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In Ziona tobte der Krieg der des Menschen ureigensten Instinkte – Kampf oder Flucht. Doch wie kämpfen? Wohin flüchten? Keinen dieser Wege stand ihr offen und damit fand die Jüdin sich gefangen zwischen diesen beiden Trieben, unfähig einem davon zu folgen. Stattdessen blieb ihr lediglich – nichts. Ein simples Ergeben gegenüber dem Unabwendbaren. Als sähe Ziona vor sich ihren König in einem geschickt gesponnenen Netz gefesselt. Kein Ausweg. Man schritt dem längst festgeschriebenen Ende mit jedem weiteren Zug entgegen.
Den Blick hinaus in die Finsternis gerichtet, kreisten ihre Gedanken immer wieder um dieselben Fragen.
Was wussten sie? Was ahnten sie nur? Hielt man sie für eine Mörderin oder bloß eine Komplizin oder – oder gar für unschuldig an der Tat? Vielleicht war sie nicht die Einzige in der Nähe gewesen?
Lächerlich. Selbstverständlich verdächtigte man sie – und völlig unabhängig davon, ob man sie für schuldig befinden würde, war sie verloren. Einmal in den Klauen der Gestapo, würde man sie wohl kaum wieder laufen lassen. Auf ihre Gnade oder Glück durfte sie sich nicht verlassen. Ihren letzten sicheren Ausweg aus der Situation hatte Teufel wenige Minuten zuvor an sich genommen.
Die SS-Männer dachten natürlich nicht daran, ihr die quälende Unsicherheit zu nehmen, während der Wagen durch die finsteren Straßen Wiens rollte, bis er schließlich beim ehemaligen Hotel Métropole zum Stehen kam. Bloß eines war sich Ziona Aschkenasy schmerzlich bewusst: Für viele bedeutete dieser Ort den Vorhof zur Hölle, den sie nicht wieder verließen – oder lediglich, um woanders ihr Leben zu verlieren. So manche Mitglieder des Roten Turms hatte dieses Monster bereits gefressen und alleine ihre Überreste wieder ausgespuckt.
Wer Gestapo und Lager überlebte, hütete sich, auch nur ein Wort darüber zu sprechen, was dort drinnen vor sich ging – aus Scham, aus Schock, aus Angst. Wagte es jemand doch, holten sie ihn noch einmal. Den Herren in ihren Anzügen und Uniformen gefiel die Wahrheit über sich selbst nicht. Deshalb hatten sie immerhin die Lüge zu ihrer Weltordnung erhoben.
Mit einem innerlichen Schaudern blickte Ziona die Fassaden des historistischen Gebäudes hoch, als sähe es sie zum ersten Mal wie an jenem Herbsttag vor über zwanzig Jahren, an dem sie mit ihrem Vater den Franz-Josephs-Kai entlang spaziert war. Die elegant gekleideten Gäste, die es betraten und verließen und mit ihren teuren Karosserien vorfuhren, hatten sie ebenso fasziniert wie das Hotel selbst. Ohne ganz zu verstehen, wovon er sprach, hatte sie den Erläuterungen Leopold Herz' gelauscht, doch noch heute erinnerte sie sich an jedes einzelne Wort über die Bauelemente, den Stil der italienischen Renaissance.
„Mitkommen." Rottenführer Schützmann wirkte nun keinesfalls mehr unbeholfen oder gar freundlich. In seinen Augen zeichnete sich pure Abscheu ab, befeuert dadurch, dass er ihr – einer Jüdin – geglaubt hatte, ihre Identität nicht erkannt hatte, sie vielleicht auf den ersten Blick gar hübsch gefunden hatte. Und so eine Unerhörtheit durfte für einen wahren Arier, einen strammen SS-Mann nicht sein. Wie leicht erhielt der fragile Glaube an ihre Übermacht doch Risse.
Ziona folgte Teufel und Schützmann durch den Lieferanteneingang ins Gebäude, das unter diesen Umständen recht wenig an seinen alten Glanz erinnerte. Wieso waren sie überhaupt hier in der Salztorgasse und nicht am Morzinplatz? Verdiente jemand wie sie es nicht, das Métropole durch den Säulengang vorne zu betreten?
So verstohlen; fast als wollten sie ihre Verbrechen verstecken, schoss es ihr durch den Kopf, als sie noch einen letzten Blick zurückwarf, auf das, was man Freiheit nennen hätte können.
Während sie die Treppen erklommen, dämmerte ihr, warum man sie – und wahrscheinlich unzählige davor – ausgerechnet auf diesem Weg ins Gestapo-Hauptquartier brachte. Der Grund war so simpel wie erschreckend: Die Gitter, die sie bis nach oben begleiteten. Sie erstickten jeden vagen Plan, sich durch einen Sprung in die Tiefe ihrer Gewalt zu entziehen, im Keim.
Kurzerhand ließ Teufel sie beide im zweiten Stock stehen und verschwand irgendwo in dem riesigen Gebäude. Wohin oder was jetzt folgen würde, konnte die Ärztin nur erahnen. Der Rottenführer stand steif neben ihr, sie nicht eines einzigen Blickes würdigend und zweifellos dennoch bereit sofort zu reagieren, sollte sie etwas Unüberlegtes tun. Ziona konnte die Anspannung an seinem fest aufeinandergepressten Kiefer erkennen.
Doch sie wandte sich bald ab, starrte stattdessen auf das Muster der Tapete. Seltsamerweise ließ sie nichts davon bemerken, dass sie sich nicht mehr in dem edlen Hotel befand, für das sie angefertigt worden war, dass in den Zimmern heute Mörder an Schreibtischen saßen, die von dort aus Leid und Tod steuerten. Die Erschöpfung fraß sich jeden Augenblick weiter unaufhaltsam durch ihren Körper. All die schlaflosen Nächte und die Geschehnisse der heutigen lasteten auf ihr, ließen ihre Glieder schwer wie Blei erscheinen. Nichtsdestotrotz würde sie wohl keine Sekunde schlafen können. Nicht hier. Nicht in einer Zelle. Wenn man ihr das überhaupt gewähren würde. Vielleicht führte sie sie ja gleich weiter zum Verhör.
Eigentlich hätte der Gedanke Ziona erschrecken müssen. Stattdessen empfand sie beinahe Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigenen Schicksal. Unendliche Leere.
Nach einer kleinen Ewigkeit kehrte Teufel mit einem eindeutig übelgelaunten fülligen Gestapo-Beamten zurück, der so wirkte, als wäre er jetzt überall sonst lieber gewesen. Neben dem Hitlerbart über seiner schmalen Oberlippe zeichnete sich die Andeutung eines Bartschattens ab, seine Krawatte schien wie notdürftig zurechtgerückt und das Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet waren, spannte über seinem massigen Bauch. Eine fleischgewordene Karikatur des Kapitalisten, wie man sie in der Roten Fahne fand. In Anbetracht dessen, wie viele andere anständige Menschen hungerten, war der Anblick beinahe abstoßend.
Als wolle man ihm einen Bären aufbinden, taxierte er Ziona von oben bis unten.
„Das Mensch? Das ist ein schlechter Scherz, nicht wahr?"
„Keineswegs. Weitere Instanzen wurden bereits informiert – sie kümmern sich um den Ort des Geschehens. Aber ich dachte, sie hier bringe ich Ihnen persönlich vorbei, Schacht...richtig? Sie verstehen, ...", der Hauptsturmführer senkte die Stimme und entzog die folgenden Worte somit Zionas Gehör. Doch mehr brauchte es nicht, dass sie begriff, dass sie durchaus nicht nur wegen des fehlenden Sterns und der Missachtung der Ausgangssperre verhaftet worden war. Man hielt sie für die Mörderin Carl Gustav Macaleks – oder zumindest eine Schlüsselfigur in diesem Fall. Jetzt bestand daran nicht mehr der geringste Zweifel.
Das runde Gesicht des Mannes verlor an Bärbeißigkeit und hellte sich auf wie das eines Menschen, dessen scheußlichster Abend mit einem Schlag zum besten seines Lebens geworden war.
„Na, da wird der Sturmbannführer aber Augen machen." Er grinste, während er sich Ziona noch einmal näher besah, als wäre ihre Verhaftung sein Verdienst alleine. Rauch- und alkoholgeschwängerter Atem schlug ihr entgegen, doch sie zwang sich, nicht das Gesicht zu verziehen. Dass er von beidem reichlich, wenn nicht viel zu viel konsumierte, sah man ihm deutlich an.
„Schad drum, eigentlich, nicht wahr? Fesche Katz."
Ziona drehte sich der Magen um.
„Jüdin", merkte Teufel nur ungerührt von Schachts Geplauder an.
„Ah was?" Der beleibte Gestapo-Beamte blinzelte verdutzt. „Na ja, können's doch nicht alle ausschauen wie auf den Plakaten. Dann hätten wir ja praktisch keine Arbeit mehr, nicht wahr?"
Sein schallendes Gelächter hallte einsam durch den verlassenen Flur, ohne dass Schützmann oder Teufel mit einstimmten.
Schacht verstummte. Die drei verabschiedeten sich halbwegs förmlich – zumindest die SS-Männer taten es, ehe der Beamte Ziona mit sich schleifte. Andernfalls, so beschlich sie das merkwürdige Gefühl, hätten ihre Beine nicht gehorcht.
„Pff, Piefken – alle einen Stock im Arsch", murmelte er vor sich hin.
In ihrem Rücken spürte die Jüdin nach wie vor Schützmanns Blicke, die sich in sie bohrten. Immerhin war sie die Verkörperung seines Versagens.
Zu dieser Stunde waren die meisten Büros im Métropole vermutlich verwaist. Dementsprechend gespenstisch still war es in dem Gebäude. Allerdings verhinderte das nicht einen reibungslosen Ablauf aller Formalitäten.
Ohne anzuklopfen, betrat er mit Ziona eines der Zimmer.
„Ah, ein neuer Gast?" Gräuliche Augen, die hinter dicken Brillengläsern hervorlugten, musterten sie eingehend, gerade so als wäre sie ein kurioser Gegenstand, ein Kunstobjekt – oder Objekt seiner Kunst?
Mit einem aufsteigenden Gefühl der Flauheit erwiderte Ziona seinen Blick, was den Mann den Kopf zur Seite neigen ließ.
„Oder nur Ihre neuste Eroberung?", setzte er mit seiner Reibeisenstimme nach, die vielleicht einen Hauch von Amüsement verriet, vielleicht aber auch nicht.
Schachts Grinsen dagegen war deutlicher einzuordnen. „Ab heute Gast in unserm schönen Hotel, mein lieber Behan."
Man hätte meinen können, diese Botschaft erfreue den Mann, so wie er nun die Brille auf seiner Adlernase zurechtrückte und erneut seine Blicke über ihr Gesicht wandern ließ. Seine kleinen Augen leuchteten, als fände er daran eine morbide Freude, die Ziona nicht verstand.
Was hatte er vor? Begann hier bereits die Hölle? Sollte er sie verhören? Oder gar schlimmeres?
„Na los, hopp hopp. Ist ja schon spät genug", knurrte Schacht. Als sie sich nicht regte, schob er die Jüdin grob durch den Raum. Ihr Kopf berührte eisiges Metall.
Angst kämpfte sich durch ihre Taubheit an die Oberfläche. Unwillkürlich wich sie davor zurück, als handle es sich dabei um ein Instrument des Todes – und wer sagte, dass dem nicht so war? Erschaudernd zuckten ihre Blicke wieder zu Behan, der die Szene verzückt beobachtete, als fände sie dort eine Antwort, was man mit ihr vorhatte.
In Schacht dagegen schien die Ungeduld zu wachsen. „Stell dich nicht so an. Die Bilder brauchen wir heute noch."
Bilder?
Erst als sie die Kamera erkannte, hinter der sich Behan positioniert hatte, verstand sie. Die waren vermutlich für ihre Akte bestimmt.
Ziona überwand sich, sich von der Metallstange in die gewünschte Position zwingen zu lassen.
Blitz.
Ihr Profil wurde zum Motiv des Fotografen, während Schacht ihm nun – zweifellos, um Eindruck zu schinden – breit von ihrer spektakulären Verhaftung erzählte. So als wäre er selbst in irgendeiner Weise daran beteiligt gewesen. Was hatte er schon gemacht außer zufällig noch im Haus zu sein? Nichts, worauf dieser shmok sich etwas einbilden kann.
Blitz.
Drehen. Jetzt halbseitig.
Blitz.
„Sehr schön."
„Meine Güte, Sie reden ja als hätten Sie was Anständiges vor der Linse, keinen Häftling. Ich versteh nicht, was Sie daran finden. An ihrer Stelle würde ich lieber Fräuleins in der neusten Bademode ablichten."
Behan zuckte mit den Schultern.
„Sehen Sie, Hauptscharführer, es ist ganz einfach. Mir wird hier ein Privileg zuteil. Bei mir finden sich alle Volkschädlinge. Kleine Verbrecher bis zu unseren größten inneren Feinden. Und im Gegensatz zu anderen weiß ich, dass meine Fotografien von ihnen etwas ganz besonderes sind."
Der füllige Gestapo-Beamte sah sein Gegenüber fragend an.
„Ihre letzten. Ist das nicht etwas Faszinierendes? Die letzten Bilder, die letzten Zeugnisse ihrer Existenz."
Blitz.
„Ja, vielleicht werden einige meiner Fotografien sogar eines Tages einen besonderen Wert haben und im Museum ausgestellt. Als Abbildungen der letzten Juden, Kommunisten, Bibelwürmer und des ganzen anderen Gesindels."
Die Lichter schienen sich durch Zionas Netzhaut zu brennen, hindurch bis in ihr Gehirn.
Blitz.
„Na, wenn Sie meinen. Ich bleib bei meiner Arbeit im Verhörraum. Ist doch unterhaltsam genug, nicht wahr?" Schachts zu lautes Lachen dröhnte durch den Raum.
„Jetzt von vorne", ordnet Behan an.
Wieder wenden. Der Blick direkt in die Kamera. Auf den Mann dahinter, den Beamten neben ihm. Für einen Moment hob Ziona trotzig das Kinn, als wolle sie den beiden signalisieren, dass sie nicht gedachte, es so enden zu lassen. Ihre letzten Fotos, ja, in ihrem Fall vielleicht tatsächlich die allerletzten Zeugnisse ihrer Existenz, würden nicht die in ihrer Gestapo-Akte sein. Und noch mehr als das, sie würden entstehen, wenn diese Männer längst ihr gerechtes Ende gefunden hatten.
Wenn ich nach diesem scheußlichen Krieg wieder einmal in eine Kamera sehe, werde ich an dich denken. Vielleicht solltest du überlegen, wen du dir als deinen letzten Fotografen wünscht.
„Wir sind hier fertig", verkündete Behan zufrieden, als spräche er von Zionas Leben.
Letztlich war bloß seine Arbeit so gut wie getan, Schachts schien erst zu beginnen und diese Nacht damit für sie kein Ende zu nehmen. Mit sogar noch größerer Rebellion ihres Körpers folgte sie ihm durch das luxuriöse Gebäude in einen Raum, der vermutlich einmal eines der Hotelzimmer gewesen war und nun als schmuckloses Büro diente.
Schnaufend ließ sich der Gestapo-Beamte hinter seinem Schreibtisch nieder. Obwohl der Stuhl davor verlockend schien, verharrte Ziona daneben.
„Setzen. Oder ist Ihnen das nicht bequem genug?"
Ziona konnte sich selbst nicht erklären, warum es sie solche Überwindung kostete, sich auf den kleinen Sessel fallen zu lassen, nur, dass es einiger Augenblicke bedurfte, bis sie der Forderung endlich nachgekommen war.
Jetzt, da er nicht mehr Prahlen konnte, starrte Schacht eher lustlos auf die Akte vor sich. Ihre.
„Sie heißen also", sein Blick huschte zu ihrer Kennkarte, „Za ... Zin ... Z – i – o – n – a? Aschkenasy."
Er spuckte den Namen aus wie ein bitteres Gift, etwas durch und durch Widerliches.
Ihr Mund öffnete sich in dem Versuch, etwas zu erwidern, seine falsche Aussprache zu korrigieren, doch Zionas Stimme versagte ihr den Dienst. Nicht einmal ein simples „Ja" wollte ihr über die Lippen kommen. Irritiert und verschämt presste sie sie wieder aufeinander.
Der Gestapo-Beamte runzelte die Stirn, ehe er geräuschvoll ausatmete und kopfschüttelnd notierte. „Juden und ihre Namen ..."
All das schien eine Ewigkeit zu beanspruchen. Erst das handschriftliche Ausfüllen, dann das Tippen auf der Schreibmaschine. Buchstabe für Buchstabe. Klack klack – klack – – – klack klack ...
Das unregelmäßige Geräusch trieb Ziona halb in den Wahnsinn und während sie unruhig mit dem Bein wippte und sich immer wieder fragte, wieso sie überhaupt noch hier war, kam ihr der merkwürdige Gedanke, dass es sich hier vielleicht um eine ganz makabre Form von Folter handeln könnte.
Es war surreal. Die Uhr schlug zwölf. Draußen vor dem Fenster lag das nächtliche Wien und sie saß in einem ehemaligen Luxushotel, heute Folterzentrale der Gestapo, einem Beamten gegenüber, der wie ein Anfänger mit zwei Fingern auf eine Schreibmaschine einhackte, um vermutlich lauter kompromittierende Dinge festzuhalten, die sie dem Tod näherbrächten. Und nichts, nichts in diesem viel zu gewöhnlichen Raum, ließ darauf schließen, welches Schicksal sie erwartete.
Ziona blickte zum Nachthimmel hinaus. Ob sie ihn noch einmal sehen würde?
Dachte sie daran, was ihr alles angelastet werden mochte, bezweifelte sie es. Sie war Jüdin, Widerstandskämpferin, Kommunistin, vielleicht durch ihre Krankheit in deren Augen sogar noch verabscheuter, als jene, die sie wagten „lebensunwert" zu betiteln. Und wenn die Gestapo nur eines davon wusste, war damit ihr Todesurteil schon so gut wie unterzeichnet.
Das Klackern brach unvermittelt ab, Schacht erhob sich wortlos und schleifte sie in der ihr bereits merkwürdig vertrauten Art mit sich. Wieder die Treppen hinunter. Ein Abstieg in die Hölle.
Obwohl es doch eigentlich ihre Kerkermeister wären, die dorthin verbannt werden müssten. Ohne Wiederkehr. Solche Seelen konnten nicht vom Bösen gereinigt werden.
Vor einer schweren Tür blieb der Beamte stehen – ihre Zelle? Jetzt wirklich die Folterkammer, in der sie verhört werden sollte?
Ihre Fingernägel krallten sich in ihre Handflächen, schickten einen stechenden Schmerz durch sie hindurch, doch zumindest verhinderte sie damit jede weitere sichtbare Reaktion, die ihre überspannten Nerven und ihre Angst verraten hätte.
Mit einem widerlichen Quietschen öffnete Schacht die Tür. Dahinter Finsternis, ein Gitter, die Umrisse eines Kübels und einer Pritsche.
„Los weiter."
Ziona rührte sich nicht.
Ein Poltern aus der Zelle nebenan ertönte bedrohlich und fremd, als wäre das Haus soeben zum Leben erwacht.
„Lassen mich endlich mit jemanden sprechen! Ich bin unschuldig!"
Durch die dicke Tür erklang die Stimme bloß dumpf und verzerrt. Männlich, eventuell etwas jünger? Ziona konnte sie nicht genau zuordnen.
Schacht schlug ein paar Mal gegen das Metall. „Ruhe, 'zefix!"
„Bitte! Ich hab' nichts getan!"
Das genügte bereits, dass dem Beamten der Geduldsfaden riss. „Schluss mit dem Gejammer, du roter Hund. Wenn'st deinem Referenten beim Verhör noch was sagen können willst! Oder magst du gleich weiter nach Mauthausen? Da sind's nimmer so human wie wir."
Mit gerötetem Gesicht wandte er sich wieder Ziona zu und fixierte sie mit einem Blick, als wolle er sie für die Fehler ihres Mithäftlings bezahlen lassen. „Und du – beweg dich endlich, verdammt!"
Ehe sie der Aufforderung nachkommen hätte können, traf sie seine Pranke an der Wange. Die Wucht des Schlags ließ sie rückwärts in den finsteren Raum taumeln und ungelenk auf dem Boden landen.
„Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt in unserem Hotel." Die gehässigen Worte des Gestapo-Beamten und das Grinsen in seinem feisten Gesicht waren das letzte, was sie wahrnahm, bevor Gitter und Tür lautstark geschlossen wurden. Schritte. Dann Stille.
Nicht einmal der Zellennachbar gab noch einen Mucks von sich. Kein Schlagen an die Tür, kein Rufen, nicht das kleinste Anzeichen seiner Existenz. Da war nichts außer dem Klingeln in Zionas linkem Ohr, das sie Schachts Ohrfeige zu verdanken hatte, ihrem eigenen angestrengten Atem und dem Schmerz, der seltsam verzögert einsetzte.
Sie rührte sich nicht und starrte in die Leere. Viel gab es im Dunklen ohnehin nicht zu sehen, außer Umrisse von Eimer, Wand und Pritsche. Vielleicht wollte sie gar nicht mehr von dieser Zelle kennen – wer wusste schon, was Licht in ihr noch zu Tage fördern könnte.
Zum ersten Mal stand alles still. In ihrem sich ewig drehenden, alles zerlegenden Verstand herrschte das Nichts. Sie tat nichts. Sah nichts. Spürte nichts. Dachte nichts.
Nicht denken, bedeutete nicht zu leben, oder nicht? Vielleicht dachte sie auch doch etwas, ja, vielleicht saß sie nicht einmal still da, sondern ihr Körper befand sich in stetiger Bewegung, nur bemerkte sie davon nichts.
Du kennst das, erinnerte Ziona sich. Ja, in ihrer Kindheit hatte sie das doch schon erlebt. Überforderung. Ein Streik von Körper und Geist. Damals hatte sie sich unter der Bettdecke verkrochen und dort gewartet bis es vorüber war. Ihr Vater meinte, es läge an ihren nie ruhenden Gedanken, die alles um sie analysieren und ins Kleinste sezieren mussten.
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Warten. Minuten. Stunden. Tage. Wer wusste das schon.
Doch irgendwann spürte sie, wie sie langsam zurückkehrte und damit ihr klarer Verstand.
Sie haben mich in der Nähe von Macaleks Leiche gefunden und verhaftet. Schützmann und Teufel – furchtbarer Name, aber wie passend für ihn. Der Mann, der meine Daten aufgenommen hat, heißt Schacht. Der Fotograf Behan. Hier befinde ich mich im Hotel Métropole, in einem Raum, der ursprünglich sicher keine Zelle war.
Mit steifen Beinen erhob sie sich. Gitter. Eimer. Pritsche. Also Zimmer, Toilette, Bett. Wie nett.
Doch etwas sagte ihr, dass das hier wohl eine Weile ihr Zuhause sein sollte und es nicht schaden könnte, es besser kennenzulernen. Schließlich gab es ihr hier nichts anderes zu tun.
Mit dieser Beschäftigung konnte sie sich aber allenfalls ein paar Minuten aufhalten, denn außer in den in die Wand geritzten Botschaften, blieb nicht viel zu inspizieren. Es waren hauptsächlich schmale Striche. Die meisten nicht einmal tief, vermutlich nur mühsam mit dem Nagel in den abblätternden Verputz gezogen.
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Jemand hatte hier gezählt. Was? Die Tage, die er hierbleiben musste?
Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, dasselbe zu tun, selbst, wenn sie nicht wusste, wie lange sie bereits gefangen war.
Ziona suchte sich eine freie Stelle an einem Eck der Mauer und begann – ein Strich.
Große Ergebnisse brachte die nähere Betrachtung der Zelle allerdings nicht. Der einzige sichere Ausweg war der durch die Tür. Nein, der einzige. Sonst gab es lediglich einen vergitterten Lüftungsschacht, durch den gerade einmal ein Kind gepasst hätte und der scheinbar noch kältere Luft in den Raum eindringen ließ, als sie es hier ohnehin schon war. Ein Ausbruch war also undenkbar. Nicht weiter überraschend.
Die einzigen Möglichkeiten würden sich wohl ergeben, wenn man sie zum Verhör holte. Wenn überhaupt. Eigentlich war doch der bloße Gedanke an Flucht albern.
Plötzlich drang ein markerschütternder Lärm durch den Lüftungsschacht in ihre Zelle. Erschrocken wich Ziona von der Wand zurück und stieß gegen das Gitter. Was war das?
Beinahe wollte sie glauben, es wäre ein Streich gewesen, den ihr ihre Nerven spielten, als Stille einkehrte.
Aber dann wieder. Noch lauter, greller.
Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und Ziona biss die Zähne fest aufeinander. Sie hätte sich gewünscht, nicht zu wissen, was es war, sich dieses Bewusstseins verweigern zu können, doch sie hatte trotz der Fremdheit des Lautes längst begriffen. Das war ein Mensch, so wenig menschlich er auch klingen mochte. Dieses immer wieder ertönende Brüllen kam aus dem tiefsten Inneren eines Mannes, der Todesqualen erlitt.
Es war das Grauenhafteste, das sie je gehört hatte.
Wie sie noch früh genug lernen sollte, zählte es zu den tagtäglichen Geräuschen dieses Abgrunds, dem sie nicht entkommen konnte. Ihr blieb nichts, als es die Hände an die Ohren gepresst zu ertragen, und zu warten, bis man sie endlich zum Verhör holen würde.
Aber das geschah nicht.
♜ ♜ ♜
Irgendwann wurde es in ihrer Zelle hell. Das Licht brannte ihr in den an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Doch kein Quietschen des Schlosses. Kein Verhör.
Sie zeichnete mit einem Finger unsichtbar ein Gedicht Rilkes in den Staub und Schmutz.
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Komisch, warum kam ihr ausgerechnet das in den Sinn?
Sie lief auf und ab. Der Raum durchmaß genau zehn Schritte längs, fünf in die Breite. Sie lief auf und ab, auf und ab. Niemand kam.
Irgendwann ließ sie sich erschöpft auf die Pritsche fallen, schirmte die Augen gegen das grelle Licht ab und versuchte zu schlafen. Nicht einmal Minuten schienen ihr zu vergehen, bis jemand an die Tür schlug.
„Aufstehen!" Sie gehorchte, obwohl ihr Körper nach Schlaf schrie. Wartete. Aber niemand holte sie zum Verhör.
So hätten Stunden, Tage, Wochen oder vielleicht auch Monate verstreichen können. Wie hätte Ziona das wissen sollen, wenn es weder Tag noch Nacht gab, sondern bloß Licht und manchmal, kurz, erlösende Finsternis? Mahlzeiten erhielt sie keine, also konnte sie nicht lange hier sein, selbst, wenn ihr schreiender Magen etwas anderes behauptete – oder etwa doch?
Vielleicht wollte man sie auch nicht befragen, sondern verhungern lassen.
Verdursten jedenfalls nicht, denn in dieser Hinsicht sorgte man für sie. Mit Wasser und einer bräunlichen dünnen Flüssigkeit, die womöglich Kaffee darstellen sollte. Aber nicht einmal damit gab man ihr einen Anhaltspunkt. Sie versuchte, die zeitlichen Abstände dazwischen zu zählen – ergebnislos. Zu unregelmäßig. Wie wahllos.
Nicht einmal die Schreie folgten einem System – möglicherweise folterte man hier ja Tag und Nacht.
Wie fleißig die Herren von der Gestapo doch sind.
Es war nicht weiter überraschend, dass der Strich in der Mauer der einzige blieb. Zusätzliche zu ziehen, hätte ihr bloß eine falsche Illusion von Sicherheit über den Verlauf der Zeit verschafft, der ihr längst entglitten war. Es gab lediglich ein vor der Zelle und ein darin – vielleicht irgendwann ein danach. Ein hell und dunkel. Ein laut und still.
Früher ein gebrülltes „Aufstehen!", wenn sie versuchte, sich wieder auf die Pritsche zu legen, jetzt nur noch der Blick durch das Guckloch an der Tür und ein kräftiges Schlagen gegen das Metall – man wusste, dass sie diese wortlose Sprache bereits verstand. Seit einer Weile nicht einmal mehr diese Form der Kommunikation, denn sie hatte die Versuche richtig zu schlafen endgültig aufgegeben. Wenn man es nicht bemerkte, dämmerte sie auf dem schmutzigen Boden sitzend kurz weg. Im Grunde glich es eher einer Ohnmacht. Doch es war keine Erholung.
Einiges blieb immer gleich: Müdigkeit, Hunger, Durst, Kälte.
Hinter den Wänden erklangen verschwommene Stimmen. Sie galten nicht ihr. Wie immer. Vielleicht sollte sie sich doch noch einmal auf die Pritsche legen. Dann könnte sie zumindest das vertraute „Aufstehen! Los!" wieder hören. Nicht, dass sie das Gebrüll der Männer hinter der Tür vermisste. Immerhin hörte sie es oft genug – was bedeutete dieses oft? – aber diesmal wäre es nicht an einen der anderen hier gerichtet, sondern an sie. Jemand sähe sie an, spräche mit ihr.
Kopfschüttelnd verwarf sie den Gedanken. Bei dem Versuch hätte sie ohnehin nur das vertraute Hämmern gegen die Tür zu hören bekommen.
„Ich möchte endlich mit einem zuständigen Beamten sprechen!", forderte ihr Zellennachbar. Wieder einmal.
Sieh es ein, sie werden dich nicht holen.
Genauso wenig wie sie selbst.
Seine nächsten Worte wurden von den Schreien erstickt, die durch den Lüftungsschacht in dem kleinen Raum widerhallten.
Niemand würde kommen. Niemand würde sie hier rausholen. Das hier war das Ende. Man ließ sie in einer schmutzigen eisigen Zelle zum scheußlichen Klang der Folter einsam verrotten. Und sie konnte rein gar nichts dagegen tun.
„Sakra!", fluchend rammte sie ihre Faust gegen die Mauer.
Ein grausames Stechen zuckte durch ihre Finger bis hinauf in ihre Hand und sie konnte nur mühsam, mit zusammengebissenen Zähnen einen Schmerzensschrei unterdrücken. Scharf ausatmend ließ sie sich zu Boden sinken.
Was hast du denn erwartet? Dass du ewig so weitermachen kannst, ohne dass sie dich erwischen?, schoss es ihr durch den Kopf. Immerhin hatte sie diesen Weg selbst gewählt.
Vor ihrem geistigen Auge erschien der Brief, den sie Monate zuvor erhalten hatte, als hätte sie ihn erst gestern gelesen. In Wirklichkeit war es ebenso viele Wochen her und dennoch erinnerte sie sich an jedes einzelne Wort.
Gib die Hoffnung nicht auf. Es ist noch nicht alles verloren. Wir sehen nicht tatenlos zu.
Irgendwann wird dieses Land wieder frei sein. Halte durch. Bis bessere Tage kommen.
König
Die Zeilen hatten sie unverhofft mitten in ihrer tiefsten Verzweiflung erreicht. Ohne Absender, nicht einmal mit einem Adressaten, sondern so wie er war in fremder Handschrift zwischen den Seiten einer Zeitung versteckt durch die Briefklappe der Wohnungstür geworfen. Da war nichts außer der kryptischen Signatur. König. Dennoch lag in alledem eine warme Vertrautheit.
Ziona hatte den Brief wieder und wieder gelesen, als würde er irgendwann doch seinen Verfasser offenbaren und damit alle ihre Fragen beantworten. Natürlich tat er das nicht. Letzten Endes hatte sie ihn verbrannt. Solche Worte bei sich zu behalten wäre zu gefährlich gewesen, aber in ihren Gedanken hatte sich der Schwung jedes einzelnen Buchstaben eingebrannt und die Hoffnung, die darin lag.
Seit der Deportation ihrer Familie hatte sie den Drang verspürt, mehr zu tun. Wahrhaftig gegen dieses Unrecht zu kämpfen, mit allen Mitteln, die sie besaß. Ohne Rücksicht. Aber was ihr gefehlt hatte, war das Vertrauen, tatsächlich etwas bewirken zu können – wie auch, wenn sie nicht einmal ihre Lieben beschützen konnte?
Das war die Geburtsstunde des roten Turms gewesen. Der Widerstandsorganisation, wie sie es heute war, keine Handvoll von Menschen mehr, die dachten wie sie, sondern ein Gedanke, eine Idee, die sich unaufhaltsam weiterverbreitete. Mit ihr, Springer, Steinitz, unzähligen anderen ... und König.
Damals hatte sie sich entschieden. Sie hatte ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und es vielleicht gerade deshalb besiegelt. Es war der Beginn gewesen – oder das Ende.
Aber sie bedauerte nichts.
Zionas Wange sackte müde gegen die kalte Wand und wartete, bis das Pochen in ihrer Hand sich wieder verflüchtigte.
Durch die Mauer meinte sie, ein zaghaftes Pochen wahrzunehmen, ganz dicht an ihrem Ohr, das die Stille durchbrach.
Verwirrt starrte Ziona sie an. Halluzinierte sie jetzt schon, weil man sie nicht schlafen ließ?
Da war es wieder. Es klang zu gezielt, die Pausen zwischen den kleinen Schlägen zu präzise, als dass es nur irgendein gewöhnliches Geräusch hätte sein können.
Ziona lehnte sich gegen den Verputz und lauschte angestrengter. Was war das? Sie begriff nicht, klopfte einmal zurück.
Stille.
Dann erneut dasselbe Geräusch. Kurz. Lang.
Ein Morsecode? Das würde bedeuten „A".
Nach einer Pause ein kurzes Klopfen, dann lang und schließlich wieder zwei Mal kurz. L.
„Alles in Ordnung?", entzifferte Ziona nach einer Weile und ihr Herz machte dabei einen Satz. Kein Zufall. Da war tatsächlich ein Mensch, der mit ihr sprach. Zwar ohne Stimme, aber dennoch waren es Worte, die an sie gerichtet waren. Und es waren keine gebrüllten Befehle.
Ein wohliges Prickeln breitete sich in ihren Fingerspitzen aus.
Über ihrer Aufregung hätte sie beinahe vergessen zu antworten.
„Ja", klopfte sie hastig zurück. Es war eine Lüge. Das erste Gespräch, das sie führen konnte, seit wann? Tagen? Monaten? Und dann entsprach ihr erstes Wort nicht einmal die Wahrheit. Aber was hätte sie sonst sagen sollen?
„Weißt du, wann sie uns zum Verhör holen?", folgte es von hinter der Mauer.
„Nein, niemand spricht hier mit mir."
Enttäuschtes Schweigen – oder ein Zögern.
„Ich bin ... Florian. Warum bist du hier?"
Ziona hielt inne. Wie viel sollte sie ihm verraten? Konnte man ihm überhaupt trauen? Wenn er verhaftet worden war, weil man ihm Männerliebe oder den Besitz verbotener Bücher vorwarf, bedeutete das noch lange nicht, dass er Juden nicht verachtete, mit der NSDAP nicht in einigen Punkten übereinstimmte. Das galt umso mehr, falls er wirklich zu Unrecht hier war, wie er behauptete.
Zudem war es doch er, der immer wieder nach einem Beamten schrie und trotzdem schienen die schlimmsten Konsequenzen seines Verhaltens ein paar harsche Worte der Wärter gewesen zu sein. Verdächtig.
Möglicherweise war er gar kein Häftling, sondern ein Spitzel, der anderen kompromittierende Aussagen entlocken sollte. Wenn die Nazis eins konnten, war es schließlich denunzieren.
Vielleicht war das auch paranoid, doch eines stand fest – wenn er ihre Zeichen hören konnte, dann die Männer draußen ebenso und die würden sich, bei nur einem verräterischen Wort zufrieden die Hände reiben und kurzen Prozess mit ihr machen.
Feind hört mit, kamen Ziona die Propagandaplakate in den Sinn. Letztlich waren ihre Verfasser selbst der Feind und die anderen litten unter ihrer Bespitzelung. Wie ironisch.
„Ich weiß es nicht", entschied sie, zu antworten, „Du?"
„Man will es mir nicht sagen. Vielleicht ist das ihre Strategie; uns im Unklaren lassen." Kurz Stille. „Wie heißt du?"
Sie zögerte. Sollte sie ihm das wirklich sagen? Spätestens dann wäre jedem klar, mit wem sich Florian unterhielt – wenn das denn sein richtiger Name war.
„Tut mir leid, du musst nicht antworten. Das wäre unvorsichtig. Ich nenne dich einfach Nachbar ... oder Nachbarin?"
Ziona fuhr sich durch das zerzauste Haar, das in ihr das drängende Verlangen auslöste, sich endlich waschen zu können, und schwieg.
Die Stille schien Florian nervös zu machen, denn er klopfte erneut. Diesmal nichts bestimmtes, bloß ein schüchternes Pochen mit Hoffnung auf Antwort.
„Nachbarin", morste sie zurück. Das war zumindest unverfänglicher. Hier waren mit Sicherheit genug Frauen inhaftiert.
„Wie lange bist du schon hier, Nachbarin?"
„Ich weiß nicht ... zu lange." Jede Sekunde in dieser Hölle, war eine zu viel.
„Ich auch. Wenn ich mich nicht geirrt habe, halten sie mich seit sechs Tagen fest. Sechs Tage ohne ein Wort. Vielleicht lassen sie uns ja nie mehr raus", klopfte Florian weiter. „Wartet draußen jemand auf dich?"
Die Frage traf sie härter, als sie es vermutet hätte.
„Nein", obwohl sie es nicht einmal aussprechen musste, fiel es ihr schwer, ihm zu antworten. Mit ihren zitternden Fingern hätte sie fast einen Fehler gemacht.
„Das tut mir leid."
Tut es das wirklich? Würde es das noch, wenn du wüsstest, wer ich bin?
Doch das einzige, das sie Florian hören ließ, war: „Wer wartet auf dich?"
„Meine Mutter. Ist sicherlich krank vor Sorge und steht jeden Tag vorm Metropol. Bei Vater weiß ich es nicht. Vielleicht haben sie ihn auch verhaftet. Ich ... mache mir Sorgen um ihn und Mutter. Wenn sie jetzt ganz alleine ist ..."
Wenn ihre eignen Eltern wüssten, wo ihre Tochter im Moment war ...
„Ich hoffe, sie lassen dich bald raus", antwortete sie zaghaft.
Ziona fühlte das Mitleid sich in ihr Herz schleichen. Dennoch war Vorsicht geboten. Ihre Gefühle durften ihr nicht den klaren Verstand verwirren.
In einem hatte Florian allerdings mit Gewissheit recht: Diese Zelle, die Einsamkeit, das strikte Schweigen – das war die Strategie der Gestapo. Sie wollten, dass sich ihr Geist zwischen diesen dunklen Mauern zersetzte, sie schwach wurde und zu zweifeln begann. Umso leichteres Spiel hätten sie beim Verhör. All das hier, vielleicht sogar, dass man die Schreie in ihrer Zelle so gut hören konnte, war bereits der Beginn ihrer Folter. Doch sie gedachte nicht, Teufel, Schacht und diesen Sturmbannführer, von dem er gesprochen hatte, gewinnen zu lassen.
Man würde sie hier drinnen nicht brechen.
Ziona atmete tief durch.
Sie musste durchhalten bis zum Verhör und, bis dahin, musste sie verhindern, dass diese Zelle ihren Willen und ihre Vernunft raubte.
Ihre Blicke zuckten suchend durch das stumpfe Nichts, das sich hier in der Zelle befand. Es gab eigentlich nichts zu tun, rein gar nichts, womit sie die Zeit hätte totschlagen und erst recht nichts Geistreiches. In einem normalen Gefängnis konnte man zumindest aus dem Fenster blicken, durfte ab und an etwas lesen, in den Hof hinaus. Hier – gar nichts.
Doch das war natürlich ihre Intention. Wenn sie lange genug hier war, sollten die Wände sie langsam zwischen sich erdrücken. Ihr eine Beschäftigung zu geben, hieße, man eröffnete ihr den Weg zur Flucht. Zwar bloß einer geistigen, aber eben doch einem Entkommen aus ihrer Macht.
Blieben demnach nur sie und ihre Gedanken. Allerdings besaßen auch jene ihre Grenzen. In Kürze hatte sie die Gedichte und Lieder, die sie kannte im Geiste zitiert und stand erneut vor der Aufgabe, sich irgendwie am Denken, am Leben zu halten.
Mit dem Finger zeichnete Ziona grübelnd Muster in den Staub. Was jetzt?
Florian, der ihr ein „Gute Nacht" klopfte, holte sie kurzzeitig in die Gegenwart zurück. War es überhaupt Nacht? Wusste er mehr über die Tageszeit oder nahm er bloß an, dass es jetzt Abend war, weil die Schritte am Flur etwas seltener wurden?
Dennoch erwiderte die Ärztin die Worte – was auch immer sie im Gestapo-Keller bedeuten sollten.
Ihr Blick zuckte zurück zu ihren Fingern, die unablässig in Bewegung blieben. Über den Boden zog sich ein beinahe unsichtbares Mosaik aus hellen und dunklen Feldern.
Schach!
Als Kind hatte sie es auch geschafft, Stunden mit sich alleine zu spielen, die Figuren wahllos zu verschieben und die Abfolge der weiteren Züge zu ersinnen. Sogar in der Schule, wenn sie sich gelangweilt hatte, malte sich ihr Verstand manchmal irgendwo sein Brett. Auf die Tafel, den Boden, in ihr Heft, und das Spiel konnte beginnen.
Ein zartes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich ihr die 64 Kästchen auf die Wand projizierte und darauf ihre Figuren stellte. Nicht schwarz und weiß, sondern schwarz und rot, wie das ungewöhnliche Set ihres Vaters.
Der erste Zug – die Partie begann.
Im fünften Spiel öffnete sich die Tür. Ein fremdes Geräusch, von dem sie nicht wusste, ob es überhaupt wirklich da war. Andererseits - was war das schon? Hatte sie tatsächlich gespielt oder bloß geträumt? War Florian real oder nur ein Produkt ihrer Schlaflosigkeit?
Doch dann ertönten die Worte, die Rettung und Qual zugleich bedeuten konnten: „Los, aufstehen, Verhör."
Mit schwachen Beinen erhob sich Ziona vom schmutzigen Boden und trat dem Beamten entgegen.
Innerlich wappnete sie sich dafür, was nun folgen mochte. Was es auch war, sie würde den Roten Turm nicht verraten, die Gestapo nicht gewinnen lassen. Und wenn man sie hier Jahre lang festhielt.
Ziona blickte noch einmal zurück zu ihrer Schachpartie. Plötzlich schien ihr der Ausgang völlig klar. Mit den richtigen Zügen wäre das Matt für Schwarz – zweifellos, geradezu simpel. Es würde nur ein wenig dauern und so lange musste sie warten.
Bis wieder bessere Tage kommen.
A/N: Eigentlich hätte dieses Kapitel kurz und knapp sein sollen - ist es nicht. Und eigentlich hätte ich auch damit gerechnet, dass es sich deutlich leichter schreiben lässt, als es das am Ende hat. Ja, da war sehr viel Löschen, neu Schreiben und Umbauen dabei. Eigentlich bin ich damit immer noch nicht glücklich und etwas unsicher damit, es so zu posten. Also das Übliche, wie's aussieht.
So jetzt aber Frage an euch: Was haltet ihr bisher von der Geschichte? Was denkt ihr über die Charaktere? Kann man Florian wohl trauen? Und wer könnte König sein?
Ich freu mich wie immer auf Feedback ^^
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