Macbeth Teil56

Die nächsten Tage glichen für Callum einer emotionalen Achterbahn. Tagsüber oder wenn er mit Jem oder Rory oder beiden zusammen war, ging es ihm wirklich gut und er kam sich auch stabil vor. Niemals käme ihm in den Sinn, etwas zu tun, was die Liebe und das Vertrauen zerstören könnte, die zwischen ihm und seinem Freund in so kurzer Zeit so stark gewachsen waren. Und ebenso wenig könnte er seinen Bruder enttäuschen oder verletzen, den er so unendlich vermisst und endlich wiedergefunden hatte. Aber die bevorstehende Verhandlung und alles was damit zusammenhing, ließen sein fragiles Selbstvertrauen schwanken, sodass er manchmal, vor allem nachts, glaubte, er habe überhaupt keinen Boden unter den Füßen. Selbst wenn er mit Jem und Rory zusammen war, konnte es passieren, dass ihn die furchtbarsten Zweifel überfielen. Wieso war jemand wie Jem in ihn verliebt? Wieso sollte sich Rory in seinem kaum erst geordneten Leben mit der Sorge um einen jüngeren Bruder belasten? Was war er ihnen, außer bestenfalls ein Liebhaber oder ein Blutsverwandter? Was war er überhaupt? Wenn es ihm in diesen Momenten des Zweifelns gelang, auszublenden, wie sein Vater, seine Pflegeeltern, sein verfluchter Pflegevater, all die Typen, die ihn missbraucht, all die Typen, denen er sich angeboten hatte, Typen wie dieser Manford und seine Frau, die anderen, denen er auf der Straße begegnet war, wie die ihn gesehen und bezeichnet hatten, was war er dann? Er war nicht Collin, Kevin, Chris, Ciaran oder Cay. Nur ein Teil von ihm, war all diese Jungs gewesen. Der Teil von ihm, der Callum war und nur Callum, was oder wie war der? Er liebte einen Schriftsteller, war aber nur mit Mühe selbst zu lesen fähig. Wenn er als Kind ein Buch besessen hatte, dann hatte er es vergessen. Er hatte keinen Schulabschluss und anders als Rory auch keine Idee, was er vielleicht könnte oder wofür er sich interessierte. Er hatte immer nur dafür sorgen müssen, dass er irgendwo den nächsten Schuss herbekam, dass er irgendwo schlafen könnte, wo es trocken und nicht zu kalt war, dass man ihn in Ruhe ließ und nicht beklaute, wenn er schlief, dass er etwas zu essen hatte, wenn er denn gerade klar genug dafür war. Er hatte sogar Jem beklaut. Es war nicht viel Geld gewesen, aber er hatte es geklaut. Vielleicht war er ja tatsächlich kriminell und sollte ins Gefängnis gehen? Er hatte auch andere beklaut. Nicht wirklich vorsätzlich, aber wenn sich die Gelegenheit ergab oder wie bei diesem Polyester Typen, wenn er fand, der normale Preis wäre nicht genug für das, was er mit sich hatte machen lassen. Er hasste das alles, hatte es immer gehasst und dennoch getan. Dann war er doch ein schlechter Mensch, oder? Rory und vor allem Jem schien das alles nicht zu stören. Sie machten Pläne und redeten darüber, was als Nächstes geschehen würde. Rory wollte seinen Bruder unbedingt im Theater vorstellen. Seine Freunde, Kollegen und Kolleginnen wären doch hundertprozentig neugierig, warum er nicht zur Arbeit kam. Und natürlich kannte Jem dieses Stück, von diesem Shakespeare- Typen und freute sich auf die Vorstellung, während Callum nicht sicher war, ob er es wirklich sehen wollte, wenn es so blutig und dieser Macbeth ein Mörder war, der seinen besten Freund umbringen ließ. Er würde bestimmt wieder diese Träume bekommen. Aber die kämen sowieso und so beschloss Callum, weder Jem noch Rory den Tag zu verderben. Sie gingen mit dem Hund spazieren, kochten gemeinsam und redeten darüber, dass Rory mitkommen würde nach London, für den Prozess. In Jems Wohnung war genug Platz, erst recht, wenn Busters Frauchen zurück war und er wieder bei ihr wohnen würde. Irgendwie machte das Callum nicht gerade wenig zu schaffen, dabei hatte Jem immer gesagt, es sei nicht sein Hund. Vielleicht kam es Callum deshalb so vor, als würde Buster zu ihm gehören. Er redete sich ein, dass es nicht so wild wäre. War ja nur ein Hund. Rory schaute manchmal, Callum wusste nicht genau wie, vielleicht nur um sicher zu gehen, dass Callum nicht plötzlich verschwand, vielleicht, weil er irgendwas ahnte, darüber, wie es seinem kleinen Bruder ging. Oder ahnte er sogar, dass Callum ihm nicht alles erzählt hatte? Fuck! Er redete jedenfalls über andere Dinge. Er wollte unbedingt helfen, einen Job für Callum zu finden. Vielleicht an irgendeinem Theater in London, vielleicht gäbe es da ein paar gute Connections von Stratford. Callum war nicht sicher, was er da überhaupt tun könnte, denn er war kein Techniker oder sonst was. Rory ließ sich nicht beirren. In jedem Fall könne Callum Karten abreißen oder Programme verkaufen und wenn er das am Abend machte, dann hätte er tagsüber jede Möglichkeit die Schule nachzuholen. Jem fand die Idee insgesamt cool, seine Arbeitszeiten wären ja sowieso flexibel, aber auf gar keinen Fall wolle er, dass Cal überfordert wird. Als ob ihn das überfordern würde! Was wussten Rory und Jem überhaupt von seinem Leben auf der Straße?! Das war keine Teezeremonie gewesen... 

Als sie abends am Theater waren, führte Rory sie direkt durch den Bühneneingang hinein, wo er den Pförtner begrüßte und Callum direkt bemerkte, dass der ihn neugierig ansah. Gerade als Callum drauf und dran war zu fragen, warum der so dämlich glotzte, kam Rory zu Wort. 

"Paul, du kennst meinen Bruder noch nicht. Das ist Callum. Er ist mit seinem Freund hier, Jeremy."

Paul der Pförtner war jetzt sichtlich erfreut und überrascht. "Ich wusste, gar nicht, dass du einen Bruder hast! Das sieht man aber sofort."

Ach echt? Callum riss sich zusammen, lächelte ein wenig und merkte, wie Jem seine Hand ergriff. "Hi, Paul."

"Ja, hab ich. Aber er besucht mich zum ersten Mal hier." 

"Na dann viel Spaß in der Vorstellung!"

Sie gingen weiter und Callum versuchte zu entspannen. Das Haus war riesig und die langen Gänge führten immer wieder um Ecken und an zahlreichen Türen vorbei. Rory erklärte ein bisschen.  "Da geht's zur Probebühne,... da ist die Schneiderei,... Kantine,... da geht's zu den Garderoben,... hier geht's zur Technik-Loge..." Callum wünschte, er wäre nicht Callum. Das war alles super interessant, ganz bestimmt, aber er versuchte sich einzuprägen, wo Fenster waren und ob oder wie man über diese nach draußen käme. Jem musste das gemerkt haben, denn erstens ließ er Cals Hand nicht los und dann schlug er vor, dass sie vielleicht einfach in den Zuschauerraum gehen sollten, um sich auf das Stück einzustimmen. Das war ... viel besser. Der Zuschauerraum war riesig und machte Callum deutlich weniger aus.  Als sie sich setzten deutete Rory auf eine Loge, die man hinter erleuchteten Scheinwerfern nur erahnen konnte. Er winkte hinauf. "Da oben bin ich normalerweise. Von hier aus hab ich "Macbeth" noch nie gesehen." Er war ganz klar stolz auf seinen Job hier. 

Callum lächelte und wollte was Nettes sagen. "Ich find's spannend, dass wir hier sind. Ich war noch nie im Theater."

"Wenn's dir gefällt, dann machen wir das in London auch", versprach Jem. 

Callum schaute sich um. Überall waren Leute. Einige saßen bereits auf ihren Plätzen und lasen im Programmheft oder redeten noch ganz aufgeregt miteinander. Manche standen am Rand und ließen andere vorbei auf ihre Plätze in den Sitzreihen gehen. Es gab Leute, die extra schicke Klamotten trugen, andere sahen aus, als kämen sie von der Arbeit oder vom Einkaufen, denn sie hatten Tüten dabei. Alles wirkten so... normal, dachte Callum. Und keiner von denen ahnt, dass ich es nicht bin. Oder? Da war so ein Typ, der jedes Mal schnell weg sah, wenn Callum zufällig hinsah. Das war- beunruhigend. Callum schaute direkt zu ihm, da lächelte der Typ und zwinkerte. Callum beruhigte sich wieder. Das war nur ein Typ, der auf ihn abfuhr. Kein potentieller Freier. Er tat das nicht mehr. Er lehnte sich an Jem, was klar signalisierte, dass er mit ihm zusammen war. Nur um alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Dann ging langsam das Licht aus und die Bühnentechnik sorgte für Gewitteratmosphäre mit Wind, Regen, Blitz und Donner. Callum fuhr überrascht zusammen, weil das so echt schien, aber es gefiel ihm. Drei unheimliche Frauengestalten  kamen jetzt auf die riesige Bühne. Das Stück fing an. 


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