Rory Teil26
„Also gut", war alles, was Callum jetzt sagte, dann ließ er sich auf dem Teppich nieder. Jem kniete sich gegenüber zu ihm und war gespannt, ihm war klar, dass er der Erste und Einzige war, dem Callum anvertrauen würde, was er jetzt begann.
„Wir waren eine ganz normale Familie, glaube ich, bis Mum an Krebs starb. Ich war noch zu klein, um das überhaupt zu kapieren, acht oder so und es ging so schnell. Rory hat immer gesagt, ich sehe aus wie sie, aber ich kann mich nur an dieses kranke, graue Gesicht erinnern. Dad fing an zu trinken, nein, saufen trifft es besser und verlor seinen Job. Das muss ihn total verändert haben. Rory hat gesagt, er hätte uns früher richtig gern gehabt, mit uns gespielt oder Ausflüge gemacht mit Mum und uns. Aber das weiß ich alles nicht. Ich kannte ihn immer nur schlecht gelaunt oder schlafend, wenn er nicht besoffen war. Und es wurde schlimmer, er... wurde aggressiv, schrie dauernd rum. Wir konnten nichts richtig machen, vor allem ich nicht. Er schlug dann zu. Erst nur einmal oder so, wenn er glaubte, ich hätte seine Flasche versteckt oder wir würden seine Zigaretten rauchen. Dann immer öfter, heftiger. Ich glaube, Rory kam nur nach der Schule nachhause, damit Dad nicht alles an mir ausließ. Eines Tages ist er total ausgerastet. Ein Lehrer hatte ihn angerufen, wegen der blauen Flecken und ich war so erschrocken und dumm, dass ich nicht lügen konnte. Ich hatte gesagt, die wären von Dad, weil ich ihn immer wütend mache."
Jem konnte das alles nicht fassen. „Mein Gott, wie alt warst du?"
„Zwölf. Als ich auch am dritten Tag nicht in die Schule kommen konnte, kamen die vom Jugendamt. Die haben uns mitgenommen. Irgendwie war das ne Erleichterung, aber ... Es ist alles meine Schuld. Wenn ich die Klappe gehalten oder gelogen hätte, wär das nicht passiert..."
„Was wäre nicht passiert?"
Callum zögerte. Die Erinnerungen waren stark. „Erst waren wir im Heim zusammen, dann hieß es, für mich wäre eine Pflegefamilie besser. Rory war schon sechzehn, da hätte ihn niemand gewollt und schon gar nicht zwei Jungs mit nem riesen Altersunterschied. Ich war knapp dreizehn. Also musste ich zu diesen Leuten, Fergus hießen die. Die kriegten Geld, wenn sie Pflegekinder aufnahmen und ich war der zweite, der zu ihnen kam. Da war noch n anderer Junge, Gavin. Mit blondem Haar, wie du und nem tollen Lächeln. In den war ich dann verknallt. Ist einfach so passiert. Erst dachte ich, es ist, weil mir Rory so fehlt, aber so war's natürlich nicht." Callum schaute zu Jem, der wissend nickte.
„Und dann?"
„Die Fergusens sind ausgerastet, als sie was mitgekriegt haben. Sie hat uns erwischt, als ich mit ihm ausprobiert habe, wie küssen geht. Dass das nicht alle Jungs machen, war mir gar nicht klar. Aber das haben die sehr schnell klar gemacht und dann haben die mich wieder abgegeben, weil ich pervers war."
„Haben die das so gesagt?"
„So und noch anders auch. Ich dachte, okay, dann bin ich wieder bei Rory, aber so kam es nicht..."
Jem war sofort klar, als Callum hier stockte, dass noch etwas Schlimmeres passiert sein musste.
„War was mit Rory?"
„Nein. Ich glaube, ihm ging's ganz gut. Wir haben uns auch geschrieben und so. Aber... ich kam zu diesem Wichser, Jameson. Der hatte nichts dagegen, einen Jungen aufzunehmen, der auf Jungs stand. Im Gegenteil..."
Callum brauchte einen Augenblick, bevor er weitersprechen konnte. „Der Mistkerl war der Erste,... der Erste, der mich..., mit dem ich..." Er brach ab.
Jem war erschüttert. Sowas war möglich, in einem zivilisierten Land wie England?! Es gab Typen, die sowas mit einem schutzbefohlenen Teenager, nicht viel mehr als einem Kind taten?! „Der Typ hat dich missbraucht." Jem sprach es aus. Callum schaute nur auf das Muster im Teppich. Er war gerade ganz woanders, sah die furchtbarsten Bilder, fühlte den widerlichen Ekel, die ihn seit dieser Zeit immer wieder verfolgten.
„Das sagt man so", sagte er endlich leise, „aber das trifft es nicht. Er tat auch nichts anderes. Er sperrte mich ein, drohte, Rory auch zu uns zu holen, wenn ich nicht tu, was er sagt oder irgendwem was erzähle. Er hat mir beigebracht, wie man die widerlichsten Typen befriedigt und Schmerzen aushält. Er hat mir beigebracht, zu lügen und den Arsch hinzuhalten. Für Essen, Trinken, Licht, Luft, alles... Irgendwann kam er drauf, dass sich damit Geld machen lässt."
Jems Entsetzen nahm kein Ende. Er fasste nach Callums Händen, um die zu halten, weil er sah, dass sie zitterten und weil ihm jetzt eine Frage mehr als alles andere in den Sinn kam. „Wie hast du das...überlebt?"
Callum zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung. „Ich denke, ich bin zäh... und da war diese Party. Keine Ahnung, was genau, ich war mit irgendwas ruhiggestellt. Tabletten, nehme ich an. Jameson brachte mich dahin und da waren auch andere. Kerle, meine ich, ältere Kerle. Und Jungs wie ich. Als ich zu mir kam, hatte mich einer von denen einfach mitgenommen. Zerschunden und nur mit meiner alten Hose. Wir waren in nem Taxi und der Typ, Manford hieß der, sagte, ich sollte es gut bei ihm haben."
„Oh mein Gott..."
„Der war tatsächlich ganz okay. Ich meine, er war nicht brutal, hat mich auch mal in Ruhe gelassen und mir trotzdem zu essen und so gegeben. Er hat gesagt, ich erinner' ihn an seinen Sohn. Weiß nicht, ob er den auch gefickt hat oder nicht, weil er mich hatte. Das ging ne Weile, bis ich n bisschen kräftiger war, dann kam irgendwann seine Frau in die Wohnung als er nicht da war. Sie hat n riesen Aufstand gemacht. Hat nichts gewusst von der Wohnung oder dem, was ihr Mann so trieb. Die hat mich auf die Straße geworfen. Nur mit meinen Klamotten am Leib und dem Foto von Rory in der Hosentasche."
„Hast du nicht versucht, ihn zu finden, dir Hilfe zu holen, wie alt warst du?"
„Fünfzehn. Rory war nicht mehr in dem Heim und ich wollte bestimmt nicht wieder zu irgendeinem Pflegevater. Also bin ich geblieben, wo ich war, auf der Straße. Und hab getan, was ich...konnte."
„Aber dein Bruder, der hätte dir doch helfen können, wenn du..."
„Glaubst du, ich wollte, dass er sieht, was aus mir geworden war? Und es war alles meine Schuld. Wenn ich es bei Dad ausgehalten hätte, dann wäre das alles nicht..."
Jem legte einen Finger auf Callums Lippen. „Bitte hör auf, das stimmt doch nicht. Du..."
„...red' nicht immer so verständnisvoll, das kann ich nicht wechseln." Er schaute endlich vom Teppich auf und suchte in Jems Augen irgendeinen Hinweis auf Heuchelei oder falsches Mitleid, aber die waren da nicht. „Wie soll ich dir sagen, was ich dir sagen will, wenn ich nichts bin als jemand, der Unglück bringt? Ich bin beschädigte Ware, Jem. Ich kann dir nicht sagen, dass ich dich liebe. Ich will dein Leben nicht zerstören..."
Jem blinzelte. „Das tust du nicht. Und das bist du nicht. Und gesagt hast du es, eigentlich."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top