8. Tagebucheintrag

      »Nichts«, sagte Theo. »Was würde es bringen?« Er atmete tief ein und sah mir dabei wohl das erste Mal seit wir uns kannten bewusst in die Augen. »Ich glaube, wenn man von Rachsucht gesteuert wird, kann man nicht mehr man selbst sein. Man macht sich von demjenigen abhängig der einem vermeintlich Leid zugefügt hat, Paradox, oder?« Ich schluckte. Hatte er Recht mit dem was er sagte? Das gleiche hatte in gewisser Form in seinem Buch gestanden, welches ich heute Morgen gelesen hatte. War ich abhängig von Theo? Nein, das war völlig ausgeschlossen. Er hatte Rache verdient. Klar, musste ich ihm in Gewisser Weise Recht geben. Ich war wirklich nicht ich selbst. Ich war nicht mehr Hannah, die in allem etwas Gutes sah. Ich war nicht mehr das schüchterne Mädchen aus der Kleinstadt. Ich war nicht mehr lieb zu allen Menschen, selbst wenn diese es nicht verdient hatten. Vor alledem  war ich aber nicht mehr glücklich. Welchen Grund hätte ich auch dafür gehabt? Und genau aus diesen Gründen war Rache eine Notwenigkeit. Theo hatte es verdient zu leiden. Und das würde er. »Ich glaube« setzte ich an, wusste aber nicht so richtig wie ich meine Gedanken richtig formulieren sollte, also nahm ich einen großen Schluck Bier und schob dazu noch das letzte Stückchen meines Kuchens hinterher ehe ich weiter sprach. »Rache kann durchaus eine gute Sache sein. Für den der Rache ausübt ist es bestimmt eine Genugtuung.« Und vielleicht werde auch ich eines Tages ein gutes Gefühl haben – wenn meine Rache vollendet ist. Den letzten Teil des Satzes fügte ich nur in Gedanken hinzu. »Das ist großartig«, sagte Theo. Ich stutze. Gerade eben hatte er doch noch etwas völlig Anderes behauptet. Er musste meinen verdutzten Blick gehen haben denn er lächelte mich schwach an. Es war eines von diesem Lächeln bei denen die Freude zwar auf den Lippen lag, sich jedoch nicht bis zu den Augen durchringen konnte. »Für unsere Ausarbeitung meine ich. Es wird gut sein die Fürs und Widers abzuwiegen.« Da war ich ganz seiner Meinung. Also machten wir uns an die Arbeit. Ich wusste bereits an diesen Moment, dass ein Nachmittag in der Hölle meinem Seelenleben mehr Spaß gemacht hätte.

 »Ich brauche Schokolade«, stöhnte ich und ließ dabei meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Theo und ich hatten geschlagene vier Stunden an unserer Ausarbeitung gesessen, bis diese endlich fertig und in Theos Augen perfekt war. Alles andere ließ er einfach nicht gelten. Ein paar Mal nannte ich ihn einen schrecklichen Streber, woraufhin er nur mit den Schultern zuckte und mir klar machte, dass er das bereits seit der ersten Klasse wusste, schon allein weil seine Schulkameraden ihn Täglich damit aufzogen. »Ich habe leider keine da aber um die Ecke ist eine Tankstelle und ich hätte auch nichts gegen ein bisschen Fettmacher Glück einzuwenden.« Also machten wir uns wenige Minuten später auf in Richtung Tankstelle. Meine Sachen hatte ich bei Theo gelassen. Eigentlich wollte ich gleich alles mitnehmen und mich anschließend mit meiner Schokolade nach Hause verdrücken aber Claudia hatte darauf bestanden das wir alle zusammen noch einen Film anschauen würden. Ich wollte nein sagen, aber es ging einfach nicht, denn bei dem Gedanken daran allein in meiner spärlich eingerichteten Wohnung im Halbdunkel zu sitzen und Schokolade zu essen, wurde mir beinahe übel. Ich war an so verdammt vielen Abenden allein und immer fühle ich, wie die Dunkelheit der kalten Mauern um mich herum zu mir sprach. Sie sagte ich solle zu ihr kommen, mit ihr verschmelzen, eins werden, damit das Böse in mir endlich seine gesamte Stärke erreichen konnte. Ich hatte panische Angst im Dunkeln seit ich nach Berlin gezogen war. Da klang ein Filmabend mit Claudia und Theo wie eine pure Luxusreise. Diese Tankstelle glich einem Schokoriegelparadies. Ich hatte noch nie eine solch perfekte Auswahl an Schokolade gesehen. Es gab Schokolade in allmöglichen Formen, Farben und Bestandteilen. Mit Nüssen, Joghurt, Beeren, Cornflakes, Caramel oder Erdnussbutter. Sogar eine mit Paprikachips Geschmack und eine mit Crackern auf der Schokolade. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mich durch all die verschiedenen Sorten gewühlt hatte. Als ich es aber letztendlich doch noch schaffte mich für ein paar Riegel zu entscheiden, machte Theo – der bereits an der Kasse auf mich wartete große Augen. »Wow, für einen so kleinen Menschen hast du einen ziemlich großen Appetit.« Er selbst hatte sich für vier Riegel und eine Tüte Pombären entschieden. Ich lud meinen kleinen Schokoladenberg an der Kasse ab und kramte nach meinem Geldbeutel. »Ich konnte mich eben nicht so ganz entscheiden«, murmelte ich und suchte weiter. »Dit macht dann dreiunzwanzigachzisch, junge Dame«, sagte der Kassierer und hielt mir eine riesige Hand entgegen. Was komisch war, denn der Mann selbst sah ziemlich klein aus. Ob es an seinem viel zu großen Pullover oder daran lag, dass der Kassentresen mir fast bis zum Kinn reichte, wusste ich nicht. Doch seine Hand war einfach enorm. Fast musste ich kichern. Ein seltsam geformter Mann und noch dazu mein erster richtiger Berliner. Ich fand meinen Geldbeutel, legte dem Kassierer sein Geld passend in die Hand und grinste über meinen eigenen Wortwitz. 

 Nachdem ich fast alle Schokoriegel verdrückt hatte, stellte sich eine leichte Übelkeit ein. Aber das war es Wert. Der Film, den wir schauten, war eine einzige kitschige Aneinanderreihung von Liebesbekundungen und Herzschmerz. Ich hatte keine Ahnung wieso Claudia gerade diesen Film ausgesucht hatte, denn sie saß zu meiner Rechten Seite und heulte den kompletten Film über wie ein Schlosshund. Damit sie sich ein wenig besser fühlte, überließ ich ihr meinen letzten Riegel. Ein türkisgrünblauer Riegel mit pinken Blumen und dem exotisch klingenden Name Mahalo. »Danke«, murmelte Claudia, wobei die abwechselt von der Schokolade abbiss und sich die Nase mit ihrem bestimmt fünften Taschentuch putzte. »Ich liebe Kokos.« Ich hasste Kokos in Verbindung mit Schokolade, darum lächelte ich sie an und war wegen so einer Kleinigkeit ein kleines bisschen glücklicher als ich es eigentlich hätte sein sollen. Theo, der halb auf seiner Schwester schon vor einer ganzen Weile eingeschlafen war, schnarchte leise vor sich hin. »Kannst du mal kurz übernehmen, Elis? Ich müsste mal zur Toilette.« Entschuldigend sah Claudia mich an. Achselzuckend nickte ich. Als ich sah, wie Claudia mit ihren verheulten Augen mich um so eine Kleinigkeit bat, konnte ich nicht nein sagen. Mal wieder nicht. Sie flüsterte ein leises danke, schob sich unter Theo hindurch und ich nahm ihren Platz ein. Es fühlte sich seltsam an seinen Kopf an meiner Schulter lehnen zu spüren. Ich war eine lange Zeit keinem Menschen so nahe gewesen. Von Adrians Hand auf dem Dach mal abgesehen. Aber das war nur eine Hand. Das hier war eine viel intensivere Situation. Wann kam Claudia endlich zurück? Ich drehte meinen Kopf ein paar Zentimeter, sodass ich von Oben herab auf Theos Gesicht schauen konnte. Er sah sehr zufrieden aus, atmete leisen und gleichmäßigen warmen Atmen in die Luft vor uns. Leichter Kokosgeruch strahlte von seinem Körper in meine Nase. Ich mochte Kokos zwar nicht in der Verbindung mit Schokolade, jedoch als Körpergeruch gefiel er mir recht gut. Nicht so gut wie Apfel, aber immerhin gut. Während ich sein schlafendes Gesicht beobachtete, stellte ich fest, das seine Augenlieder leicht lila verfärbt waren, was aber sonst nie zu erkennen war. Ich ging näher ran und sah, dass es sich um winzige Adern handelte, die sich in gezackten Linien über seine Lider verteilten. Er hatte etwas derart Zerbrechliches an sich, dass ich es fast nicht mehr aushielt zu atmen. Ich wollte ihn nicht so sehen. Wollte nicht, dass ich nicht mehr das Monster in ihm sah welches meine Freundin auf dem Gewissen hatte. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit kam Claudia zurück. Sobald der Film zu Ende war würde ich mich auf den Weg nach Hause machen und mich der Dunkelheit stellen.

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