Kapitel 9 - Schock

Langsam durchschreite ich den Saal. Die Schritte hallen leicht wieder, während der Boden immer wieder etwas quietscht. Ich glaube, ich trage echt nicht die passenden Schuhe für diesen Boden. Ich bezweifle aber auch, dass die Familie hier regelmäßig tanzt und auch Tanzpartys veranstaltet.

Ich habe mir jetzt den ganzen Raum angesehen und hier scheint nichts ungewöhnlich. Stühle und Tische sind an den Wänden gestapelt und alte Gemälde hängen dort ebenfalls. Dann ist da eine einzelne Tür auf der Seite, von der ich kam, wahrscheinlich ein Abstellraum und sonst nur noch große Fenster. Das sieht definitiv nicht danach aus, als wäre oft jemand hier. Dann schaue ich mal durch die andere Tür, vielleicht ist dahinter auch mehr als nur eine Abstellkammer. Wenn nicht, sollte ich mich darin dennoch verstecken, denn ich glaube, ich bekomme sonst bald Besuch. Ohne lange weiter darüber nachzudenken, gehe ich auf die Tür zu und öffne sie. Eine Treppe in die Tiefe fällt mir ins Auge, sie ist umhüllt von Dunkelheit. Man erkennt echt garnichts.

Unverständliches Gerede erklingt mittlerweile rechts von mir. Verdammt, sie kommen, okay, ich habe wohl keine andere Wahl. Ich ziehe mein Handy, mache die Taschenlampe an, schließe die Tür hinter mir und steige herab in die Tiefe. Das laute Knarren der Stufen lässt mich zusammen zucken. Verdammt, wieso muss sowas auch immer so laut sein, blöde alte Treppen. Mit aller Kraft versuche ich nun die Treppen, ohne Knarren runter zu gelangen. Bei jedem noch so leisen Knarren zieht sich weiter alles in mir zusammen. War ja klar, dass ich dieses Geräusch nicht komplett verhindern kann. Endlich unten angekommen, leuchte ich um mich. Es ist so düster, dass mein Licht schon fast nichts mehr bringt. Bis auf einiges an Schrott und Werkzeugen kann ich nichts erkennen.

Ich schreite vorsichtig durch den Raum. Das muss hier wohl mal eine Werkstatt gewesen sein. Dieses Haus ist wirklich einzigartig, irgendwie gibt es beinahe alles hier. Leider aber auch eine psychisch gestörte kannibalische Familie.

,,Shit, was war das?", entfährt es mir laut vor Schreck. Reflexartig leuchte ich zum Ort des Geräusches, jedoch sehe ich nur eine Schale.
Aber wie ist sie denn von da oben heruntergefallen?

Neugierig bücke ich mich zur Schale runter und leuchte sie an, dabei fällt mir auf, dass mein Handyakku mittlerweile auf 18 % gesunken ist. Langsam aber sicher muss ich mich echt beeilen.

Diese Schale ist aber sehr merkwürdig, ich kann auch nicht wirklich sagen, was ein Material das ist. Sie scheint aber sehr massiv zu sein, richtig robust. Und auch diese Aura, die sie ausstrahlt, irgendwie wird mir ganz unwohl. Ach egal, ich sollte sie lieber wieder zurückstellen, sonst denken die Nokturns noch, dass ich hier unten war.

Nachdem ich die Schale auf die große Werkbank vor mir zurückgestellt habe, fallen mir plötzlich ein paar andere Dinge ins Auge. An der Wand hängen Bilder von einem Mann mittleren Alters und einem, ich würde mal sagen, zwanzigjährigen, wie sie zusammen etwas am Reparieren sind. Diese Familie hat wirklich mal Schuhe repariert? Okay, damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Aber so wie es hier aussieht, denke ich mal, dass es schon eine Ewigkeit her sein muss, dass dies hier geschehen ist. Ich denke mal seit über 20 Jahren. Denn auch solange ist es her, dass sie ihren Strom bezahlt haben, den sie komischerweise irgendwo anders her beziehen. Ich frage mich echt, was nur in diesem Haus vorgefallen ist? Was ist vor über zwanzig Jahren hier nur passiert?

,,Hier scheint echt nichts mehr zu sein", flüstere ich vor mich hin, aber dann sticht mir etwas ins Auge. Etwas, was neben der Schale liegt. Im ersten Moment bin ich nicht wirklich verwundert, denn mich wundert hier gar nichts mehr im Haus. Aber als dann meine Augen auch die Schale erfassen, macht es in meinem Kopf klick. Hastig atmend, gehe ich ein paar Schritte zurück. Ein eiskalter Schauer durchläuft meinen Körper, während ich meinen Blick einfach nicht abwenden kann. Panik steigt in mir auf, im selben Moment höre ich oben die Tür. Völlig orientierungslos laufe ich los durch den Keller.

Diese Familie, sie, sie stellen aus den Knochen ihrer Opfer Schalen her. Was für ein kranker Scheiß ist das denn? Erst finde ich Kunst gebaut aus Körperteilen, dann einen gekühlten Oberkörper, eine kranke Frau, die mit Haut näht und jetzt Objekte, die aus Knochen hergestellt wurden? Das hier unten ist nicht irgendeine Werkstatt. Hier werden Objekte aus menschlichen Knochen hergestellt.

Voller Panik laufe ich durch eine Tür nach der anderen. Ich nehme kaum wahr, was sich in diesen Räumen und Gängen befindet, durch die ich durchlaufe, doch ich nehme genug wahr, um zu wissen, dass diese ganzen Schalen, die mir ins Auge springen, aus menschlichen Knochen hergestellt wurden. Ich will auch gar nicht wissen, was in diesem Haus noch alles aus Knochen hergestellt wurde. Beim durchstürmen einer weiteren Tür, die etwas klemmt und somit einen lauten Knall widerhallen lässt, komme ich in Lichtgeschwindigkeit zum Stillstand. Mein Puls schlägt mir mit voller wucht bis in den Kopf. Ein Raum, beleuchtet von nur einer einzigen Glühbirne, erstreckt sich vor mir. Ein muffiger Geruch von altem Holz und feuchtem Putz steigt mir dabei in die Nase.

Und dann entdecke ich ihn: ,,Connor", flüstere ich und halte mir die Hand vor dem Mund. Eine Träne bahnt sich über meine Wange. Mit langsamen Schritten beginne ich mich ihm zu nähern. Er hängt durch Seile gefesselt an einer Holzwand. Sein Gesicht ist blass vor Schmerz und Angst, und sein Blick sucht verzweifelt nach dem Meinen. Doch noch bevor ich richtig begreifen kann, was hier vor sich geht, fällt mein Blick auf seinen Arm – oder besser gesagt, auf die blutige Lücke an seiner Seite, wo sein Arm einst war. Ein unwillkürlicher Schrei entfährt mir, als ich den verstümmelten Stumpf sehe, der an seinem Körper klafft.

Ich bemerke daraufhin etwas in meinem Augenwinkel, dabei laufen mir bereits die Tränen über die Wangen. Mit meiner Hand vor dem Mund drehe ich mich langsam nach rechts, Connor schüttelt dabei immer wieder seinen Kopf.

Die Realität beginnt um mich herum zu verdrehen, als ich sie entdecke. Der Arm von Connor wurde bereits an einer gruseligen Puppe implantiert. Beim Anblick der Puppe stockt mir echt der Atem.

Ihr Körper ist entstellt, die Haut aus einem bleichen, ledrigen Material, das wie verrottetes Fleisch aussieht. Der abgetrennte Arm ist grob an ihre Schulter genäht, Blutspuren verlaufen über ihre zerschlissene Kleidung. Ihre Augen, leblos und glanzlos, starren mich aus leeren Höhlen an. Mir läuft es echt eiskalt den Rücken herunter, was für eine kranke Scheiße. Jedes Mal, wenn ich denke, dass es nicht noch schlimmer kommen kann, sehe ich dann sowas hier.

,,Oh mein Gott", flüstere ich und erstarre dabei. Die Puppe hier war erst der Anfang. Versteckt in den Ecken der Dunkelheit befinden sich noch weitere, die mir bis eben noch nicht aufgefallen waren. Jede davon ist gruseliger als die andere. Einige haben verdrehte Gliedmaßen, andere haben groteske Fratzen oder sind mit zerrissenen Kleidern bedeckt, die an alte Lumpen erinnern. Die Puppen sind in verschiedenen Stadien der Fertigstellung, einige sind noch halb roh und unfertig, während andere fertig und bereit zur grausamen Ausstellung sind. Das ist wirklich krank, ich muss Connor befreien und das schnell, ihm fehlt bereits ein Arm und ich weiß nicht ob die Familie meinen Schrei eben gehört hatte. Sie waren ja sowieso schon hinter mir her, vielleicht sind sie sogar gleich schon da. Aber ich sollte mir glaube eher Sorgen um diesen Felix machen, schließlich hat er Connor bereits einen Arm amputiert und wer weiß was er noch alles vorhat.

Mein bester Freund sieht mich wieder verzweifelt an, sein Blick ganz kalt. Er scheint kaum noch Kräfte zu haben, ich muss ihn befreien und das schnell. Ich ziehe daraufhin mein Küchenmesser und beginne die Seile durchzuschneiden, zuerst an den Füßen und dann an seinem Handgelenk. Bevor ich jedoch sein Handgelenk von dem Seil befreie, schiebe ich noch eine Kiste unter seinen Füßen, damit er darauf Fuß fassen kann. Beim Durchschneiden des letzten Seils halte ich ihn mit einer Hand fest, um ihn vor dem Umkippen zu bewahren. Er fällt mir dann jedoch plötzlich um den Hals und zieht sich mit seiner Hand an meinem Rücken fest. Ehe er zur Seite kippen kann, umschlinge ich ihn mit meinen Armen und halte ihn fest an mich. Vorsichtig geht er dabei einen Schritt nach dem anderen von der Kiste runter.

,,D-danke", flüstert er mir schwach ins Ohr.

,,Dafür doch nicht, schließlich bist du mein Freun... Ähm, ich meine mein bester Freund", korrigiere ich mich etwas unbeholfen.

,,Freund... bester Freund... ist doch egal", antwortet er mit schwacher Stimme. ,,Dylan, komm, wir müssen jetzt..."

Er dreht sich von mir ab und will losgehen. Wie aus Reflex fasse ich ihn und halte ihn fest, als er plötzlich zu taumeln beginnt. ,,Connor, du bist noch zu schwach, komm, stütze dich mit deinem Arm an mir ab und sag mir, wo wir lang müssen, wir schaffen das, zusammen."

Er nickt und sieht zu der Tür hin, neben der er an der Holzwand gefesselt wurde. ,,Wir müssen da lang."

,,Okay", antworte ich und schreite langsam mit ihm durch den Raum.

,,Dylan... wir müssen... schneller", stammelt er leise. ,,Felix, der Puppenmeister... er... er wird gleich wieder hier sein..."

Bei Erwähnung dieses Namens wird mir schnell unwohl. Dieser Felix, natürlich, er nennt sich Puppenmeister. Ich meine, was er da Krankes praktiziert, das ist wirklich nicht mehr normal. Außerdem hasse ich Puppen über alles, ich mag auch kaum an das denken, was Aurelia mir angetan hatte; sie hatte wirklich schamlos mit meinen Ängsten gespielt. Deswegen hasse ich Kinder auch in Horrorfilmen, entweder sind sie das Schlimmste überhaupt oder vermasseln alles und hören nicht mal auf die Eltern wenn sie etwas sagen.

Wir haben die erste Tür durchschritten und bleiben stehen. Erwartungsvoll schaue ich zu Connor.

,,Hast du eine Idee wo wir hin können? Kennst du einen Ort, wo wir sicher wären?"

Er sieht hoch und sieht sich in allen Richtungen um. Daraufhin nickt er in eine bestimmte Richtung. ,,Ich weiß... wo wir hin können... durch die Tür da..."

Ohne darüber nachzudenken, folge ich seiner Anweisung. Hinter der nächsten Tür zeigt er mir erneut, wo wir als Nächstes lang gehen müssen. Wir dringen in Bereiche des Hauses vor, in denen ich bisher nie war und zum Glück haben wir noch keinen der Nokturns getroffen. Ich hoffe wirklich, dass sie uns nicht finden, Connor ist so schwach und was sie mit ihm machen würden, das will ich mir einfach nicht vorstellen. Aber seine Schwäche ist nur körperlich, denn trotz seiner eigenen Qualen gibt er mir jedoch keine Anzeichen von Schwäche, sondern führt mich mit einem festen Griff durch das Haus. Er ist auch ohne Arm unglaublich stark. Nachdem wir auch nun durch die letzte Tür gegangen sind, würde ich meinen, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Das scheint hier schlichtweg nur ein Speisesaal zu sein, aber dann nehme ich den Willen von Connor wahr, sich vorwärtsbewegen zu wollen. ,,Da... der alte rostige Essensaufzug... wir müssen herunterfahren...", bringt er schwerfällig hervor. Weiterhin fest im Griff haltend, laufen wir nah beieinander auf den Aufzug zu.

,,Oh Connor, du bist wirklich brillant", sage ich ganz begeistert. Vor dem Aufzug angekommen öffne ich die alte rostige quietschende Tür und helfe meinem besten Freund dort hinein. Ich Geselle mich daraufhin ebenfalls zu ihm. Ich schließe die Tür und drücke einen Knopf. Der Aufzug scheint in Bewegung zu kommen.





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