Sekt Teil59


Als Jem mit den Einkäufen kam, war er einigermaßen erstaunt über das, was Callum und Rory zu berichten hatten. Nie hätte er für möglich gehalten, dass seine Nachbarin so reagieren könnte.

„Ich gehe runter und rede mit ihr", schlug er vor, während er den Kopfsalat als letztes in den Kühlschrank räumte.

„Ich gehe", schlug Rory dann vor. „Sie hat wohl was gegen euch."

„Sag ihr, dass sie den Hund nicht kriegt", beharrte Callum. Der saß am Küchentisch und streichelte Buster, der ihm den Kopf aufs Knie gelegt hatte.

„Sag ihr, dass es ihm leidtut."

„Red keinen Schwachsinn, Jem, das tut es nicht."

„Okay, Rory, lass den Schwachsinn weg und denk dir was anderes aus."

Rory grinste etwas hilflos, dann versprach er, sich was einfallen zu lassen.

Jem setzte sich an den Tisch, Cal gegenüber und schaute ihn an.

„Jetzt sag, schon, was los ist", begann er.

Cal wusste sofort, was er meinte. „Ich... ich bin es einfach leid, dass mich irgendwer scheiße behandelt. Das einzige, was mir leid tut ist, dass du jetzt auch bei ihr unten durch bist."

Jem zuckte mit den Schultern. „Muss dir nicht leid tun. Im Grunde find ich's gut, dass du dich wehrst. Egal gegen wen."

„Das sagst du jetzt nicht nur, um mich zu trösten?"

„Nein. Ich find's wirklich gut. Wahrscheinlich hätte ich das genau so gemacht. Nur mit anderen Worten."

Cal fing an zu lächeln. Er war mehr als getröstet. Er hatte tatsächlich das Gefühl, dass er mit Jem jemanden gefunden hatte, der zu ihm hielt.

„Du bist das Beste, was mir je passiert ist."

„Das find ich auch." Mit diesen Worten musste Jem seinen tapferen Liebsten einfach küssen. Er war genau genommen sogar richtig stolz auf ihn. Er würde sich nie wieder nicht wehren und er würde sich verteidigen. Er wusste ganz genau, was richtig oder falsch war und nichts anderes hatte er Mrs Pennygrin wissen lassen. Er beugte sich zu Callum hinunter und hob sein Kinn an, damit sich ihre Lippen trafen. Callum schloss die Augen und öffnete seine Lippen für Jems zärtlichen Kuss, der auf seine Art bittersüß war. Wenn Jem ihn so küsste, dann fühlte Cal deutlich, wie sehr ihn der andere liebte und begehrte, andererseits mischte sich wieder das Gefühl der Angst hinzu, dies könnte einer der letzten Küsse für längere Zeit gewesen sein. Was, wenn er vor Gericht auch die Beherrschung verlor? Was dann? Er wollte nicht daran denken und küsste weiter und legte Jem eine Hand ins Haar.

Ein überdeutliches Räuspern ließ die beiden schließlich den Kuss beenden. Rory war zurück. „Nur dass ihr das wisst, ihr zwei Turteltauben, der Hund gehört jetzt Callum."

„Waas?" Jem konnte es nicht glauben.

„Wieso? Was hast du gemacht?", wollte Cal wissen.

„Nichts Besonderes. Ich hab der Alten Geld gegeben. Sie schien richtig erleichtert."

„Dann ist Buster jetzt dein Hund", stellte Cal fest.

„Den schenk ich dir, Bruderherz."

„Das geht doch nicht."

„Doch, genau das geht. Ich möchte mir nicht vorstellen, dass du den Hund zurückgeben musst, nur damit die ihn dem nächsten Nachbarn zum Aufpassen überlässt. Der hat auch ein Zuhause verdient." Rory fiel auf, dass er „auch" gesagt hatte. Aber ja, so hatte er es auch gemeint. Das hier würde Cals und Busters zuhause werden. Endlich. Er war darüber richtig gerührt und lächelte. Dann stand Cal auch schon auf und umarmte seinen Bruder ganz fest.

„Du bist ganz große Klasse, großer Bruder", fand er.

„Ja, ja, schon gut."

„Nein, wirklich."

„Na gut, okay."

In dem Moment klingelte es an der Wohnungstür.

„Wer kann das sein? Die Pennygrin?" Jem war ratlos. Vielleicht Alexander? Er ging zur Tür und öffnete. Davor stand Roger. Was für eine Überraschung!

„Hey Roger, woher weißt du, dass wir zurück sind? Komm rein."

„Ich komm gerade von der Arbeit und habe eure Stimmen gehört. Hier ist ja echt die Freude los!"

„Na, wärst du vor 'ner halben Stunde gekommen, hättest du was anderes gehört."

Jem kam nun mit Roger in die Küche. Als Roger Rory und Cal sah, geriet er halb aus dem Häuschen. „Na sieh einmal an! Die Robinson- Brüder wieder vereint!"

Rory war einen Augenblick irritiert, aber da war Callum schon bei Roger, um ihn fest zu drücken. „Du hast das fertig gebracht!", rief er voller Dankbarkeit. „Rory, das ist Roger, er hat mich vor der Tür und dann hat er dich gefunden."

Damit war für Rory alles klar. Er kam hinzu und hielt Roger die Hand hin.

„Vielen Dank, mir fehlen die Worte."

Roger ergriff die Hand und zog daran auch Rory in eine herzliche Umarmung. „Lass mal gut sein, Junge, hab ich gern gemacht." Dann schaute er die Beiden Brüder, die jetzt nebeneinander vor ihm standen an und staunte nicht schlecht, weil sie sich so sehr glichen. „Jem, wenn du den Kleinen gut genug fütterst, dann wird der auch so'n Kerl wie der andere."

„War das ein Stichwort?", gab Jem im Scherz zurück. „Ich hab eingekauft und wir können gern zusammen kochen und essen."

„Da bin ich gern dabei, um zu hören, was es Neues gibt."

„Cool. Dann setzt euch mal alle und wir fangen mit einem Glas Sekt an."

Gesagt, getan. 



Viel später am Abend war, als es Zeit für Roger war, zu gehen, gingen er und Jem gemeinsam ins Treppenhaus. Jem hatte Buster dabei, um mit ihm nochmal kurz um den Block zu gehen, während Callum Rory half, die Couch in Jems Wohnzimmer für die Nacht einzurichten. „Rory hat es schon gesagt, Roger, es gibt dafür keine Worte. Wir sind dir alle dankbar für das, was du getan hast und es war nicht so selbstverständlich, wie du tust."

„Ich hab's echt gern gemacht. Und meine Aussage bei der Polizei wird dafür sorgen, dass ihr diesen Prozess gewinnt. Wirst du sehen."

„Inzwischen bin ich zuversichtlich. Cal kriegt das hin."

„Na dann ist ja alles bestens. Gute Nacht und bis morgen."

„Gute Nacht."

Die Brüder hatten inzwischen Jems Couch ausgezogen und weil Callum sich inzwischen ganz gut bei Jem auskannte, suchte er das Bettzeug her und was Rory sonst noch brauchen würde. Er tat Handtücher ins Bad und erklärte Rory die Fernbedienung für das Licht. Dann holte er noch eine Flasche Wasser und ein Glas, falls Rory nachts Durst bekäme. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, hatte Rory sich bereits ausgezogen und trug nur eine Pyjamahose. Er hatte Callum den Rücken zugewandt und Callum kam beim Anblick von Rorys muskulöser Kehrseite in den Sinn, was Roger gesagt hatte. Wenn Jem ihn gut genug fütterte, dann würde aus ihm auch so ein Kerl... In dem Moment, als Rory ein T-Shirt überzog, war es dann schon zu spät. Callum hatte etwas gesehen, das er vorher noch nicht bemerkt hatte. Wie auch. Er stellte eilig Flasche und Glas ab. Von dem Geräusch fuhr Rory herum, der wohl nicht mit Callums schneller Rückkehr aus der Küche gerechnet hatte. Fuck.

„Woher hast du diese Narben?" Callums Stimme war nur ein Flüstern. So als gäbe es eine Chance, dass er sich die Striemen und die Krater auf Rorys Rücken vielleicht nur herbeihalluziniert hätte, wenn er es nicht laut aussprach.

„Das weißt du doch." Auch Rory flüsterte nur.

Cal blinzelte unsicher. Wusste er das? Ja, irgendwie, ja, wusste er das. Oh. Ja natürlich, diese Träume voller Angst und Gebrüll und Geschrei. Aber wie?

Wie ist das passiert?" Er trat dichter an Rory heran. So dicht, dass er spüren konnte, wie Rory stoßartig atmete. Ihm war das unangenehm. Er war getriggert.

„Schscht, schscht", flüsterte Calum jetzt. „Lass mich sehen, ich muss das sehen."

„Nein."

„Doch."

Rory blinzelte, aber er wehrte nicht ab, als Callum ihm jetzt das T-Shirt über den Kopf zog. Er atmete noch heftiger.

„Schscht, schscht, dreh dich um."

Ganz langsam drehte Rory ihm nun tatsächlich den Rücken zu. Da waren alle möglichen Narben. Callum fuhr vorsichtig mit den Fingern darüber. Da waren diese Striemen. Manche verliefen gerade, andere hatten seltsame Knoten. „Dad's Gürtel, die Schnalle", erklärte Rory, so als wäre das nicht völlig offensichtlich. Callum nickte nur, was Rory nicht sehen konnte. Ihm kamen die Tränen. Da waren kleine, kreisrunde Vertiefungen, gerade so als ob...

„Dad's Zigaretten", erklärte Rory.

Callum kam die Erinnerung zurück. Der Geruch von Tabak und verbranntem Fleisch. Er beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf eine Stelle im Nacken, wo mehrere dieser Brandnarben waren. Schließlich waren da noch zahlreiche Narben von kleineren und größeren Schnitten. Wie konnte ihr Vater das mit Rory gemacht haben? Wie kam er dazu, seinen eigenen Sohn in Scherben zu drücken oder zu treten?

„Warum?", flüsterte Callum und weinte jetzt unaufhaltsam.

Rory gab keine Antwort. Es gab auch keine, denn es gab keinen Grund, warum ein Vater seinen Sohn so quälen sollte.

„Warum hab ich keine?"

Wieder keine Antwort.

„Du hast mich beschützt. Darum hast du so viele. Genug für zwei..."

Callum hatte genug gesehen und Rory genug ertragen. Er drehte ihn um, zog ihm das T-Shirt wieder über. Ganz langsam und vorsichtig und endlich nahm er ihn in den Arm. 

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