Schneeblau & 2. Tagebucheintrag


Schneeblau schimmerte dieser Morgen. Es wurde immer kälter. An diesem Tag, war es so kalt, dass unser Atem kleine Rauchwolken bildete. Ich atmete die Kälte so tief ein, dass es mir in der Lunge schmerzte. Jeden früh um acht Uhr warf uns Herr Otto aus den Betten und schliff uns in den Innenhof. Es gab hier ein paar kleine Grünflächen und Büsche, deswegen nannte Herr Otto es Parkstunde. Wie lächerlich. Ein Park ist eine offene Grünfläche mit Blumen und Bäumen, vielleicht sogar mit Springbrunnen. In einem Park tummeln sich die Menschen, es rennen Hunde umher, Familien Picknicken im Sonnenschein und Pärchen gestehen sich ihre Liebe. In diesem Park gab es graugrünen Rasen und drei zerfallene Büsche, dass alles umzäunt von den Mauern des Gefängnisses und dem Zaun der Klapse. Wie wunderschön und entspannend so ein Morgen doch sein konnte. Wir hatten die Wahl zwischen Gymnastik mit Herrn Otto oder einfach laufen bis wir nicht mehr konnten. Stillstand oder gar gammellei kam für den Pensionierten Sportlehrer nicht in Frage. Ich war jeden Tag die einzige die sich die Seele aus dem Leib rannte. Ich rannte, bis sich meine Lungen schmerzhaft zusammenzogen, bis ich vor lauter Würgereiz kaum noch Atmen konnte. »Möchtest du mir erzählen, wie du dich mit Theo angefreundet hast?«, fragte mich Doktor Waggoner als ich nach dem Frühstück meine Stunde bei ihr absitzen musste. Ich grinste in mich hinein. »Ich habe mich einfach in sein Leben gequetscht.« Und das stimmte. Seit dem Tag, in dem er mir einen Platz neben sich in der Cafeteria angeboten hatte, hatte ich mich wie eine lästige Fliege immer in seiner Nähe aufgehalten. Zuerst nur an der Uni, wir belegten sogar zwei Kurse zusammen. Psychologie und Literaturwissenschaften. Nicht, dass es Zufall gewesen wäre, nein. Über David – einer meiner besten Freunde aus Stralsund und zugleich leidenschaftlicher Hacker und unsterblich verliebt in Nele – hatte ich genügend Informationen über Theo in Erfahrung bringen können, um ihm immer wieder mehr oder weniger über den Weg laufen zu können. David hatte ich es auch zu verdanken, dass ich als Elis Green mit überdurchschnittlich guten Noten die Uni besuchen durfte. Als Hannah hätten die mich wahrscheinlich nicht einmal angenommen. »Wie hast du dich dabei gefühlt, Hannah?«, fragte sie. Ich schwieg. Wie immer, wenn sie mich nach Gefühlen fragte. Ich glaubte nicht, dass es in mir noch etwas wie Gefühle gab. Dafür war ich einfach zu verbrannt und zu leer.

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Liebes nicht- Tagebuch,

wenn mich jemand fragen würde, wie es sich anfühlt, sich als einen komplett anderen Menschen auszugeben, würde ich nicht lügen. Ich würde denjenigen sagen, dass es sich fantastisch anfühlt. Ich würde ihm erzählen, wie ich mich in den Momenten gefühlt habe, als ich Hannah Winter komplett vergessen hatte und nur Elis Green war. Nämlich frei. Und ungezwungen. Ich konnte einfach das machen, was auch immer ich wollte. Konnte Dinge tun, die Hannah sich nie im Leben getraut hätte, allein aus der Angst heraus, sie könnte sich vielleicht blamieren. Elis war das ziemlich egal, denn eigentlich gab es sie ja nicht. Elis tat worauf immer sie Lust hatte. Sie färbte sich die Haare blau, trank Wodka bis zum Umfallen, küsste Kerle, deren Name sie nicht einmal kannte, tanzte mitten in der Nacht auf der Straße, hörte nur Bands die kaum jemand kannte, klaute Lippenstift in den teuersten Läden der Stadt und noch viele andere Dinge, die ich hier nicht aufzählen möchte. (Weil ich nicht möchte, dass Sie es wissen Doc, nichts für ungut, naja, vielleicht doch.) Ein paar Tage nachdem ich das erste Mal mit Theo gesprochen hatte, lud er mich auf eine Party ein. Er sah dabei so geknickt und demotiviert aus, dass es mir fast ein bisschen leid getan hätte. Er sagte, die Party sei von seinem besten Freund organisiert wurden und das schon vor Monaten, er hätte eigentlich keine Lust hinzugehen, wollte aber Ardian nicht enttäuschen, weil die beiden sich ewig nicht gesehen hätten, weil Ardian wohl für einige Monate in New York zu einer Art Studentenaustausch gewesen sei, blablabla. Aber ich willigte ein und nahm mir vor, Theo an dem Abend so besoffen zu machen, dass er sich für alle Zeiten, bei all seinen Freunden lächerlich machen würde. Leider kam alles anders als erwartet, am Ende des Abends pumpte mein Herz mein Blut nur noch Tröpfchenweise durch meine Adern, ich wusste nicht, dass meine Welt noch mehr aus den Angeln geraten konnte, als sie es bisher gewesen war. Ich muss aufhören zu schreiben, so sehr zittere ich.

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