eins; lennox

Eine meiner größten Ängste ist es, in Vergessenheit zu geraten. Dass ein Mensch, der mir etwas bedeutet, mich einfach vergisst und dazu alle Erinnerungen, die uns verbinden. Und wenn er mir dann nach einer langen Zeit wieder begegnet, wird er nicht sagen: »Hey, kannst du dich noch an unsere gemeinsame Zeit erinnern?« Nein, seine Worte werden sein: »Hey, wer bist du?« Und dann wird er erwarten, dass wir unsere Geschichte von vorne schreiben. Oder er wird es nur als Höflichkeitsfloskel sagen und dann sein Leben weiterführen, das Leben, in dem er mich vergessen hat.

Vielleicht habe ich deshalb so starke Vertrauensprobleme. Meine Eltern sagen, es ist normal und wird sich mit dem Alter schon geben.

Aber sie sind ja auch nicht diejenigen, die jetzt hier stehen und gerne einfach die Flucht ergreifen würden. Sie können leicht reden.

Während sich das Mondlicht auf dem Wasser bricht und die Nacht immer dunkler wird, habe ich die raue Steinmauer eines alten Cottage im Rücken und zwei zarte Hände liegen auf meiner Brust. Warmer Atem streift meine Haut.

Das Mondlicht bricht sich auch in ihren Haaren und es beginnt zu glänzen. Sie drückt feuchte Küsse auf meinen Hals, auf meinen Brustansatz, dort wo das Hemd nicht bis ganz nach oben geschlossen ist, und schließlich auf meinen Mund.

Und ich bekomme Panik. Dabei sollte ich es genießen. Aber die ganze Zeit denke ich nur daran, was passiert, wenn wir uns erst ganz nah kommen und sie mich dann doch vergisst.

Denn genau so wird es sein.

Ich fühle den groben Stein unter meinen Händen, spüre die warme Luft auf meiner Haut und nehme das weiche, hohe Gras unter meinen Füßen wahr.

Doch ihre Küsse versuche ich zu verdrängen. Allerdings ohne Erfolg.

Ich sollte jetzt etwas sagen. Sagen, dass ich das nicht kann. Aber dass ich sie mag, weil sie sich anfühlt wie die leichte Morgenluft, die mich jeden Tag weckt. Weil sie schmeckt wie die süße Kirschmarmelade, die meine Mutter im Frühling kocht. Und weil sie nach einem Blumenfeld in seiner Blütezeit duftet.

Aber trotzdem kann ich mich einfach nicht entspannen.

»Viola«, sage ich deshalb und drücke sie sanft von mir. »Viola, es tut mir leid, aber es fühlt sich nicht richtig an.«

Sie sieht mich abschätzig an, lässt ihre Hände fallen. Ich glaube, dass sie verletzt ist, aber sie lässt es sich nicht anmerken.

»Du hast recht. Wir sollten einfach zu den anderen zurückkehren.« In einer schnellen Bewegung wendet sie sich ab und läuft um den kleinen See herum.

Kurz lege ich den Kopf in den Nacken, schließe die Augen. Höre auf das Zirpen der Grillen, auf das leise Plätschern des Sees und das leise Lachen der andern, dass zu mir dringt.

Ja, genauso fühlt sich eine Sommernacht an. Auch wenn die heutige nicht gerade gut verlaufen ist.

Seufzend stoße ich mich von der Wand ab und laufe ebenfalls um den See herum. Das Wasser ist schwarz, nur die einzelnen, hellen Schwaden des Mondlichts spiegeln sich darin.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, Licht zu sein. Einfach zu schweben, ohne Ziel und ohne Aufgabe. Ohne richtigen Lebenssinn, aber doch mit einer Bestimmung. Und zwar, anderen Lebewesen Licht zu schenken, Licht, das sie zum Überleben brauchen. Ich wäre also gleichzeitig ein unbedeutendes Nichts, ohne Herzschlag, und doch das wichtigste Lebenselixier, das es gibt.

Ich wäre nicht ein unbedeutender Junger auf dieser weiten Welt, der keine Bestimmung hat und voller Angst ist, jemanden an sich ran zu lassen.

»Lennox«, ruft mein bester Freund, in der Hand ein Bier. Zügig kommt er zu mir. »Wie schnell ging das denn bitte?« Er lacht.

Ich verdrehe die Augen und nehme mir ebenfalls eine Bierflasche. »Es ging gar nichts.«

Quentin sieht mich verdrießlich an. »Wie lange soll ich dir noch die perfekten Gelegenheiten vor die Füße legen?«

Ich zucke nur mit den Schultern. Was will er jetzt von mir hören?

Er wendet sich ab und redet mit einer aus unserer Klasse, ich stelle mich etwas abseits der Gruppe hin.

In meiner linken Hand die Bierflasche, in der rechten Hand ein Blatt, dass ich von dem Baum vor mir pflücke, und nun gelangweilt zerreiße.

Von meinem Platz habe ich eine gute Sicht auf die gesamte Gruppe, die hauptsächlich nur aus meinem Jahrgang aus der Schule, Nachbarn und ein paar mitgebrachten Bekannten besteht.

Die Mädchen lachen und tuscheln mit einander, werfen Blicke zu einigen Jungs, welche sie dann in ein Gespräch einwickeln.

Die Typen trinken, albern herum und stacheln sich gegenseitig dazu auf, zu den Mädchen zu gehen.

In einem großen Schluck leere ich das Bier und gehe auf den Gartentisch zu, der inmitten des Feldes steht, auf dem wir uns befinden. Es ist kein offenes Feld; viele Bäume stehen darauf und es wird von Gärten, dem Wald und den ersten Häusern gesäumt.

»Lennox, komm doch mal her«, ruft Quentin und winkt mich zu sich.

Ich schnappe mir eine neue Flasche und gehe auf die kleine Jungsgruppe zu. Alle Augen haben sich auf irgendeinen Kerl in der Mitte gerichtet und ich frage mich, wer so ihre Aufmerksamkeit erregt, wenn kein Mädchen.

Als ich näherkomme, erkenne ich ihn genauer und stutze kurz. Er sieht ganz anders aus, als die Jungs, die hier sonst so wohnen.

Er trägt eine beige kurze Hose und ein weißes Poloshirt, mit herunter geklapptem Kragen. Doch es sieht nicht albern aus, das würde es an den meisten, nein, es sieht ganz normal bei ihm aus. Als würde er in nichts anderem herumlaufen.

Seine Haare sind hellblond, reichen ihm bis tief über die Stirn und sind unordentlich zerzaust. Sie sehen aus, als würde hätte sich die Sonne in ihnen verfangen.

Ozeanblaue Augen schauen mich nun an; mustern mich genau.

Ich ziehe die Brauen hoch und wende den Blick von ihnen ab.

»Das ist mein Cousin Caspian, er kommt aus der Stadt und wird erstmal den Sommer hier verbringen, bis sich seine Mutter entschieden hat, ob sie hier her ziehen«, erklärt uns Quentin nun.

Caspian vergräbt die Hände in den Hosentaschen und ich lasse noch einmal den Blick über ihn wandern. Unter dem Kragen des Poloshirts schaut eine silberne Kette heraus und seine Füße stecken in weißen Sneakern.

»Hey«, sagt er nun in die Runde. Doch dabei liegt sein Blick auf mir.

Ich runzle die Stirn und wende meine Augen ab. Frage mich, was das sollte. Der Neue ist seltsam, keine Frage, aber er hat Ausstrahlung; er hebt sich von der Masse hervor und allein deswegen, würde ich ihn gerne besser kennen lernen.

Die Runde begrüßt ihn und fängt wieder an, zu reden.

Caspian kommt auf mich zu, wahrscheinlich, weil ich der Einzige bin, der sich mit niemandem unterhält. »Wer bist du?«, fragt er und lächelt mich leicht an.

»Lennox«, antworte ich knapp. »Bier?«

Er nickt und ich öffne ihm eins. »Und?«, er nimmt einen Schluck, »was kann man hier so unternehmen?«

Schwierige Frage, eigentlich mache ich nichts anderes, als mit Quentin und den anderen abzuhängen und hin und wieder schwimmen zu gehen. Ich krame eine Packung Zigaretten aus meiner Hosentasche hervor und zünde mir eine an. Ich halte ihm die Packung an und er nimmt sich ebenfalls eine.

In einem kurzen Moment der Stille atmen wir beide nur den weißen Rauch in die schwarze Nachtluft aus. Dann drehe ich mich zu ihm, da ich ihm noch immer eine Antwort schuldig bin. »So viel zu unternehmen gibt es nicht. Aber das, was es gibt, kann ich dir zeigen, wenn du willst.«

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