Anders

Kapitel 44
Als Kelly endlich wieder die Augen aufschlug, war es mitten in der Nacht und sie befand sich nicht mehr in der Ruine des ehemaligen Tempels, sondern in einem Zimmer. Ein schönes Zimmer. Geschmackvoll und unpersönlich eingerichtet, mit nichts weiter als einem Bett, einer Couch und einem Fernseher auf einer Kommode. Sie hatte oft und lange genug in Hotelzimmern gewohnt, um zu wissen, wenn sie sich in einem befand.
Sie war nicht wirklich überrascht, dass Erik sie hier hergebracht hatte – weg von diesem Ort, wo sie dem Orakel begegnet waren und sie war auch nicht überrascht, als sie das Leuchten seine Silber-blauen Augen in der Dunkelheit sah. Natürlich hatte er sie überwacht.
„Bist du noch du?", fragte Erik und blieb dabei so regungslos, dass ein Sterblicher ihn im Schatten nicht hätte ausfindig machen können. Für ein Wesen seiner Statur schien das eigentlich unmöglich, doch Kelly wusste genau, dass er trotz seines doch eher direkten Charakters durchaus in der Lage war im Verborgenen zu agieren. Es war einfach nur nicht sein Stil. Erik bevorzugte es seinen Feinden direkt ins Gesicht zu sehen, bevor er ihnen den Schädel abriss. Seine Kraft, seine Grausamkeit und seine Gier nach Janiyana waren legendär.
„Ja", antwortete Kelly, nachdem sie darüber nachgedacht hatte, „Nur ich bin hier, niemand sonst." Seine Augen verengten sich zu schlitzen und man hätte meinen können, dass das blau komplett verschwand und nur noch dieses unheimliche Silber zurückblieb.
„Das Orakel?", fragte er mit einem Knurren in der Stimme, was genau seine Wut hervorgerufen hatte, war Kelly ein Rätsel. Aber Erik war eigentlich fast immer wütend, fast immer zerstörerisch. Die Weltgewandte und fast schon präzise, kalte Art von Janiyana standen in einem zerreißenden Kontrast zu seinem unberechenbaren und hitzigen Temperament. Und doch liebten sie einander – glaubte Kelly zumindest. Erik versteckte seine Gefühle nicht, aber Janiyana war immer undurchschaubar gewesen.
„Der Verstand, der sich in diese Körper eingenistet hatte, war selbst nur ein Gefäß. Sie hat die Macht einmal erhalten und sie einfach nicht mehr abgeben wollen. Jetzt hat sich diese Macht dazu entschieden bei mir zu bleiben." Erklärte Kelly und hatte doch keine Ahnung, ob das was sie sagte, für ihn irgendeinen Sinn ergab.
„Also bist du jetzt wie das Orakel?", fragte er. Kelly überlegte und schüttelte dann den Kopf.
„Nein. Die Macht ist frei jederzeit zu gehen, ich werde sie nicht einsperren, sonst würde ich ebenso verfaulen wie das Orakel. Ich glaube deshalb wird sie bei mir bleiben." Sie hob eine Hand vor ihr Gesicht und stellte fest, dass das goldene Meer so dicht unter ihrer Haut saß, dass sie ein ganz klein wenig leuchtete.
„Bist du aufgestiegen?", fragte Erik weiter. Kelly lachte breit und schüttelte den Kopf.
„So eine Macht ist das nicht. Sie verkörpert Wissen. Nicht mehr und nicht weniger", meinte sie, setzte sich auf und betrachtete ihre andere Hand. Ihre Fingernägel hatten einen goldenen Farbton angenommen und als ihr eine ihrer blonden langen Haare über die Schulter rutschte und sich auf ihren Arm legte, stellte sie fest, dass sie perlmuttfarben geworden waren. Wie die Innenseite einer Muschelschale.
Wow. Sie brauchte unbedingt einen Spiegel.
„Dann weißt du, wo Janiyana ist?", fragte Erik und Kelly, die gerade dabei war aufzustehen und das Bad zu suchen, hielt in ihrer Bewegung inne.
Die Bilder schwemmten wie eine Flutwelle über sie hinweg. Und als es vorbei war, wusste Kelly es tatsächlich und außerdem wusste sie auch, dass die Antwort Erik nicht gefallen würde.
„Ihr Gefängnis ist kein Ort, aber eine Zeit. Eine Erinnerung unter vielen. Unerreichbar, unzerstörbar, für jeden anderen außer der Mutter, die es erschaffen hat", sagte sie. Eriks gerunzelte Stirn musste sie nicht sehen, sie wusste, dass sie da war.
„Du kannst sie nicht finden, erst wenn sie es will und dann wird es dein Untergang sein", warnte sie ihm, doch Erik blinzelte nicht einmal dabei. „Mit der Mutter meinst du diese Yorina, die Mutter von allem. Wo finde ich sie?" fragte er weiter, als hätte er die Warnung tatsächlich nicht verstanden. Kelly wusste es besser. Erik ignorierte es schlicht und ergreifend.
„Sie wird dich finden, das genügt." Und mit diesen Worten erhob sie sich in einer fließenden Bewegung, die so unmenschlich war, dass sie über sich selbst staunte. Über sich und dem Goldenen schweifen, den sie bei dieser Bewegung hinterlassen hatte und den nur langsam wieder verglühte. Oh Mist. Sie strahlte wie eine verdammte Discokugel, sie musste unbedingt einen Weg finden das loszuwerden. Glitzernde Vampire brauchte nun wirklich niemand, das war lächerlich.
Erik löste sich aus der Finsternis, die so sehr Teil von ihm war, dass Kelly kurz anstatt ihren Ziehvater eine gewaltige dunkle Macht vor Augen hatte, die alles um sich herum zerstörte, die alles auf Anfang setzte und die Welten verschlingen konnte.
Das war es also, was an ihm anders war.
Innerlich lächelte Kelly und plötzlich war sie gar nicht mehr wütend darüber, dass Loki und seine Brüder sich aus dem Staub gemacht hatten. Sie hatten allen Grund Eriks Zorn zu fürchten. Die Mach ihn säuselte ungehalten über diese Entschuldigung und flüsterte ihr wichtigere Dinge zu. Dinge, die sie erledigen musste und so sehr es Kelly auch schmerzte, ihre und Eriks Wege würden sich nun trennen.
Sie ging auf das Bad zu und stellte sich vor den Spiegel um diese Veränderung genauer in Augenschein zu nehmen. Für mehrere viel zu lange Sekunden starrte sie sich fassungslos im Spiegel an, doch es war nicht ihre Haut oder ihre Haare, die sie so andersartig wirken ließen – sondern ihre Augen. Von dem ursprünglichen Blau war nichts mehr zu erahnen. Ihre Augen schimmerten in tausenden sich ständig verändernden Farben, als hätte man ihr ein Prisma in die Augenhöhlen gesetzt.
„Unfassbar schön", hauchte ihr Erik entgegen als er an der Tür zum Bad stehen blieb und ihre Skepsis bemerkte.
„Unfassbar störend", meinte sie Naserümpfend und war ihm für dieses Kompliment dennoch sehr dankbar. Als sie ihn anblickte, wirkte er ... stolz. Nicht wie ein Mann auf eine schöne Frau, sondern wie ein Vater auf sein Kind und das trieb ihr die Tränen in die Augen die ....oh, das durfte nicht wahr sein, aussahen wie flüssige Diamanten. Einmalig, wie ein Einhorn.
Sie war ein Einhorn – allerdings noch kitschiger: Sie war ein glitzerndes Einhorn. Ein glitzerndes Einhorn-Vampir. Am liebsten hätte sie sich übergeben, hatte aber Angst, dass nur Creamtörtchen herauskommen würden. Scheiße. Unauffällig, war definitiv vorbei.  

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