Nicht so Spinnengewohnheiten

Erst so gegen drei, als ich in der Küche schon alles aufgeräumt habe und dabei bin, im Wohnzimmer die restlichen Umzugskartons auszupacken, höre ich das Türschloss. Es ist Papa. Mama kommt wahrscheinlich eh erst heute Abend, wenn der Buchladen schließt, in dem sie arbeitet.

Papas Arbeitshose ist wie immer voller Staub. Der Putz bröselt auf das Parkett, als er seine Arbeitsschuhe ins Regal stellt. Mama wird wieder einen Anfall bekommen, aber nur so lange, bis sie feststellt, dass Papa schon gekocht hat. So ist es jeden Tag.

„Und, Tekla Schatz. Wie wars in der Schule?“

„Wie immer. Sarah kommt heute Abend doch ned.“ Dass er mich Tekla nennt, habe ich früher immer gehasst. Wie die Spinne aus Biene Maya. Dabei bin ich nicht mal ansatzweise so fies.

„Kommt sie dann morgen auch ned mit?“

„Keine Ahnung.“

Bei der Konversation bleibt es. Wir sind beide keine Menschen von großen Worten. Schnell schreibe ich Sarah, ob sie morgen trotzdem mit zu Ikea will. Zwar ist ein Ausflug in ein ultra aufgeräumtes Möbelhaus nicht unbedingt mein Traum, aber nach dem Umzug aus unserer alten Wohnung fehlt mir noch ein Kleiderschrank, meinen Eltern ein Nachttisch und für das Wohnzimmer noch ein Sofa. Und so wie ich meine Mutter kenne noch eine ganze Menge Kleinkram.

Wenn ich darf, komm ich mit, leuchtete es mir von meinem Handy entgegen.

Ich tippe ein flüchtiges Okay, dann um Neune. Wir holen dich. zurück.

Beim Abendessen wird größtenteils geschwiegen. Die Spätzle esse ich nur mit Mühe. Daran werde ich mich auch als waschechte Münchnerin nie gewöhnen. Aber das Schweigen ist normal bei uns. Um ehrlich zu sein, stört es mich auch nicht wirklich. Wir sind einfach eine recht schweigsame Familie. Nur die Einkaufsliste für morgen gehen wir noch einmal durch.

„Habt ihr Mathe schon zurückbekommen?“, fragt Mama, während wir die Teller in die Spülmaschine räumen.

Ich nicke. „Eins.“

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Es ist ihr echtes Lächeln. Nicht das, was sie beim Arbeiten immer hat. Auch, wenn sie gute Noten von mir gewohnt ist, freut sie sich doch jedes Mal.

„Schaust du mit Wer weiß denn sowas?“, fragt sie, während sie für Papa und sich noch Teewasser aufsetzt. Normalerweise schauen wir die Sendung fast jeden Freitag. Aber heute nicht.

Ich schüttele den Kopf. „Ich bin echt sau müde. Vielleicht les ich noch n bisschen, aber ich muss echt schlafen.“

Mama nickt. „Dann gute Nacht, mein großer Spatz.“

Aber ans Schlafen denke ich nicht mal. Ganz im Gegensatz zu meinen Eltern, die in spätestens einer halben Stunde friedlich auf dem Kissenhaufen pennen werden, der momentan unser Sofa ersetzt. Während ich mir pseudomäßig die Zähne putze, klopft es an der Tür. Ein paar Sekunden später schiebt sich Tante Lilos Regenbogenmähne hindurch, mit dem üblichen Strahlen darunter. Papa sagt immer, dass sie damit aussieht, wie ein Einhorn auf LSD, aber ich mag ihre Frisur. Vielleicht versucht sie damit ein bisschen über ihre recht unscheinbare Zweitgestalt hinwegzukommen, die sie sich mit mir teilt.

„Hi Tekla.“, flüstert sie. Auch sie weiß, dass meine Eltern vermutlich schon vor sich hin schnarchen. „Hast du noch die Bücher gefunden? Flora und Juli machen mich noch wahnsinnig.“

Ich nicke und komme kurze Zeit später mit den alten Sternenschweifbüchern aus meinem Zimmer zurück. Ich hatte sie meinen kleinen Cousinen schon ewig versprochen, es aber irgendwie immer vergessen. Deshalb ist Tante Lilo wahrscheinlich auch selber nach oben gekommen.

Sobald ihre Einhornmähne aber durch die Tür verschwunden ist, beginnt mein Plan.

Zimmertür zu. Kissen unter die Decke stopfen. Karton raus. Umziehen.

Schnell und fahrig schlüpfe ich in die recht enge Jogginghose und den blauen Hoodie. Dazu eine alte Sturmmaske aus den Zeiten, in denen wir uns das Skifahren noch leisten konnten. Atemlos betrachte ich mich im Spiegel an meiner Tür. Ich sehe nicht mehr aus, wie ich selber. Gut so. Meine Schuhe ersetze ich durch meine alten Chucks, aus denen ich die Sohle geschnitten habe.

Jetzt kommt der schwierigste Teil. Am offenen Fenster atme ich die kühle Nachtluft ein, bevor ich meine Handflächen, Füße und Spinndrüsen teilverwandle. Es hat Jahre gedauert, das zu lernen, aber jetzt fühle ich mich bereit dazu. Und so dumm und bekloppt es klingen mag, ich bin bereit dazu, Münchens Spiderwoman zu werden.

Meine Hände halten mühelos an der Fassade, als ich an ihr herabklettere. Zum Glück wohnen wir recht zentral. Aber als ich in einer dunklen Seitengasse an einer Feuerschutztreppe hänge, wird mir plötzlich eines klar. 

1. In Münchens Innenstadt ist am Freitagabend verdammt viel los.

2. Wie zur Hölle erkennt man einen Verbrecher?

Was hatte ich mir denn erhofft? Plötzlich einen Schwerverbrecher zu finden? Nachdenklich klettere ich in Richtung eines Clubs. Erfahrungsgemäß ist hier mehr los. Mit klopfendem Herzen kauere ich mich hinter einen Vorsprung des Nachbarhauses, von dem aus ich die lange Schlange vor dem vor Bass wummernden Gebäude gut sehen kann. Das erste Mal frage ich mich, wie Spiderman bitte keinen verdammten Oberarmmuskelkater hat. Meine Arme brennen jedenfalls höllisch.

Eine halbe Stunde pfeift mir der kalte Wind um die Ohren, bis sich etwas regt. Allerdings nicht in der Schlange, sondern direkt unter mir.

„Lass das!“ Eine Frau. Nicht so viel älter als ich. Vielleicht 18 oder 19. Vor ihr ein merklich besoffener Typ.

„Ach komm. Hab dich doch nicht so.“ Er versucht, sie am Rock zu packen, aber sie weicht zurück.

„Fass. Mich. Nicht. An.“

„Du bist doch schon angezogen wie eine Nutte. Wie viel willst du? Fünf? Zehn?“

Das reicht mir. Wie ich es geübt habe, hänge ich einen meiner Spinnfäden an meinen Vorsprung und lasse mich wie an einer Feuerwehrstange herunterrutschen. Genau zwischen die beiden.

Der Mann starrt mich so verdattert an, dass er gar keine Zeit hat zu reagieren. Blitzschnell habe ich ihn mit einem meiner Fäden die Hände auf den Rücken gebunden. Dass mir die Hände zittern wie bescheuert und die Knie schlottern, sieht er zum Glück nicht.

Mit einem beherzten Tritt in die Kniekehlen, den ich mir so nie zugetraut hätte, zwinge ich ihn zum Knien.

„Was zum-?!“ Das Mädchen starrt mich fassungslos an. Vermutlich denkt sie gerade, dass sie irgendwelche Partypillen bekommen hätte.

„Es heißt Danke.“, sage ich nur.

Mittlerweile ist nämlich auch die Schlange auf uns aufmerksam geworden.

„Ist das n Spidermancosplay?“, fragt einer der Anstehenden lachend.

Zeit zu verschwinden. Schnell hechte ich in meine Seitengasse zurück, kann aber aus dem Augenwinkel noch erkennen, wie mir mehrere Handykameras folgen. Scheiße. Nächstes Mal muss ich schneller sein.

Auf einem Hausdach in der Nähe lasse ich mich auf den Rücken sinken. Die Ziegel drücken kalt gegen meinen Rücken und mein Atem wird wieder ruhiger. Habe ich das grade wirklich gemacht? Habe ich grade wirklich den Spiderman gemacht? Ein breites Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. So ein Gefühl, hat noch keine Eins in Mathe in mir ausgelöst. Kein gewonnener Lesepreis. Nein. Dieses Gefühl kommt von ganz wo anders. So gut habe ich mich vermutlich selten gefühlt.

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