Endloser brauner Boden - 3

„Oh weint das kleine Prinzesschen!?" Jemand schubste mich und schon fiel ich erneut. Ich konnte gerade so meine Arme noch rechtzeitig ausstrecken, um den Sturz aufzufangen. Trotzdem tat es unglaublich weh in so kurzer Zeit gleich zwei Mal hinzufallen. Die bereits aufgeschürften Hände fingen nun an wirklich zu bluten und die Dreckpartikel wurden tief ins offene Fleisch hineingerieben. Ich biss mir so stark auf die Unterlippe, dass ich Blut schmecken konnte. Verzweifelt versuchte ich das Schluchzen zu unterdrücken und die Tränen zurückzuhalten, denn das würde den Sergeant nur noch wütender und rücksichtsloser machen. Ein leichtes Hicksen entfloh meinen Lippen, als ich erneut aufstand.
Der Sergeant schrie und schrie, ob ich mich den nicht schäme, dass ich das kümmerlichste war, das er je zu Gesicht bekommen hatte und das ich nicht mehr wert sei als eine Made. Ich versuchte ihn zu ignorieren, doch die Worte hallten in meinem Inneren wieder. Sie schwollen an, verdoppelten sich und wurden immer lauter. Ich nahm den Stamm wieder auf die Schultern und fing an zu laufen. Ein Schritt nach dem anderen. Ein gequälter Atemzug und dann der nächste. Nur nicht die Tränen an die Oberfläche lassen. Nur nicht erlauben, dass die Trauer, der Schmerz und die Wut die Oberhand gewannen. Ich dachte an Damian, der mir all das angetan hatte und verfluchte ihn. Er sollte sich mit seinem arroganten Lächeln zum Teufel scheren und nie wieder auf dem Angesicht der Erde elegant herumspazieren. Diese Behandlung hier war einem Menschen nicht würdig. Sie verstieß gegen jegliche Menschenrechte und erinnerte an die Zeit des Mittelalters, als man Folter als gängiges Alltagsmittel benutzt hatte, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich blickte nach vorne und sah wie lang die Strecke noch vor mir war. Der braune Boden unter meinen Füßen wollte nicht aufhören. Nach jeder Ecke kam eine weitere Strecke, die wieder genauso endlos schien, nur um eine Ewigkeit später eine weitere Ecke erscheinen zu lassen mit einer weiteren Strecke. Es gab kein Entrinnen aus dem ewigen Kreislauf aus Schmerz und den toten gefrorenen Boden unter mir. Wolf, Bär, Elfe, Schlange und selbst Einstein überholten mich, einmal, zweimal oder auch fünf, sechs, zehn Mal. Ich konnte es nicht sagen. Ich hatte aufgehört zu Zählen. Das einzige was wichtig war, waren meine stetigen Schritte und mein japsender unregelmäßiger Atem, der die Luft in meine Lungen pumpte, denn ich musste ein weiteres Stück vorankommen. Der Stamm, der auf meinen Schultern thronte, durfte ich wegen nichts in der Welt loslassen, obwohl er mich zu Boden drücken wollte. Erneut blickte ich auf und sah die Ecke, die in weiter Ferne vor mir lag. Mein Ziel, zumindest für diesen einen endlosen Moment.
Ich blinzelte verwirrt. Dort hinten stand eine Gestalt, die mir die Hand entgegenstreckte. Das Keuchen der anderen, das Schreien des Sergeants, selbst das Rauschen des Windes verstummte. Für einen Moment durchbrach die Sonne die dicke Wolkendecke und leuchtet auf die Person dort vorne herab. Ihr langes schwarzes Haar fing den Lichtschein auf und die Strahlen glitten langsam, wie bei Seide, an ihnen herab. Ihre Augen funkelten fröhlich und auf den Lippen hatte sie ein bezauberndes Lächeln, das ich um alles in der Welt beschützen wollte.
„Jane!", flüsterte ich heißer.
Ich vergaß den Baumstamm auf meinen Schultern und streckte beide Hände nach meiner Freundin aus wie eine Ertrinkende, die nach dem Rettungsring greift. Der Stamm fiel von meinen Schultern. Ich rannte von meiner Last befreit auf sie zu, ergriff ihre Hand, doch anstatt des warmen Körpers, fühlte ich nur Luft. Ich fiel nach vorne und schaute dabei verzweifelt zu ihrem Gesicht hinauf. Sie lächelte bittersüß. In ihren Augen zeigte sich mit einem Mal eine tiefe Traurigkeit, dann verzerrte sich ihr Gesicht. Sie krümmte sich als habe sie Schmerzen. Ihr Mund öffnete sich, doch heraus kam nur ein Windstoß und kein von Schmerzen getriebener Schrei. Dann verblasst sie, verschwand im Nichts und ich lag auf den Boden. Dunkelheit waberte um mich herum auf.
„Jane", krächzte ich noch ein letztes Mal, bevor die Finsternis mich verschluckte.

Schlagartig wachte ich wieder auf. Ich sah Füße in schwarzen Stiefeln, die an mir vorbeirannten und hörte schwere keuchende Atemzüge.
„Was glaubst du eigentlich wo du hier bist!?", schrie mich irgendjemand an.
Was war hier los? Wo war ich hier? Wieso war es so kalt? Wieso war ich klatschnass? Wieso lag ich auf einen eiskalten braunen Boden? Wo war die Wohnung, meine Bücher? Wo war Jane?
„Bist du jetzt endlich wach?!", schrie mir jemand genau ins Ohr.
„Au!", entfuhr es mir und ich setzte mich ruckartig auf.
Ich sah den braunen Platz auf den Wolf und Bär im Laufschritt jeweils einen Stamm durch die Gegend schleppten. Elfe und Schlange hievten sich ebenfalls voran und Einstein lag besinnungslos am Boden, neben ihm ebenfalls ein Stamm.
„Steh auf!", befahl man mir und ich gehorchte.
Mit wackligen Knien stand ich. Einen Moment lang dachte ich die Dunkelheit würde mich wieder verschlucken. Mein Sichtfeld verschleierte sich, doch diesmal atmete ich tief ein und bekämpfte die nahende Ohnmacht.
„Mach weiter!", befahl der Sergeant neben mir.
Ich schaute ihn verwirrt an. Was wollte er noch einmal? Warte, irgendetwas war ...
„Heb verdammt noch mal den scheiß Baumstamm auf und renn weiter! Glaubst du ich hab den ganzen Tag Zeit dir Nichtsnutz zu sagen, was du tun musst?!"
Ach so, das war es gewesen. Ich blickte zurück auf den Stamm, den ich einfach fallen gelassen hatte. Es war als hätte ich mit ihm einen Teil von mir selbst fallen gelassen. Den Teil, der sich lieber hinter Büchern verkroch und der noch nicht begreifen wollte, dass er von nun an ein ganz anderes Leben führen musste. Langsam ging ich zurück und bückte mich. Ich hievte den Stamm auf meine Schultern. Er war so schwer, dass er mich fast erneut in die Knie zwängte. Ich schaffte es einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch mit diesem ersten Schritte hatte ich das Gefühl, als ob ich etwas zurückgelassen hätte. Als ich in der nächsten Runde erneut an diese Stelle kam, drückte ich die Füße fest auf den Boden. Der Stamm war nicht mehr mein altes Leben, sondern mein Neues, das ich nun zu schultern hatte. Mein Dasein als Bücherwurm wurde eben von mir in den Schlamm getrampelt. Auch meine Tränen und meine Verzweiflung, schienen mit in die Erde gestampft zu werden. Jede Runde biss ich die Zähne fester zusammen und schaute nach vorne immer mit den Gedanken bei Jane. Im Hinterkopf die Hoffnung sie retten zu können, denn jeder Schritt schien mir unmöglich, doch ich bestritt ihn. Meine Muskeln zitterten und mein Atem war längst wieder zu einem stoßweisen Japsen geworden war, doch ich trampelte meine Vergangenheit, mein zerbrechliches Sein tief in die Erde. Mir war bewusst, dass ich auch damit ein Teil meiner führsorglichen, netten Wesen verlor, doch das einzige was zählte war Jane.


Aus den Chroniken der Tagwandler - Ein Bericht eines späteren Ratsmitglieds:

Es hat keinen Sinn mehr! Die Verzweiflung und der Scham toben in mir und versuchen mich zu zerreißen! Man hat die Ergebnisse meiner Forschung vollkommen falsch genutzt. Menschen werden nun wie Vieh an den Höfen der Vampire gehalten und dienen ihnen wie gut dressierte Hunde. Nur sind Menschen denkende Wesen. Ich sehe in ihren Gesichtern die Qual, wenn sie das tun, was der Herr ihnen befiehlt, nur um eine weitere Sekunde ein Sklavendasein führen zu dürfen. Es ist alles meine Schuld. Hätte ich niemals diese Forschung betrieben, wäre es nie dazu gekommen. Was in Gottes Namen kann ich nun tun? Wie kann ich dies alles wieder rückgängig machen? Ich hatte doch nur den Wunsch zu helfen.

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