Als die Welt zerbricht
Aber vermutlich auch selten so miserabel. Meine Arme brennen und ich habe Angst, beim Frühstück in meinem Porridge einzuschlafen. Müde schleppe ich mich ins Auto und wache erst auf, als wir vor dem großen Einfamilienhaus von Sarahs Familie halten und sie ins Auto steigt.
Wenig später ziehen wir durch die Gänge des Ikeas und machen dumme Witze über die Namen der Möbel.
„Wie wars eigentlich gestern?“, frage ich, während Papa prüfend die Schubladen eines Nachttischs öffnet und schließt und Sarah und ich danebenstehen, wie bestellt und nicht abgeholt.
Sarah zieht eine Grimasse. „Echt ned geil. Ging 24/7 nur um Jungs und wer auf wen steht. Nächstes Mal lieber wieder Netflix schauen.“
Ich nicke. „Haben sie wieder gelästert?“
„Klar. Aber nicht über dich. Scheint mittlerweile out zu sein.“ Sie zuckt die Schultern, bevor sie mir den Arm um die Schultern legt und mich zu sämtlichen Kleiderschränken schleift.
Geschlagene vier Stunden, eine Portion Kartoffelpüree, ein unfreiwilliges Nickerchen in einem der Betten und viel zu viele Möbel später wuchte ich Mamas Tasche mit dem Kleinkram in den Kofferraum. Papa schiebt das Papppaket mit dem Nachttisch daneben. Sofa und mein Schrank kommen per Lieferdienst. Zugegeben bin ich ganz zu zufrieden mit unserer Ausbeute. Mein Schrank ist dunkel und wird hoffentlich gut in mein Zimmer passen und auf das Sofa passen wir endlich vernünftig alle zusammen. Kein abendliches Tetrisspielen mit meinen Eltern mehr nötig, obwohl ich das zugegeben vermutlich vermissen werde.
„Heimwärts geht’s!“ Mama wirft den Kofferraum zu. Einkaufen macht sie immer glücklich. Da ist sie das hundertprozentige Klischee.
Auf der Rückbank lehne ich meinen Kopf sofort wieder gegen die Tür. Keine zehn Sekunden später bin ich wieder eingeschlafen.
Etwas lässt mich hochschrecken. Keine Sekunde später gibt es einen lauten Knall. Ein Scheppern. Splitterndes Glas. Metall quietscht. Ein Schrei. Krachen. Hupen. Mehr Schreie. Dann zerbricht die Welt. Sie steht Kopf. Mein Kopf schreit.
Verzweifelt löse ich meinen Gurt. Heftig knalle ich auf das Dach. Sarah! Alles steht Kopf. Ihre Augen sind geschlossen. Ihr Gurt löst sich nicht. Verzweifelt reiße ich an dem schwarzen Band, bis ich sie herausziehen kann. Ich kann mich kaum bewegen. Irgendwie finde ich einen Weg aus dem Auto. Mit Spinnenkräften ziehe ich meine Freundin auf die Straße. Rauch. Feuer. Sirenen. Die Feuerwehr. Ein Krankenwagen kommt angefahren.
Und plötzlich ist dieses Gesicht da. Ich bin auf der Straße zusammengebrochen. Aus dem blauen Auto, das fest mit dem silbernen Auto meiner Kindheit verkeilt ist, klettert ein Mann. Er schwankt. Blutunterlaufene Augen. Eine Narbe über die Oberlippe. Graue Haare. Dann ist er weg.
Verzweifelt rüttele ich an meiner besten Freundin. Wo sind Mama und Papa?! Dann fällt mein Blick auf das Auto, das die Feuerwehr gerade wieder aufrichtet. Oder viel mehr die Reste davon. Mehr sehe ich nicht, weil ein Sanitäter mich hochhebt. Aber mehr muss ich auch nicht sehen.
Tante Lilo weint. Ich habe Tante Lilo nie weinen sehen. Sie sitzt neben meinem Bett. Zuhause. Ich musste nicht im Krankenhaus bleiben. Sarah schon. Aber ich weine mehr als Tante Lilo. So lange, bis wir beide nicht mehr weinen können. Die Welt ist falsch und kaputt. Wie ein Fiebertraum.
Mama und Papa sind noch auf der Straße gestorben. Der Mann mit der Narbe ist geflohen. Die Polizei sagt, dass er wahrscheinlich betrunken war.
Ich würde mir wünschen, dass ich ihn töten könnte. Ich will ihm das antun, was er uns angetan hat. Ich will, dass er den gleichen Schmerz spürt, wie der, der gerade Löcher in mein Herz frisst. Es fühlt sich genau so an. Ich habe immer gedacht, das wäre nur so eine Redewendung, aber es tut wirklich weh. Als würde ich mir den Arm brechen. Nur tausend Mal schlimmer.
Es passiert alles so schnell, dass ich es nicht fassen kann. Zu schnell verschwinden die Särge in der Erde. Zu schnell zieht Oma zu mir nach oben, damit ich nicht alleine sein muss. Und zu schnell gibt die Polizei die Suche auf. Zu schnell.
Stumm starre ich an die dunkle Decke meines Zimmers, bevor ich entschlossen die Decke zurückschlage. Tag 18. Ich mache einen Strich auf das Stück Papier an meinem neuen Kleiderschrank, bevor ich aus dem Fenster klettere. Durch die Gassen in die Innenstadt. Natürlich machen Videos von meinem blauen Pulli die Runde auf Social Media. Und irgendwie bin ich tatsächlich berühmt geworden. Jede Nacht habe ich bisher nach dem Narbenmann gesucht, bin aber erfolglos geblieben. Stattdessen habe ich Diebstähle verhindert, sexuelle Übergriffe verhindert und das, was man von einem Helden erwarten würde. Es ist surreal. Still husche ich durch die Gassen.
Früher wollte ich immer eine Heldin sein. Nicht umsonst habe ich jahrelang meine Teilverwandlungen geübt, aber jetzt gerade will ich nichts mehr, als den Narbenmann zu finden. Mich zu rächen.
Stimmen lassen mich langsamer werden. Ich spüre, wie sich meine Nackenhaare aufstellen.
„Ich hab nix zu Saufen! Ich bin 16, du Arsch!“
Ich fahre herum. Die Stimme kenne ich. Das ist Sina!
„Aber Geld wirst doch wohl haben!“
Graue Haare. Ein Mann steht vor meiner Klassenkameradin, die sich ängstlich an eine Hauswand gedrückt hat.
„Nein!“ Sie weint fast.
Etwas in mir will Sina für ihre Schikanen bezahlen lassen. Etwas in mir will einfach im Schatten stehen bleiben. Aber schnell schüttele ich den Gedanken ab. Fast lautlos husche ich nach vorne. Ehe der Mann reagieren kann, hat er ein festes Netz aus meinen Spinnfäden um die Arme. Ein fester Tritt meinerseits schickt ihn zu Boden.
„Wer-?“ Sina weicht die Wand entlang zurück.
Schnell will ich auf den Boden schauen, aber zu spät. Unsere Blicke haben sich schon getroffen. Verdammte Scheiße.
„Katr-?!“ Ich lege einen Finger auf meine Lippen. Sie verstummt.
Mit einem Ruck drehe ich den Mann auf den Rücken.
Meine Welt bricht zusammen. Schon wieder.
Blutunterlaufene Augen. Die Narbe.
Vor mir liegt der Mörder meiner Eltern.
„Nicht…“, stammelt dieser.
Mein Kopf hat einen Kurzschluss. Noch bevor ich denken kann, habe ich mein altes Pfadfindermesser aus meiner Tasche gezogen und halte es ihm an die Kehle. Hinter mir höre ich Sinas erstickten Aufschrei.
„Mörder.“, zische ich.
„Nicht… Ich… wollte das nicht. Ich bin kein-“
„Mörder!“, fauche ich lauter.
Ein Tropfen Blut fließt über die Klinge meines Messers. Das leuchtende Rot lässt mich zurückschrecken.
„Ich war betrunken. Das sollte-“
„Ka-. Nein! Nicht!“ Sinas Stimme holt mich aus meinem Kurzschluss.
Zitternd weiche ich vor dem Mann zurück. Stehe auf. Taumele rückwärts. Sina hält mich fest.
Etwas in mir will diesen Mann nach wie vor Schmerzen spüren lassen. Ich könnte Rache nehmen. Hier und jetzt. Tränen fließen mir über die Wangen. Ich könnte es beenden. Hier und jetzt.
Doch ich bin nicht Spiderwoman. Ich bin keine Heldin. Ich bin nur Katrin. Die Katrin aus der ersten Reihe. Die mit der Essstörung. Plötzlich macht meine zweite Gestalt mich klein und verletzlich. Spinnen sind fragil. Ich bin zerbrechlich. Verwundbar. Keine Heldin. Mit Sinas Handy rufe ich die Polizei.
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