III

»Ich ... ich ...«, stammele ich völlig überfordert, weil ich von meinem eigenen Gesichtsausdruck erschrocken bin und nur noch Zentimeter fehlen, die seine Lippen von meinen trennen. Zudem erfüllt sein Duft nach frisch gewaschener Wäsche und etwas würzig Herbem meine Nase und vernebelt mir die Sinne.

Auch Tom ist nicht entgangen, wie verheerend nah wir uns sind. Seine Mundwinkel zucken, dann richtet er sich wieder auf und lässt mir meinen dringend benötigten Freiraum. Allerdings steht er nun in seiner ganzen Pracht vor mir, was nicht gerade förderlich für meine Gedanken ist. Unmerklich drohen die nämlich in gefährliches Terrain abzudriften ...

»Ich weiß es nicht, okay?«, sage ich deshalb und lege den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Möglichst provozierend füge ich hinzu: »Oder doch? Meine Ruhe.« Als er weiterhin schweigend auf mich herabschaut, verengen sich meine Lider zu schmalen Schlitzen und ich verschränke die Arme vor der Brust. »Was soll das außerdem heißen? Dass ich bald sterben werde?«

Seufzend sinkt Tom auf seinen ursprünglichen Platz – die freie, nicht von mir besetzte Stelle meiner breiten, gepolsterten Fensterbank – und stützt die Hände auf seinen Oberschenkeln ab. »Für uns alle könnte es jeden Moment vorbei sein. Gerade du müsstest es wissen. Du hast mir doch eben erzählt, dass dein Dad gestorben ist.«

Mit einem flauen Gefühl im Magen schlucke ich die aufflackernden Eindrücke der reißenden, ohrenbetäubenden Brandung mitsamt dem salzigen Geschmack der erneut aufsteigenden Tränen hinunter. Ich verbanne den feuchten Sand, das gesplitterte Holz, die blauen Lippen, die fahle Haut, die leeren ... leblosen Augen ... und das Gefühl keine Luft mehr holen zu können ... selbst zu sterben ... aus meinen Gedanken.

Als würde Tom genau wissen, was mir gerade durch den Kopf geht, schenkt er mir ein ehrliches, aufmunterndes Lächeln. »Du musst mir nicht davon erzählen, wenn du nicht willst. Ich möchte nicht noch mehr Salz in die Wunde streuen als ohnehin schon. Aber was auch immer passiert ist, es hätte dir zu denken geben müssen, wie wertvoll jeder einzelne Augenblick ist.«

»Natürlich hat es mir zu denken gegeben«, begehre ich auf. »Deswegen werde ich aber noch lange nicht lebensmüde und mache einen auf ...« Verzweifelt suche ich nach etwas, das sich mit dem vergleichen lässt, zu dem er mir rät. Mein Gehirn spuckt jedoch nur »Rambo« aus.

Tom entlockt es jedenfalls ein amüsiertes Schnauben. »Abgesehen davon, dass dieser Vergleich sehr weit hergeholt ist und du für die Rolle eh viel zu zierlich bist, verlangt niemand, dass du dein Leben aufs Spiel setzt.«

»Aber-«

»Himmelherrgott noch mal!«, ruft er dazwischen und wirft die Hände in die Luft. »Ich habe dich, seitdem ich nebenan eingezogen bin, kein einziges Mal das Haus verlassen sehen.« Anklagend erhebt er den Zeigefinger. »Und der Garten zählt nicht.«

Aufgebracht ringe ich nach Atem. »Wer hat dir erlaubt, in Herrgottsnamen zu fluchen?! Und du bist seit gerade einmal einer Woche hier.«

Scheinbar teilnahmslos zuckt er mit den Schultern. »Na und? In der einen Woche habe ich jeden Tag das Haus verlassen.«

Verwirrt runzele ich die Stirn. Obwohl er recht hat und ich mich nur von meiner Liege zum Pool bewege und zurück, will ein Detail nicht zu seiner Aussage passen ... Wie er das so genau wissen kann. »Außerdem, wer sagt denn, dass ich die ganze Zeit im Garten verbringe? Dazu müsstest du mich schon von morgens bis abends ohne Unterbrechung beobachten. Was du nie und nimmer schaffst ... Es sei denn ...« Mir entweicht ein Laut der Überraschung. »Es sei denn, du hast mir die ganze Zeit nur weisgemacht, dass du das Haus verlassen würdest, ... um mich dann unbemerkt zu beobachten!« Herausfordernd nagele ich ihn mit meinem Blick fest. »Wo hast du dich denn die ganze Zeit über herumgetrieben?«

»Wenn du mit mir das Haus verlassen würdest, zeige ich es dir liebend gern«, erwidert er keck und nicht im Mindesten beunruhigt oder verärgert, wie ich es eigentlich erwartet habe. »Dazu muss ich nämlich an deinem Garten vorbei ... und dir dabei zusehen, wie du deine ach so wertvolle Zeit auf einer Sonnenliege vertrödelst und absolut nichts tust ... Außer vielleicht meinem süßen Hintern nach zu starren-«

»Merkst du eigentlich, wie selbstverliebt du klingst?« Ich verdrehe die Augen.

»Gib's zu. Du kannst es nicht erwarten, mich zu sehen. Darauf wartest du den lieben langen Tag, hab ich recht?« Tom zwinkert verschwörerisch und ich möchte ihm am liebsten an die Gurgel gehen, ... weil er verdammt noch mal recht hat.

»Ich gebe gar nichts zu«, zische ich hoch erhobenen Hauptes. »Ob du es glaubst oder nicht, tatsächlich habe ich etwas Aufregendes gemacht: Dich um drei Uhr nachts durch mein Fenster klettern lassen. Aber lass mich raten, ... das ist dir nicht aufregend genug?«

»Exakt. Mich reinzulassen war ein guter Anfang, mit dem ich arbeiten kann, aber wann bist du zuletzt ein wirkliches Risiko eingegangen? Keins von der lebensmüden Sorte, versteht sich. Wann hast du zuletzt deinen Verstand ausgeschalten und nur dein Herz bestimmen lassen?« Er legt mir seine Handflächen offen dar. »Ich meine, was hast du schon zu verlieren?«

Mein Herz ... UND meinen Verstand, wenn man es genau nimmt. Und dennoch gehe ich darauf ein, spiele mit, weil da ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch aufsteigt, das Tom schon vom ersten Augenblick an verfallen ist. »Du meinst, ich soll etwas riskieren? Etwas richtig Dummes machen, weil ich mich nur dann ... lebendig fühle?«

»Du hast es erfasst!« Tom strahlt über das gesamte Gesicht, und ungewollt steckt mich seine heitere Miene an.

Zaghaft lächelnd lenke ich schließlich ein. »Verrate mir dein Geheimnis und ich stimme deiner Wette zu.«

»Na also.« Prompt verwandelt sich sein Strahlen wieder in ein fieses Grinsen. »Ich wusste es doch, dass ich dich an der Angel habe.«

»Hast du nicht«, warne ich. Ehe ich mich versehe, packe ich ihn am Kragen seiner Lederjacke und zerre ihn so dicht an mich heran, dass sich sein linkes Ohr auf Höhe meines Mundes befindet. Todernst flüstere ich: »Noch so ein Spruch und du fliegst hochkant aus diesem Fenster.« Das zerschlissene Leder knarzt in meinem Griff, als ich ihn noch näher in Richtung offenes Fenster zwinge. Eine laue, nach feuchtem Gras riechende Brise streicht durch sein dunkles Haar.

Ergeben hebt Tom die Hände. »I-ist ja-a gut«, krächzt er wie ein Junge, der gerade in den Stimmbruch gekommen ist. »Ich erzähle es dir schon! Nur bitte ...«, er keucht, seine Lider flattern, »... lass mich am Leben.« Sein äußerst intensiver Blick trifft mich unvorbereitet.

Mit staubtrockener Kehle und klopfendem Herzen gebe ich Toms Kragen frei. »Gar nicht mal so mies geschauspielert, dafür, dass dein Fall mit einem knappen Meter nicht besonders tief gewesen wäre«, pflichte ich ihm, meiner chaotischen Gefühlslage ungeachtet, anerkennend bei und räuspere mich mehrmals.

Nach dem Schrecken über meine frappierende Reaktion auf seine Nähe hin, schleicht sich sogar ein kleines Schmunzeln auf meine Lippen. Er hat sich zu keiner Zeit in ernsthafter Lebensgefahr befunden, da wir – meine Mom und ich – in einem Bungalow wohnen. Vor dem Fenster erstreckt sich lediglich der weiche, saftig grüne Rasen unseres Gartens. Das Einzige, das er davongetragen hätte, wären nasse Flecken auf seiner Jacke und der Jeans.

Tom beendet seine Show, wie ein Hyperventilierender zu japsen und sich die Brust zu halten. »Ooohhh, warte ...« Er reißt die Augen auf. »Du stehst drauf, wenn ich dich anbettle«, meint er dann. »Würde es dir auch gefallen, wenn ich vor dir auf die Knie gehe?« Kaum sind die Worte ausgesprochen, macht er Anstalten vor mir zu Boden zu sinken.

»W-was? Nein. Steh wieder auf!«, fahre ich ihn mit brennenden Wangen an.

Glucksend nimmt er wieder neben mir Platz. »Aus der Nummer kommst du nicht mehr raus. Ich hab da dieses Leuchten in deinen Augen gesehen.«

»Hast du nicht! Du hast gar nichts gesehen«, beteuere ich, und die Lüge hängt wie eine Rauchwolke zwischen uns in der Luft.

»Und ob!«

Trotzig verschränke ich die Arme. »Was du gesehen hast ... w-war Mordlust.«

Ein abermaliges scheinbar gleichgültiges Achselzucken. »Soll mir recht sein. Mordlust ist nur eine andere Art von Lust. Ich nehme alles, was ich kriegen kann.«

Fassungslos darüber, wie er es schafft, wirklich jeder Kleinigkeit einen obszönen Beigeschmack zu verpassen, schnaufe ich auf. »Wir waren eigentlich bei deinem Geheimnis. Lenk nicht die ganze Zeit vom Thema ab.«

»Ach ja, stimmt.« Er seufzt resigniert. »Sorry ... Du möchtest also mein dunkelstes, schmutzigstes Geheimnis hören?« Letzteres geht ihm nicht ohne einen gewissen Schalk über die Lippen.

»Ja, das war der Deal. Schon vergessen? Mach's gefälligst nicht so spannend.«

»Oh, glaub mir, ich kann noch viel mehr Spannung erzeugen.« Sein tiefer Tonfall schickt mir einen sengend heißen Schauer über das Rückgrat, geradewegs in meinen Unterleib. »Ich kann es dir hier und jetzt beweisen ...«

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