Kapitel 1

Mit klopfendem Herzen und meinem übergroßen, knallpinken Koffer im Schlepptau stehe ich am frühen Nachmittag in einem kahlen Flur und warte darauf, dass mir die Wohnungstür geöffnet wird. Ich befinde mich im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses und weiß über die Wohnung, die ich gleich betreten werde nur so viel, dass eines der kleinen Zimmer davon ab sofort mir gehören wird. Ich habe es über das Internet gemietet, ohne mir Bilder davon angesehen zu haben. Eine ziemlich riskante Tat, die ich gerade mehr als bereue, denn nun bin ich furchtbar nervös. Ich habe keine Ahnung, was und wer mich in meinem neuen Zuhause erwarten wird und am liebsten würde ich mich übergeben vor lauter Aufregung. Wenn ich Pech habe, ist die Wohnung, die ich bald bewohnen werde, ein heruntergekommenes Dreckloch oder meine Mitbewohner sind alt und schmierig. Vielleicht befinde ich mich aber auch gleich einem Massenmörder gegenüber, der nur auf so naive junge Frauen wie mich gewartet hat und mein letztes Stündchen hat soeben geschlagen...

Schnell schüttele ich den Kopf, denn meine blühende Fantasie droht mal wieder, mit mir durchzugehen. Ich befinde mich hier in einer Kleinstadt mit wenigen tausend Einwohnern, hier wird es keine verrückten Mörder geben. Zumindest versuche ich, mir das einzureden. Zum Glück bin ich alles andere als hilflos. Auch wenn ich mir geschworen habe, meine Magie nicht zu benutzen, würde ich eine Ausnahme machen, wenn es darum geht, mein Überleben zu sichern. Das würde mir keiner vorwerfen, nicht einmal ich selbst. Es gibt da einige Zauber, die zwar nicht tödlich sind (jemanden durch Magie zu töten ist verboten), aber einen potentiellen Gegner lange genug außer Kraft setzen. Ich könnte ihn in ein tanzendes Kaninchen verwandeln oder ihn in einen tiefen Schlaf versetzen...

So in Gedanken über mögliche Abwehrzauber versunken bemerke ich viel zu spät, dass sich die Tür vor meiner Nase öffnet. Erst ein fürchterlich hohes Quietschen macht mich darauf aufmerksam, sodass ich hastig den Blick hebe und mir im gleichen Moment das Herz vor Schreck stehen bleibt. Vor mir steht ein Monster!

Ein Monster mit furchtbar grüner Haut, wulstigen Lippen und geschwollenen Augen, die mich so neugierig mustern, dass ich am liebsten auf der Stelle schreiend davon rennen würde. Dazu komme ich aber nicht, denn das Monster öffnet sein schreckliches Maul und sagt mit samtener Stimme: "Hey, du musst wohl die Neue sein! Flo hat mir schon erzählt, dass du heute ankommen wirst!"

Auf die Worte folgt ein fröhliches Grinsen, das ich nicht erwidern kann. Ich bin viel zu perplex darüber, dass das Monster offensichtlich kein Monster, sondern eine junge Frau, und noch dazu vermutlich meine neue Mitbewohnerin, ist. Diese zieht nun eine ihrer Augenbraue nach oben, die unter der schrecklichen grünen Paste in ihrem Gesicht kaum zu erkennen sind, und betrachtet mich skeptisch.

"Alles okay bei dir?", erkundigt sie sich und endlich kommt Leben in meinen vor Schreck erstarrten Körper. Mir entschlüpft ein ungläubiges Auflachen, ehe ich nicke und antworte: "Ja, ja, ehm, klar. Mein Name ist Kinsey!"

Das Monster, beziehungsweise meine neue Mitbewohnerin, lächelt wieder und streckt mir ihre Hand entgegen, die ich mit gemischten Gefühle betrachte. Als ich daran keine grüne Farbe erkennen kann, ergreife ich sie und stolpere im nächsten Moment beinahe, denn mein Gegenüber hat mich einfach in die Wohnung hinein gezogen. Erstaunlich, wie viel Kraft die junge Frau aufweist, wenn man bedenkt, dass sie mir gerade mal bis zum Kinn reicht.

"Freut mich, Kinsey. Ich bin Scarlett! Ich freue mich so, dass wir endlich mal eine Frau als Mitbewohner bekommen! Du hast ja keine Ahnung, wie anstrengend es sein kann, wenn man nur mit Männern zusammen wohnt...", plappert das Monster, das auf den Namen Scarlett hört, drauflos und zieht mich weiter in die Wohnung hinein, die ich kaum wahrnehmen kann. In Gedanken bin ich bei meinem Koffer, der nun einsam und verlassen auf dem Flur steht und sorge mich vorallem um das rosafarbene Lederbüchlein, was ich darin, gut verborgen zwischen meiner Unterwäsche, verstaut habe. Wenn das jemals in falsche Hände geraten sollte...

Ich kann den Gedanken nicht zu Ende führen, denn Scarlett dirigiert mich in einen großen Raum und fordert mich auf, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Es ist das erste Mal, das ich mich wirklich umsehe und mir fällt ein riesengroßer Stein vom Herzen, als ich erkenne, dass ich in keinem Dreckloch gelandet bin. Die Tapete in diesem Raum, der wohl das Wohnzimmer darstellt, ist zwar nicht mehr weiß, sondern eher eine Mischung aus grau und gelb und der Fußboden unter meinen Boots hat seine besten Zeiten ebenfalls bereits hinter sich gelassen, aber dennoch sieht das Zimmer sehr ordentlich aus. Neben der großen, grauen Couch, auf der ich sitze, befindet sich noch ein riesiger Esstisch darin, der mich ein bisschen an die Werkbank meines Großvaters erinnert. Daran stehen bunt zusammengewürfelt verschiedene Stühle und von der Decke baumelt einsam und verlassen eine Baustellenlampe. Rechts davon führt ein Durchbruch in die Küche, in der ich von hier aus zwar benutztes Geschirr erkennen kann, aber damit kann ich leben. Ich hasse spülen, ich kann also verstehen, wenn man diese undankbare Tätigkeit bis aufs Letzte hinaus zögert. Ich würde mich sehr gerne weiter umsehen, denn aufgrund dieses bunt gemischten Einrichtungsstils ist meine Neugierde geweckt, aber dazu komme ich nicht. Scarlett taucht in meinem Sichtfeld auf und reicht mir eine überdimensional große Tasse.

"Hier, für dich! Du bist sicher durstig und müde von der langen Reise!", erklärt sie und ich nehme ihr dankbar die Tasse ab, denn mit ihrer Vermutung hat sie nicht Unrecht.

"Lieb von dir", sage ich und beobachte sie dabei, wie sie es sich neben mir auf der Couch im Schneidersitz bequem macht. Dabei hält sie ebenfalls eine Tasse in der Hand und erklärt mir: "Das ist spezieller Kräutertee von meiner Mama, sie stellt ihn selbst her. Angeblich soll er müde Geister wacher werden lassen! Keine Ahnung, ob das stimmt, Mutti ist da ein bisschen Öko, aber er schmeckt auf jeden Fall! Probier mal!" Scarlett untermauert ihre Worte mit einem leicht genervten Augenrollen, als sie über ihre Mutter spricht. Ein Schmunzeln breitet sich auf meinen Lippen aus, denn die Erzählung über ihre Mutter hat meine neue Mitbewohnerin sofort sympathisch gemacht. Ich fühle mit ihr. Ich kenne es nur zu gut, Eltern zu haben, die in mancherlei Hinsicht mehr als nur seltsam sind. Davon könnte ich ein Lied singen.

Neugierig nippe ich an dem Tee und stelle erstaunt fest, dass Scarlett Recht hat. Er schmeckt sehr gut nach Pfefferminze, Rosmarin und Thymian. Ich meine, auch so etwas wie Holunder zu erkennen, aber diese Vermutung behalte ich für mich. Es ist schon schlimm genug, dass ich mich so gut in Kräuterkunde auskenne. Dinge, die mich als seltsam abstempeln und die ich lieber für mich behalte. Zumindest, wo ich Scarlett gerade erst kennen gelernt habe.

"Und?", hakt sie gespannt nach und ich lächle.

"Lecker!"

Scarlett erwidert mein Grinsen und ich muss mich zurückhalten, sie nicht anzustarren. Noch immer hat sie die grüne Paste in ihrem Gesicht und sieht damit seltsam aus. Es ist wie bei einem Autounfall, man kann einfach nicht wegsehen.

Scarlett stellt ihre Tasse auf den kleinen Couchtisch und kichert. "Es ist mein Gesicht, oder? Deshalb schaust du so! Sorry, ich habe das ganz vergessen. Ich wollte die Zeit ohne die Jungs nutzen, um mir ein kleines Beauty Programm zu gönnen. Tut mir echt leid, ich sehe wahrscheinlich furchtbar aus!", stellt sie fest und ich kann ihr nicht widersprechen.

"Ist schon ok", winke ich deshalb nur ab und füge im nächsten Atemzug hinzu: "Wenn es ok für dich wäre, würde ich gerne meinen Koffer holen und erstmal mein Zimmer beziehen?"

Wie von der Tarantel gesprochen springt Scarlett auf und reißt erschrocken den Mund auf. "Oh, natürlich! Wie unhöflich von mir! Komm, ich helfe dir dabei!"

Gemeinsam holen wir meinen Koffer aus dem Flur und ich folge meiner neuen Mitbewohnerin durch die Wohnung. Dabei plappert sie unaufhörlich vor sich hin, aber ich schaffe es kaum, ihr zuzuhören. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mich umzusehen. Ein Flur führt vom Wohnzimmer ab in den hinteren Teil der Wohnung, der in einer Treppe endet. Hier sind die Wände mit bunten Bildern bemalt und ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass diese selbst auf die weiße Tapete gemalt wurden. Ich will Scarlett danach fragen, aber da sie zwischen ihren Erläuterungen kaum Luft holt, gestaltet sich das schwierig. Deshalb verschiebe ich die Frage auf später und sehe mich weiter um. Im Flur gibt es vier Türen, jeweils zwei auf der rechten und zwei auf der linken Seite. Vermutlich führen diese in die Schlafzimmer, was Scarlett mir sogleich bestätigt.

"Hier ist das Zimmer von Flo", erklärt sie und zeigt auf die vordere Tür rechts neben mir. "Und dass da ist die Rumpelkammer!" Sie öffnet die zweite Tür und ich erkenne einen winzigen Raum, indem es kein Fenster gibt und allerlei Krimskrams herumsteht.

"Falls du also was abstellen willst", fügt sie hinzu und schließt die Tür wieder. Dann deutet sie auf die Treppe.

"Im oberen Stockwerk wohnt Sam. Außerdem ist da oben das große Badezimmer, mit Dusche und Wanne. Hier unten gibt es nur ein kleines Klo, das ist das hier!" Scarlett öffnet die hintere Tür links von uns und ein kleiner Beschlag empfängt uns, indem man sich kaum um sich selbst drehen kann. Winzig, aber zweckmäßig. Scarlett schließt die Tür wieder und grinst mich anschließend breit an.

"Und das da", beginnt sie und nickt in Richtung der zweiten Tür. "Ist dein neues Reich!"

Gespannt beobachte ich sie dabei, wie sie die Tür öffnet und mir mit einer einladenden Geste bedeutet, hereinzukommen. Neugierig folgte ich der Aufforderung und betrete einen erstaunlich großen Raum, mit dem ich nicht gerechnet hätte. Darin befinden sich ein Schrank und ein Schreibtisch, aber ich bin besonders begeistert von dem Bett, das an der rechten Wand steht und einzigartig ist. Es ist eine Matratze, die auf weiß angestrichenen Paletten liegt.

Scarlett, die meinen Blick wohl bemerkt hat, erklärt: "Joey hat das Bett selbst gebaut. Er konnte es leider nicht mitnehmen und ich soll dir ausrichten, dass es dir gehört. Genau wie die anderen Möbel!"

Erstaunt sehe ich zu meiner neuen Mitbewohnerin, die noch immer in der Tür steht und mich grinsend mustert.

"Wirklich?"

Sie nickt.

"Wirklich! Und jetzt, fühle dich wie Zuhause!" Mit diesen Worten schließt sie die Tür hinter sich und ich bin allein in meinem neuen, persönlichen Reich. Noch einmal lasse ich den Blick durch das kleine Zimmer wandern und muss lächeln. Hatte ich bis eben noch Angst, weiß ich nun, dass es mich nicht hätte besser treffen können. Die Wohnung ist super, Scarlett scheint echt nett zu sein und ich denke, dass auch die anderen beiden Mitbewohner kein Problem darstellen sollten.

Glücklich und erleichtert lasse ich mich auf die unbezogene Matratze fallen und starre selig an die weiße Decke. Besser hätte mein Neustart gar nicht laufen können.

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