Schule Teil57

Während der Aufführung konnte Jem nicht anders und schaute immer wieder zu Callum, was genau genommen zwei Gründe hatte. Zum einen war ausgerechnet dieses Stück eines der unheimlichsten und blutigsten Shakespeares und es gab nicht umsonst den Aberglauben am Theater, dass es Unglück brächte, wenn man den Namen des „schottischen Stücks" aussprach. Jem hatte inzwischen genug Einblick in Callums Vergangenheit und die Gegenwart seiner Träume und Ängste erhalten, sodass es gut möglich wäre, dass ihn das Geschehen auf der Bühne triggerte. Aber zum anderen war die Neugier zu groß. Die Neugier Callums selbst, der unbedingt wissen wollte, was Rory am Theater so machte und die Neugier Jems, ob Callum damit überhaupt etwas anfangen konnte. Das hatte nichts damit zu tun, wie sehr er in den jungen Streuner verliebt war, oder ob er ihn weniger lieben würde, weil er nicht gebildet war. Jem war sich darüber im Klaren, dass Cal kaum auf der Schule gewesen sein konnte oder nicht viel davon mitgekriegt hätte, wenn er zuvor von seinem Dad drangsaliert worden war. Callum aber war nicht dumm, soviel war sicher. Wie er redete klang gelegentlich nach Gosse, aber was er redete und warum war völlig anders. Und wenn Jem jetzt hinsah, nur kurz und von der Seite, dann sah er, dass Cal dem Stück aufmerksam folgte und regelrecht mitging. Das hier ging alles andere als an ihm vorbei und langweilte ihn kein bisschen im Gegenteil. Vielleicht sollte Jem sich darum kümmern, dass Cal nicht einen Job sondern eine Schule suchte. Er war gerade zwanzig, du liebe Güte. Das war doch kein Alter. Und Jem verdiente nicht schlecht. Er könnte ihn unterstützen, so lange er zur Schule ging. Macbeth hatte inzwischen den König ermordet und er und seine Lady hatten dafür gesorgt, dass die unschuldigen Wachen dafür getötet wurden. Callum schien richtig aufgeregt deswegen. Und noch aufgeregter war er, als Banquos Geist seinem Mörder Macbeth erschien. Jem erwischte sich dabei, wie er vor sich hin lächelte, weil Callum so voll auf das Stück einstieg. Cal schien zu bemerken, dass Jem schaute und lächelte, denn er beugte sich zu ihm herüber und flüsterte ihm zu. „Is was?"

„Nein, alles gut," flüsterte Jem zurück. „Dir gefällt Shakespeare."

„Das ist voll grausam."

„Stimmt." Jem lächelte noch mehr, aber Cal sah es nicht, weil er schon wieder gebannt auf die Bühne schaute. Schlau. War ja klar.

Als das Licht zur Pause anging, sah Jem, dass Callum sogar richtig mitgenommen aussah. Er war blass und sah aus, als hätte er geweint. „Wenn's dir zu viel wird, gehen wir. Rory ist bestimmt nicht sauer deswegen."

„Nein, bloß nicht. Ich muss wissen wie das ausgeht."

Rory schaute jetzt neugierig und wollte wissen, was los sei.

Noch bevor Jem etwas sagen konnte, begann Callum. „Jem denkt, ich könnte kein Blut sehen." Er rollte gespielt genervt mit den Augen.

„Unsinn", verteidigte sich Jem, „ich denke nur, dass es dich anfrisst, wenn die sich da auf der Bühne abschlachten."

„Das tut's, aber ich find's spannend."

Rory kam jetzt erst der Gedanke, dass er die beiden tatsächlich nicht gerade in die familienfreundliche Feel-Good-Komödie der Saison gelotst hatte. „Oh, sorry Jungs, ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Ist echt alles gut?"

„Ja sicher." Cal bekam wieder etwas Farbe um die Nase.

„Cool. Dann hol ich uns allen mal ein Eis", schlug Rory nun vor, zwinkerte und schob sich durch die Sitzreihen bis zur Eisverkäuferin.

„Ich fürchte, dieser Macbeth wird nicht überleben und seine Frau auch nicht", bemerkte Callum jetzt.

Das stimmte, Jem war verblüfft. „Wie kommst du darauf? Du kennst das Stück doch gar nicht."

„Der hat seinen König und seinen einzigen Freund umgebracht. Und jetzt dieser Geist. Der hat voll das schlechte Gewissen. Und sie ist nicht gerade eine Hilfe."

Das stimmte auch. „Was hältst du denn von dieser Prophezeiung?", fragte Jem. Die Prophezeiung der Hexen war einer der Knackpunkte in dem Stück. Hatten die Hexen vorausgesagt, was ohnehin passieren würde, oder passierten diese Dinge, weil sie Macbeth prophezeit worden waren und er sie in die Tat umsetzte?

„Weiß ich noch nicht", gab Callum zu, „die tun ja so, als würde der Typ zum Mörder, weil es so vom Schicksal vorherbestimmt ist. Ich möchte lieber glauben, dass man sein Schicksal selbst bestimmen kann."

„Ich auch." Jem fand die Antwort nicht nur ehrlich und klug, er fand auch, dass es so sein sollte.

„Weißt du eigentlich, wie klug du bist?", fragte Jem dann gleich hinterher.

„Weil ich mir von Hexen nichts sagen lassen will?"

Jem grinste. „Deswegen auch."

„Weswegen noch?"

„Ich werde jetzt nicht spoilern. Das Stück geht noch weiter."

„Jetzt spoiler schon!", drängelte Callum.

„Oh nein."

In dem Moment kam Rory mit dem Eis. „Was ist denn hier los?"

„Jem verrät nicht, wie's ausgeht", beschwerte sich Cal.

„Aha."

„Sag du es!"

„Ich? Sorry, als Mitarbeiter darf ich das gar nicht. Ich habe übrigens nicht gewusst, was ihr wollt, also gibt's Vanille, Schoko und Erdbeer." Rory zwinkerte Jem zu. Kaum hatten sie ihr Eis gewählt, da ging auch das Licht schon aus für den zweiten Teil.

Als die Vorstellung zu Ende war, hatte sich natürlich auch Callums Prophezeiung erfüllt, dass Macbeth nicht überleben würde und Jem hatte bemerkt, wie sehr er vor allem in den letzten Szenen mit Lady Macbeths blutigen Händen und dem wie durch Zauberei näher rückenden Wald mitgefiebert hatte. Jetzt klatschte er begeistert und auch Jem und Rory gaben reichlich Applaus für die Schauspieler und die Inszenierung. Als das alles vorüber war, ging Rory mit ihnen zu der Techniker-Loge, wo er seine Kollegen traf. Dort lief es ähnlich wie mit dem Pförtner. Die beiden Jungs am Licht hießen Ben und Liam und freuten sich, Rorys Bruder und seinen Freund kennenzulernen, obwohl beide ebenfalls nicht gewusst hatten, dass er einen Bruder hatte.

„Das hast du nie erwähnt", sagte dieser Ben ehrlich überrascht.

„Na, zu übersehen ist es nicht", ergänzte Liam.

„Wo hast du ihn denn versteckt?"

Rory zögerte keinen Augenblick. Er musste sich überlegt haben, was er sagen könnte, ohne dass es unangenehm wurde. „Er lebt in London mit Jeremy."

Das war kurz und clever. Die beiden schluckten das problemlos. Es war nur logisch anzunehmen, dass ein schwules Paar eben in London lebte.

„Und was verschlägt euch nach Stratford?", wandte sich Ben an Callum.

„Wir wollten Rory besuchen und ich wollte sehen, was er hier macht."

Jem lächelte nur bei Callums Worten. Besuchen statt suchen oder finden war auch clever ausgedacht. Rory erklärte nun ein bisschen was über die Scheinwerferanlage des Hauses und dass vieles längst Computer- gesteuert war, dann verabschiedeten sie sich und machten sich auf den Heimweg. Irgendwo holten sie noch Fish and Chips für drei, um die in Rorys Küche zu verschlingen. Buster hatte geduldig gewartet und Callum drehte mit ihm noch eine kleine Runde, während Rory seine Sachen für London packte und Jem die Nachrichten von seinem Vater und von seinem Verleger checkte. Als Cal und Jem dann endlich in Rorys Bett aufschlugen, war es bereits nach Mitternacht. Sie knutschten ein bisschen und kuschelten sich aneinander und Jem hatte das Gefühl, dass er noch sagen sollte, was er heute empfunden und gedacht hatte, bevor Callum todmüde einschlafen würde.

„Cupid?"

„Mmmmh ja?"

„Du sollst wissen, dass ich stolz auf dich bin."

„Hhhmmm? Wwwieso dennn?"

„Du bist klug. Sehr sogar."

„Wwegen diesem Shakespeare?"

„Ja, aber nicht nur. Das ist mir schon längst klar."

„Wegen dieser Fellatio-, Frenulum- Liste von Alexander?"

Jem lachte kurz auf. „Auch, ja. Und bevor du fragst, auch weil du alte Filme magst. Aber ich denke, dass mir das von Anfang an klar war. Und ich finde, du könntest zur Schule gehen."

„Zur Schule? Ist das dein Ernst?"

„Ja, sicher. Du bist gerade erst zwanzig. Du solltest einen Schulabschluss machen und etwas aus dir machen. Denk mal darüber nach."

„Wenn ich nachdenke, denke ich, dass ich womöglich in fünf Tagen im Knast bin. Wegen der Dinge auf Alexanders Liste."

„Das wird nicht passieren."

„Wie kannst du da so sicher sein?"

„Mein Dad lässt das nicht zu. Und ich nicht und Rory auch nicht."

„Was wollt ihr denn tun?"

Jem überlegte. Er vertraute seinem Vater und auf seine Fähigkeiten als Anwalt. Und es wäre völlig absurd, Callum einzusperren, weil er fast vergewaltigt worden wäre. Trotzdem gab es ja vielleicht etwas, was man tun konnte, um zu beweisen, dass sein Liebster kein gewalttätiger Junkie und billiger Sex-Worker war, sondern jemand, der sich in so ein Dasein verirrt hatte, aber nicht dahin gehörte, weil er nicht so war. Er strich Callum mit der Hand sanft durchs Haar, dann kam ihm eine Idee. „Wir schaffen einfach andere Tatsachen."

„Was meinst du?"

„Wir suchen eine Schule, die dich aufnimmt oder einen Job. Etwas, damit die Typen bei Gericht kapieren, dass du ein völlig normales Leben führst. Du bist clean. Du bist in einer funktionierenden Beziehung. Du hast einen Bruder. Die können dich nicht aus all dem herausreißen, nur weil dieser Typ, dieser J behauptet, du hättest ihn angegriffen. Das ist absurd."

„Funktionierende Beziehung, normales Leben", wiederholte Cal, so als wolle er sich an den Gedanken gewöhnen. „Du meinst, die glauben das?"

„Das ist keine Lüge, das ist so."

„Du hast was vergessen."

„Was?"

„Wir haben einen Hund."

Jem musste lachen. „Naja, so gut wie. Also haben wir jetzt einen Plan?"

„Ich denke ja. Du bist genial."

„Ich bin nur praktisch. Ich will dich nämlich nicht hergeben."

„Das gefällt mir gut."

„Na und mir erst."

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