, dass wir nun ein Paar wären. Die besoffen sich danach überglücklich mit Sekt.
Die Beziehung hielt sogar anderthalb Jahre, bis ich letztendlich herausfand, dass Kai mich die ganze Zeit über mit einer Kommilitonin betrogen hatte. Ich war am Boden zerstört. Aber ich konnte ihm nicht mal übelnehmen, dass er mich angelogen hatte, weil, naja, das hatte ich ja auch andauernd getan und eigentlich hatte er auch nicht mich betrogen, sondern nur eine erfundene Version von mir, wie ich mir gerne einreden wollte.
"Du schaust so skeptisch. Hättest du mir das nicht zugetraut?", holt mich Tobi wieder in die Gegenwart zurück. Was soll ich ihm nicht zugetraut haben? Ach ja, das Medizin-Studium.
Nein, ich habe ja nicht mal gedacht, dass er überhaupt studieren würde.
Und außerdem... er darf einfach nicht gut aussehen UND intelligent sein. Das ist unfair.
"Doch, doch. In welche Richtung willst du später gehen?"
Der Medicus grinst und sagt schelmisch:
"Chirurgie. Ich schneide gerne Menschen auf."
Ich muss ihn wohl sehr entsetzt angesehen haben, denn er setzt beschwichtigend hinzu: "Zumindest in der Theorie. Mich interessiert einfach, was hinter der Fassade steckt."
"Damit meint er eigentlich, dass er gerne Frauen aufreißt, um zu sehen, was hinter der Kleidung steckt", lacht Sid, die in dem Moment wieder um die Ecke biegt, einen großen Karton auf den Armen balancierend.
Mmh, das habe ich mir fast schon gedacht. So gutaussehende Typen sind doch alle irgendwie gleich.
'Es tut mir leid, Mama, aber den werde ich mir nicht schnappen', stelle ich in Gedanken klar. Dafür bin ich mir zu schade. Vor allem nach der Nummer mit Kai. Und ich meine, wahrscheinlich würde Tobi sich sowieso nicht besonders für mich interessieren.
Sid überreicht ihm den Karton. Was da wohl drin ist? Etwa Skalpell und Spritze für ein wenig Praxis unter dem Semester?
"Danke dir!", sagt Tobi. "Na dann, war nett, dich kennenzulernen, Milla." Er wirft mir ein wissendes Gewinner-Lächeln zu. Damit würde er wohl jeden Model-Job bekommen. Apropos, ob er nun für Calvin Klein modelt, habe ich ja jetzt gar nicht in Erfahrung bringen können. Es ist zwar verdammt unwahrscheinlich, aber er sieht diesem Model nun mal zum Verwechseln ähnlich! Und ich habe die Werbung sehr oft gesehen Doch bevor ich ihn danach fragen kann, ist er auch schon durch die Tür verschwunden.
Ich drehe mich zu Sid um.
"Dieser Tobi... Was macht er so in seiner Freizeit?" Ich wusste nicht, wie ich die Frage hätte beiläufiger stellen können.
Sid lacht. "So neugierig?"
"Ich frage für..." Ich will schon sagen 'für eine Freundin', aber ich habe leider keine richtigen Freundinnen und selbst, wenn ich eine erfinden würde, würde sie Tobi ja gar nicht kennen und das weiß Sid. "... Konrad", sage ich also hastig und möchte mir gedanklich eine reinhauen. Ja, sehr glaubwürdig, Milla.
"Soso. " Natürlich kauft Sid es mir nicht ab, aber sie ist zu nett, um mich weiter aufzuziehen. "Sagen wir mal so: Er gehört zu den Typen, die überall ihre Möhre reintunken müssen, wenn du verstehst, was ich meine..."
Bei ihrer Wortwahl muss ich lachen.
"Du solltest Konrad also sagen, dass er bei ihm aufpassen soll." Sie zwinkert mir zu.
Bevor ich rot werden kann, frage ich sie nun doch noch direkt, ob Tobi für Calvin Klein modelt. Sid schaut mich einen Moment überrascht an, dann prustet sie los und versucht, mir unter Lachsalven zu erklären, dass dem nicht so sei und es wohl auch nie so weit kommen würde, weil jede Modelagentur von seinem Macho-Gehabe genervt wäre und ihn sofort rausschmeißen würde. Ich erfahre außerdem, dass er direkt in der Wohnung nebenan wohnt. Und zwar im Moment allein, da sein Mitbewohner immer erst auf den letzten Drücker wieder in die Stadt kommt, also in einer Woche. Und, dass Sid es Tobi zu verdanken hat, dass sie in unsere Wohnung einziehen konnte, da er bei seiner und gleichzeitig unserer Vermieterin in den höchsten Tönen von Sid geschwärmt hatte.
❤
Es duftet verdammt gut! Genüsslich schnuppere ich an meinem heißen Kaffee, um Teile des Koffeins schon durch die Nase zu inhalieren. Draußen war es verdammt eisig! Erst recht, als wir am See ankamen und uns der stürmische Wind ins Gesicht gepeitscht hat. Trotzdem konnten wir uns vom Anblick des kristallklaren, blauen Wassers nicht lösen und spazierten mindestens zwei Stunden an der Promenade entlang. Hin und her.
Mit viel gutem Zureden hatten Konrad und ich auch Sid überreden können, uns Gesellschaft zu leisten. Sie zeigte uns die besten Spots fürs Baden im Sommer (ans Baden konnte ich überhaupt noch nicht denken, brrrrrr), einen Park, in dem in der Hauptsaison regelmäßig Konzerte gespielt wurden und ihre Lieblingsrestaurants und -cafès. In einem davon sind wir schließlich hängen geblieben.
Als wir eintraten, fühlte es sich so an, als wären wir in der Vergangenheit zurückgereist und im Inneren eines Piratenschiffs gelandet. Die Möbel, die Wände und der Boden bestehen nämlich aus dunklem Holz. Dazu ist das Licht schummrig und zaubert ein heimeliges Ambiente. Was mich am meisten erheitert ist, dass alle Kellner als Piraten verkleidet sind.
Ich sitze auf einer goldverzierten Schatztruhe, in der sich aber nur Kissen aus rotem Samt und ein paar Vasen für die Tischdeko befinden. Ich musste einfach reinschauen, um abzuchecken, ob nicht doch noch ein Schatz sehnsüchtig auf mich wartet.
Sid liegt in einer Hängematte aus weißem Leinstoff mir direkt gegenüber und Konrad muss sich mit einem morschen Hocker zufriedengeben, an dem schon ein paar Würmchen genagt haben.
Ich zupfe verträumt an der roten Rose, die vor mir auf dem Tisch in einer Vase steckt. Wie gerne wäre ich jetzt auf einem Piratenschiff und würde vor meinem Studium davonfahren. Und zwar in einen blutroten, strahlenden Sonnenuntergang in Richtung Schlaraffenland. Dort würde ich mir ein Häuschen aus Schokolade bauen und darin wohnen, bis ich es aufgegessen hätte. Dann würde ich mir ein neues bauen. Und die Schokolade dort hätte keine Kalorien. Im Gegenteil, sie würde meine Schwarte sofort in Muskeln verwandeln. Hach. Und dann...
"Morgen steigt 'ne Party im Tigerenten-Club. Seid ihr dabei?" Sid reißt mich aus meinen süßen Träumereien. Tigerenten-Club? Den kenne ich doch noch aus dem KiKa.
"Ich gehe nicht gerne auf Partys...", sagt Konrad scheu.
"Dann sorgen wir dafür, dass sich das ändert", meint Sid und zwinkert ihm zu.
Er schaut verlegen zur Seite und läuft purpurrot an.
"Was ist mit dir, Milla?", möchte Sid wissen.
"Also eigentlich wollte ich erst mal abwarten, was von der Informatik-Fachschaft aus angeboten wird. Ich muss ja noch Freunde finden."
"Hey, du hast doch uns!" Sid stemmt entrüstet ihre Arme in die Hüfte.
"Ja, aber ich brauche auch Freunde mit guten Informatik-Kenntnissen." Die mich durch mein Studium bringen.
Sid grinst. "Na gut. Vielleicht gehen die Informatiker ja auch in den Tigerenten-Club... Aber du, Konrad, hast keine Ausrede. Die Party wird schließlich von deiner Fachschaft geschmissen", mahnt sie mit erhobenem Zeigefinger.
Konrad rutscht unruhig auf dem Hocker hin und her. "Okay", krächzt er. Dann fällt ihm ein (und ich glaube, darüber ist er sehr froh), dass er ja noch siebzehn ist und gar nicht in den Club darf.
"Keine Sorge, Konni, wir schleusen dich durch den Hintereingang rein! Das hab' ich schon öfter gemacht, wenn ich knapp bei Kasse war...", entgegnet Sid heiter. Konrad fühlt sich deutlich unwohl, nickt aber brav.
Wir quatschen noch ein Weilchen über dies und das und bezahlen schließlich, um den Heimweg anzutreten.
"Ich muss noch aufs Klo", sage ich und schiebe meinen Stuhl nach hinten.
"Du weißt, was du zu tun hast?"
Ich schaue Sid mindestens fünf Sekunden lang befremdet an, bis ich verstehe, worauf sie hinauswill.
Vorhin, noch in unserer Wohnung, habe ich sie darauf aufmerksam gemacht, dass uns das Klopapier ausgegangen ist. Sie meinte nur:
"Es wird Zeit, dass die Uni wieder anfängt." Hä?
"Kaufen wir da etwa unser Klopapier ein?"
Sid grinste.
"Naja, Geld geben wir dafür nicht aus."
"Ich verstehe nicht ganz."
"Wir lassen unser Klopapier aus der Uni mitgehen. Man muss sparen, wo man kann." Sie zwinkerte mir zu.
"Und was machen wir dann bis morgen?"
"Mmh."
So konnte ich Sid überreden, mit uns die Gegend zu erkunden und bei Gelegenheit eine Klopapierrolle zu mopsen.
Sie erledigte ihren Job schon vor einer halben Stunde. Jetzt bin ich wohl dran. Konrad fand die Idee übrigens überhaupt nicht gut und bot an, uns einen Scheck für einen Jahresvorrat an Klopapier auszustellen, aber Sid wollte das auf gar keinen Fall annehmen. Warum auch immer.
"Ja, weiß ich", antworte ich Sid verschmitzt und schlage den Weg Richtung Toilette ein. In der Kabine sehe ich sofort, dass sie keine Rolle mehr übrig gelassen hat. Na toll. Jetzt kann ich also nicht mal pinkeln gehen, ohne sie nach Papier zu fragen. Ich grummele einen Moment vor mich hin. Dann beschließe ich, mein Glück in der Jungstoilette zu versuchen.
Jackpot! Von der Tür aus springen mir sofort zwei unberührte Klopapierrollen ins Auge. Nachdem ich mich mehrmals gründlich umgesehen habe, schleiche ich in die Kabine und greife nach den Rollen, um sie in meinen großen Rucksack zu packen. Gerade, als ich die zweite darin versenken will, höre ich ein Räuspern hinter mir. Shit. Langsam drehe ich mich um. Etwa drei Meter vor mir steht ein großer dunkelhaariger Typ in meinem Alter und schaut mich belustigt an.
"Ich... äh... ich wollte...", stottere ich.
"Die Toiletten putzen. Ich sehe schon", fällt er mir ins Wort und zieht dabei einen Mundwinkel spöttisch in die Höhe.
Was? Nein. Ich habe doch noch nicht mal einen Putzwagen. Das sieht er doch. Ich merke, wie mir langsam die Schamesröte ins Gesicht steigt. Mann, ist das peinlich!
"Dahinten müsste man aber nochmal mit dem Lappen drüber." Er zeigt auf einen dunklen Fleck unbekannten Ursprungs und sein unverschämtes Grinsen wird noch breiter. Frechheit!
"Ich würde eher nackt durch die Innenstadt laufen, als für dich irgendwas zu putzen!", platze ich heraus.
Der Kerl hebt amüsiert eine Augenbraue. "Das würde mir sogar noch besser gefallen", sagt er und mustert mich von oben bis unten, als stünde ich schon nackt vor ihm.
Mein Gesicht brennt mittlerweile vor Hitze und ich blöke zurück: "Ich weiß nicht, aus welcher Anstalt du ausgebrochen bist, aber ich bin mir sicher, sie suchen dich dort schon!"
Vor Wut schnaubend, ziehe ich den Reisverschluss über der zweiten Klopapierrolle zu, schultere meinen Rucksack und stampfe zur Tür, wobei ich den Flegel mit voller Absicht anrempele. Er verliert kurz das Gleichgewicht. Da erst fällt mir die zehn Zentimeter lange Narbe auf, die an seiner rechten Schläfe verläuft und ihm im gedämpften Licht eine düstere Ausstrahlung verleiht.
Oh Gott. Das ist bestimmt einer von den Schlägertypen, die laut der Presse hier seit ein paar Wochen ihr Unwesen treiben. Und du hast ihn gerade beleidigt!
"Nichts für ungut. Das war keine Absicht", versuche ich, ihn zu beschwichtigen und hoffe, dass er mir glaubt. Dann haste ich aus dem Flur und durch das Café nach draußen, an Jack Sparrow vorbei, der uns vorhin bedient hat und mir jetzt verwundert nachsieht.
"Na endlich! Das hat aber lange gedauert", klagt Sid und setzt sich in Bewegung. "Siehst du diesen Eiszapfen hier? Der hat sich schon an meiner Nase gebildet, weil wir die ganze Zeit in der Kälte warten mussten." Sie deutet auf den vermeintlichen Eiszapfen, den ich nur schwer erahnen kann.
"'Tschuldigung, es war doch schwieriger als gedacht", murmele ich leise.
♡ ❤ ♡
Was würdet ihr im Schlaraffenland machen? :D
Bei wem es auch mit Süßigkeiten zu tun hat, gibt diesem Kapitel jetzt ein Vote!
(Die anderen natürlich auch :p)
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