Nebelweiß.


Nebelweiß hingen an diesem Tag die Wolken zwischen den Gebäuden des Gefängnisses und der Anstalt. Es war Sonntag. Der einzige Tag hier, an dem wir weder in den Park zum Sport oder zu Doktor Waggonor in den ‚Ich schweige dich so lang an oder löchere dich mit Fragen, bis du mir deine Seele auf einem goldenen Tablett lieferst.' Raum mussten. Darum hatte für mich dieser Wolkenverhangene Tag auch nicht die gleiche Wirkung wie auf alle anderen Menschen. Ich fühlte mich an den Sonntagen immer gut. Ausnahmslos. Der Sonntag war auch der Tag, an dem ich niemals Post bekam. Keine Butterblumengelben Zettel, keine zusammengefalteten Notizen mit Fragen nach Antworten die ich niemals geben wollte. An Sonntagen konnte ich meine Vergangenheit für ein paar Stunden vergessen – oder verdrängen – wie auch immer man es nennen mochte. Beim Frühstück traf ich auf Jil, die Griesgrämig in ihren Joghurt starrte. Ich setzte mich ihr gegenüber an einen freien Tisch, rührte in meinem Kaffee, bis ein kleiner Kaffeewirbelstum entstand und schaute ihr belustigt zu. Es war mir eine wahre Wonne, Jil zu beobachten. Immer wieder aufs Neue stellte ich fest, dass ihre Negativität nur Aufgesetzter Schein war. Denn ab und an stahl sich ein lächeln in ihre Augen und ihre Mundwinkel. Sicherlich würden normale Menschen es auf ihre Schizophrenie schieben, ich aber wusste es besser. Wieso, wusste ich nicht. Ich wusste es eben einfach. Wenn man sich Monatelang als einen völlig fremden Menschen ausgegeben hatte, entwickelte man mit der Zeit einfach ein gewisses Auge für Menschen die gewissen Dinge einfach nur verspielten. Und Jil spielte ihre Rolle – bewusst oder unbewusst – beinahe perfekt. »Ich hab's gelesen.« Sara stürmte gefolgt von Alice in den Raum und kam direkt auf mich zu. »Ich habe mir deinen Brief geklaut und ihn gelesen«, sagte sie. Mittlerweile stand sie direkt vor mir, die Arme hatte sie überkreuzt und ihre Lippen trugen ein lächeln, dies aber schien zu freundlich im Vergleich zu ihrer Körperhaltung. Alice hatte sich neben Jil gesetzt, die noch immer schlecht gelaunt in ihren Joghurt starrte. »Willst du denn nicht wissen was drin steht?«, fragte Sara, als ich nicht sofort aufsprang um ihr entweder sofort eine zu verpassen oder sie nach dem Inhalt meines Briefes zu fragen. »Nein«, sagte ich. »Ich habe ihn schon gelesen und das was drin steht ist mir völlig egal.« Das war gelogen. Natürlich hatte ich den Brief nicht gelesen. Seitdem ich ihn zerknüllt zwischen meine Matratze gesteckt hatte, hatte ich abgesehen von dem komischen Gespräch zwischen Sara und mir nicht mehr daran gedacht. Wahrscheinlich war sie deswegen einfach so davon gestürmt. Natürlich. Hier drin erfuhr man nicht viel von der Außenwelt. Ich hoffte nur, dass Sara sich nicht mehr an unsere Gespräche erinnern konnte oder einfach vergessen hatte, dass ich ihr sagte, dass ich gar nicht wissen will, was Theo mir schrieb. »Oh.« Mehr sagte sie nicht. Keine Anspielung, dass ich also dieses und jenes schon wusste und niemanden hier etwas davon erzählt hatte. Keine Beschuldigungen wegen was auch immer ich schuldig war. Nichts. Erleichtert atmete ich aus. Der Zettel war also verschwunden und ich würde nie wieder über dieses Thema sprechen müssen. Den Rest des Tages verbrachte ich im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher. Es liefen unentwegt sinnlose Zeichentrickserien, die die anderen Mädchen sich mit Vergnügen reinzogen. Während einer Werbepause rastete Alice aus, weil man uns hier drin keine Schokolade gab, in der Werbung aber ständig freudige Kindermünder, vollgeschmiert mit Schokolade in die Kamera grinsten. Jil starrte wie immer mies gelaunt im Zimmer umher, Sara kam und ging immer wieder und ich versuchte meinen Kopf konsequent auf Leerlauf stehen zu lassen. Ein Typischer Sonntag in der Anstalt.

Als ich am Abend in meinem Bett lag und nach dem Zettel in der Matratze griff, war er verschwunden. Es dauerte ein paar Momente bis mir wieder einfiel, dass Sara ihn mir geklaut hatte. Die Erleichterung vom Vormittag schwand in der Sekunde, als ich mich aufsetzte, gut möglich das sie schon verschwunden war, als ich den Entschluss gefasst hatte mir doch durchzulesen, was Theo mir schrieb. Vielleicht wollte ich auch einfach wissen, ob er ihn nicht doch vielleicht – nur ein ganz kleines bisschen – erwähnen würde. Mein Herz machte einen Sprung, schlug hart gegen meine Brust, genau wie damals, kurz bevor wir uns das erste Mal trafen. Natürlich bekam ich keine Herzförmigen Blutergüsse vom schlagen meines Herzens, jedenfalls keine Sichtbaren. Ardian aber hatte mehr Prellungen in mir hinterlassen, als er je ahnen würde. Ab dem Abend der Party schlug mein Herz nur noch hart, hielt mich nur noch unter Schmerzen am Leben. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Jemanden einen schlechten Menschen zu nennen, nur, weil er böse Dinge tut ist einfach, aber sich selbst als einen zu bezeichnen, wenn man sich nicht einmal selbst kennt, eine ganz andere Sache. Ich sprang auf, riss die Tür meines Zimmers auf und wollte gerade den Gang entlang zu Saras Zimmer rennen, da entdeckte ich sie im Raucherkäfig. Es war dumm von ihr sich jetzt noch nach draußen zu begeben, wenn in fünf Minuten die Türen verriegelt werden würden, säße sie fest bis die Nachtschwester sie finden und dann bestrafen würde. Wenn man sich hier nicht an die Regeln hielt, wurde man bestraft. Es fing mit Kleinigkeiten wie keinen Nachtisch zu bekommen an, ging über zu Putzarbeiten und anderen Dingen wofür es normalerweise Personal gab. Wer sich aber nicht an die Zeiten der Nachtruhe hielt, wurde für zwei Tage in die Katakomben gesteckt. Damit wir wissen, wie gut wir es in unserer weichen Dunkelheit haben, sagten sie. In Wirklichkeit bereitete ihnen wahrscheinlich eine Heiden Freude uns zu foltern. Schweigend reichte mir Sara ihre halb gerauchte Zigarette. Ihn nahm einen tiefen Zug und war Dankbar für das brennen in der Lunge. »Er liegt auf deinem Schrank, neben deiner Notfall Kippe«, sagte sie, drehte sich um und verschwand – wieder einmal – ohne ein weiteres Wort. In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Sehnsüchtig wartete ich auf das vertraute knacken der Türschlösser, die uns von eingesperrten Tieren hinter vergitterten Glasscheiben wieder zu irgendwas in der Art von Menschen machte. Mir wurde ein wenig schwindelig, als ich aufsprang um mir einen Stuhl heranzuziehen, doch ich ignorierte das Gefühl, sprang auf dem Stuhl und tastete vorsichtig an der Kante meines Schrankes entlang, bis ich auf das gesuchte Papier stieß. Mit zitternden Händen faltete ich den Papierball auseinander, strich ihn glatt, faltete ihn zu einem kleinen Viereck und schob ihn in die Mitte meines Tagebuchs, was ich stets in meinem Hosenbund versteckt trug. Ich war bereit zu lesen was Theo mir schrieb. Aber ich war nicht auf meine Reaktion bereit. »Wie geht es dir heute, Hannah?«, fragte Doktor Waggoner wieder einmal. Ich schwieg.  »Wie war es für dich, immer mehr und mehr Zeit mit Theo zu verbringen?«, fragte sie und lies dabei ihren Stift schon über ihrem Notizbuch kreisen. »Seltsam.« »Wieso fühlte es sich seltsam an, Hannah?«, fragte sie. »Weil es unecht war. Nur gespielt.« Ich ging zu meinem üblichen Platz am Fenster und starrte durch die Gitter hindurch in den Wolkenverhangenen Himmel. »Ist das so? Bist du dir sicher, Hannah, dass alles nur gespielt war?« Da war sie wieder, die ‚Ich verstehe dich, Hannah, du kannst mir alles anvertrauen, Hannah, ich werde dich ausquetschen wie eine überreife Zitrone bis ich jedes auch noch so kleine Detail deiner Seele kenne, Hannah' Stimme. »Ja«, log ich. An manchen Tagen konnte ich zwischen meinem Schwindel und und der Wirklichkeit einfach nicht mehr unterscheiden. Oder war es die Wirklichkeit meines Schwindels? Oder der Schwindel meiner Wirklichkeit? 

 Nach dem Mittagessen schloss ich mich in der Dusche ein und öffnete langsam und mit zittrigen Fingern den Butterblumengelben Zettel. Die Worte rissen meine Lungen auseinander, ließen mein Herz sich zu einer Blutigen, pulsierenden Masse auflösen, meine Zehen verkrampften sich, ich schlotterte, schluchzte und kroch schwankend zur Toilette. Ich übergab mich, warf den Zettel in den noch immer wie Spaghetti aussehenden Brei und drückte die Spülung. Was nicht mehr da war, konnte auch nicht mehr existieren. Manche Dinge sollten besser unreal bleiben.




Ardian will dich sehen. Let it be!

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