Spinnengewohnheiten

„Und bitte denkt daran, die Stoffmenge immer in Mol anzugeben, denn-“

Das extrem unmelodische Läuten der Schulglocke unterbricht unsere noch recht junge Chemielehrerin. Obwohl sie gerade erst aus dem Referendariat kommt und noch mit voller Begeisterung bei der Sache ist, kann auch sie es nicht verhindern, dass 80% der 10c in den letzten beiden Stunden am Freitag die Köpfe auf den Tisch fallen.

Papier raschelt und Ordner klicken. Auch ich klappe meinen Schnellhefter zu und lasse ihn in meiner Schultasche verschwinden. Mit einem unterdrückten Seufzer pieke ich Sarah meinen Kuli in die Seite, bevor ich ihn ins Mäppchen pfeffere. Meine beste Freundin hebt verschlafen den Kopf vom Tisch. Ihre hellblonden Haare hängen quer in alle Richtungen. So selbstbewusst wie sie ist, macht es ihr nichts aus, auch in der ersten Reihe zu schlafen.

„Is schon aus?“ Sie reibt sich den Sand aus den blauen Augen und fährt sich durch die Haare, die natürlich wieder sofort perfekt sitzen.

Ich nicke nur und schließe auch ihr Mäppchen.

Wenig später lassen wir uns von dem Strom der Schüler vor den MINT Klassenzimmern Richtung Ausgang tragen.

„Dass du es schaffst, bei der die ganze Zeit wach zu bleiben…“ Sarah schüttelt den Kopf. „Ohne dich würd die glaub verzweifeln.“

„Interessiert mich halt.“ Ich zucke die Schultern.

Gerade, als Sarah zum Weiterreden ansetzen will, tippt ihr jemand von hinten auf die Schulter.

Sina. Wer auch sonst. Sofort tritt wieder mein Zustand ein, in dem ich das Gefühl habe, mit meiner Umwelt zu verschwimmen. Das passiert mir oft, aber vor allem, wenn Sina in der Nähe ist. In einem Highschoolfilm wäre sie die beliebte Zicke. Eigentlich sollte man meinen, dass wir in der 10. aus dem Alter für sowas raus wären, aber gerade dieses Klischee hält sich hartnäckig.

„Sarah, ich hab heute Abend sturmfrei.“ Natürlich beachtet sie mich nicht. Das tut sie nie, aber das ist mir auch ganz recht so. „Meine Mädels kommen alle und-“ Sie sieht sich so verstohlen um, als würde sie Sarah gleich die Weltformel erzählen. „Vielleicht auch welche von den Jungs. Bist du dabei?“

Meine beste Freundin wirft mir einen fragenden Blick zu. Eigentlich hatten wir vorgehabt, uns heute Abend zu treffen. Ich zucke nur wieder mit den Schultern.

„Ich schau mal…“, antwortet Sarah ausweichend.

Das scheint Sina zu reichen. Mit ihrer Handtasche über dem Arm zieht sie von Dannen. 

Ich weiß genau, warum sie mich nicht gefragt hat. Ich bin nun mal der Nerd. Etwas anderes, kann ich auch von mir selber nicht behaupten. Ich bin die, die im Unterricht immer aufpasst und immer die Hausaufgaben macht. Aber immerhin auch die, die einen die Hausaufgaben dann auch abschreiben lässt.

„Wärst du mir böse, wenn wir uns morgen treffen?“ Sarah bleibt an der Ecke stehen, an der sich unsere Wege trennen. Sie zum Bus, ich zu den Fahrradständern.

„Nee, passt. Dann bis morgen.“

Sie nickt und grinst. „Ich bring Smoothies mit.“ Bevor sie über die Straße rennt, um ihren Bus nicht zu verpassen.

Jetzt muss ich doch lächeln, während ich mein Fahrrad aufschließe. Meine Freundin kennt mich eben viel zu gut.

Während die Häuser der Münchner Innenstadt an mir vorbeiziehen, wandern meine Gedanken zu meinen zwei Ichs.

Auf der einen Seite bin ich Katrin. Die Streberin. Die Ruhige, die mit niemandem redet. Die mit der Essstörung. Dass ich die zum Großteil mittlerweile überwunden habe, interessiert die meisten nicht. Oder sie wissen es auch einfach nicht. Woher auch?

Ich schiebe mein Fahrrad in den Schuppen vor dem Mehrfamilienhaus. Die Treppe nach oben komme ich an allen vertrauten Türen vorbei. Unten Oma und Opa, darüber Tante Lilo, Onkel Jens und meine zwei kleinen Cousinen. Und ganz oben Mama, Papa und ich. Ich schiebe mich durch unseren vollgestellten Gang zu meinem Zimmer, in dem die Umzugskisten noch kreuz und quer stehen.

Mein zweites Ich liegt in einem Schuhkartonganz hinten unter meinem Bett. Schnell drehe ich den Schlüssel in der Tür und ziehe den braunen Karton heraus. Dazu die Stoffmalfarben aus meiner Schultasche. Nachdenklich lege ich den dunkelblauen Hoodie auf den Boden. Die schwarze Jogginghose hänge ich über den Umzugskarton mit meinen Klamotten, der in der Ecke steht, wo noch mein Schrank hinsoll. 

Etwas zittrig schraube ich die Deckel von der schwarzen und roten Farbe. Mit einem alten Borstenpinsel fange ich an, das zähe Zeug auf dem Stoff zu verteilen. Ein bisschen bescheuert komme ich mir schon dabei vor, wie ich auf den Billopulli das Spidermanlogo male. Ganz akkurat ist es nicht, eher ziemlich krüppelig. Aber egal.

Mit Hilfe von unserem alten Föhn trocknet die Farbe nur in Minuten und ich lasse ich mit der Hose zusammen schnell wieder unter meinem Bett verschwinden, bevor ich auf der Jagd nach etwas Essbarem in die Küche husche.

Auf dem Herd stehen noch die Reste von gestern Abend. Kartoffeln mit Spinat. Na, was solls? Der Spinat hat eh nicht viele Kalorien, nur die Kartoffeln haben halt Kohlehydrate und- Stopp. Aufhören. Anders denken.

So oft ich es auch versuche, meine alten Denkmuster zu überwinden fällt mir trotzdem schwer. Mein Kopf zählt die Kalorien fast automatisch.

„Du darfst essen“, ermahne ich mich selber, während ich den Teller in die Mikrowelle schiebe. „Dein Körper braucht die Energie. Vor allem heute Abend.“

Doch so oft ich auch denke, dass ich meine gut zwei Jahre andauernde Essstörung der achten und neunten Klasse hinter mir gelassen habe, so oft holt sie mich auch wieder ein. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich vor dem Spiegel stehe und mir meinen alten Körper zurückwünsche. Den flachen Bauch und die specklosen Hüften. Jetzt ist mein Körper zwar wieder gesund, aber auch nach den Standards der meisten Menschen recht unförmig. Dünne Arme, dünne Beine, aber dafür relativ kurvige Hüften.

Und schuld daran ist nur meine zweite Gestalt. Schuld ist diese auch an meinem Essverhalten. Die Kartoffeln habe ich zerdrückt und mit dem Spinat gemischt. Lieber Einheitsbrei als feste Kartoffeln.

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