Küss mich Teil60

Als Jem mit dem Hund zurückkam, war alles still und nicht mal im Flur brannte noch Licht. Nur aus seinem Schlafzimmer drang das schwache Licht der Nachttischleuchte durch einen Türspalt. Es hätte ihn auch gewundert, wenn die Brüder noch auf wären. Callum war noch immer angeschlagen durch die Leberentzündung und Rory hatte gewiss genug erlebt, um ebenfalls todmüde zu sein. Also brachte der Blonde den Hund in die Küche, wo er seinen Schlafplatz jetzt wohl dauerhaft haben würde, streichelte ihm über den Kopf und wünschte ihm eine gute Nacht. Dann zog er sich die Schuhe im Flur aus, um nicht noch jemanden zu wecken, bevor er ins Schlafzimmer ging. Zu seiner Überraschung schlief Callum nicht. Er lag nur da und streckte Jem die Hand entgegen, als dieser näher trat. Jem nahm die Hand und setzte sich auf den Rand des Bettes. Da stimmte etwas nicht, das war nur allzu offensichtlich und jetzt, auf Armeslänge, war es klar zu sehen. Callum hatte geweint. „Was ist los?", flüsterte Jem nur leise.

„Komm zu mir", flüsterte Cal zurück.

Jem würde immer tun, was Cal verlangte oder brauchte, also legte er sich so wie er war zu ihm. Aber sein Flüstern klang nicht nach sexuellem Verlangen, es klang anders. Also wartete Jem ab, bis Cal sich an ihn geschmiegt hatte.

„Was hast du? Irgendwas ist doch?"

Cal nickte. „Küss mich."

Jem tat auch das, aber es war ein zärtlicher, beinahe keuscher Kuss. Dann zog Cal an seinem Pulli und streifte ihm den über den Kopf ab. Er kuschelte sich ihm nun vor die Brust. Das war schön, aber nicht so schön, wie es wäre, wenn Jem wüsste, dass alles in Ordnung ist. Und das war es gerade nicht. „Bitte sag was los ist."

„Rory", begann Callum.

„Was ist mit ihm?" Jem hatte die Arme um Callum gelegt, strich ihm sanft über den Rücken und horchte.

„Er ist... er hat... sein Rücken sieht furchtbar aus."

Jem war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte.

„Wieso, was ist damit?"

„Dad."

„Euer Vater? Was hat er gemacht?" Geschlagen, war natürlich das, was Jem jetzt in den Sinn kam. Und dieser Robinson musste ihn heftigst geschlagen haben, wenn davon Spuren blieben. Callum schien Jems Gedanken zu kennen.

„Schlimmer als das", brachte er heraus. „Meinetwegen."

„Deinetwegen? Was soll das? Wie kommst du darauf?"

„Irgendwas ist nicht in Ordnung mit mir. Wieso hab ich nichts dagegen gemacht?"

Jem schüttelte den Kopf. So war das nicht. „Du hast was dagegen gemacht. Du hast einem Lehrer erzählt, was zuhause los ist."

„Das war viel zu spät. Du hast seinen Rücken nicht gesehen."

„Du warst ein Kind. Du hattest Angst."

„Wieso habe ich das nicht kapiert? Wieso kapiere ich das nicht?"

„Was, wovon redest du?"

„Es gibt Typen, die...", Callum suchte nach Worten. „Es... weißt du, was immer am meisten Geld gebracht hat, wenn ich mit irgendwelchen Typen", es klang, als müsste Cal die Worte hervor würgen, „'rumgemacht habe?"

„Ist schon gut, ich muss das nicht wissen."

„Doch, bitte, ich will es loswerden."

„Na gut."

„Wenn sie dir wehtun können, wenn sie glauben, dass du Schmerzen hast und wenn... sie so tun, als wären sie dein Vater, wenn... sie dich ficken."

Jem atmete schwer. Er war erschüttert. Er hatte davon gehört, gelesen oder im Fernsehen darüber reden hören, aber jetzt sprach Callum es aus. Als er nichts sagte, fuhr Callum fort:

„Wenn du schreist und wenn du sie dabei Daddy nennst, dann gibt's richtig Kohle. J ist auch so einer. ‚Komm zu Daddy, mein Kleiner, Daddy kann's dir besorgen', verfluchter Wichser!"

Jem legte Cal den Zeigefinger auf die Lippen. Er wollte nichts mehr davon hören.

„Wie hast du das nur ausgehalten?"

„Mit H und Kokain, das weißt du doch. Und jetzt das: mein eigener Vater ist auch so ein Typ gewesen. Einer der Jungs schlägt, damit er sich mächtig fühlt. Wahrscheinlich hätte er mich auch gefickt, wenn ich nur etwas älter gewesen wäre oder wenn Rory nicht dazwischen gegangen wäre. Was immer es war..."

„Bitte hör auf." Jem küsste Callums Haar, beinahe flehentlich, damit er aufhörte.

„Wie kann ich aufhören? Irgendwas stimmt doch nicht mit mir, wenn die Kerle das wollen?"

„Das hat nichts mit dir zu tun. Das sind diese Typen."

„Ach ja?"

„Ja sicher." Er überlegte hin und her, was er sagen könnte, um Callum zu überzeugen, denn absolut nichts an Callum rechtfertigte oder provozierte zu dem, was er ihm gerade geschildert hatte. „Das sind völlig gestörte Typen, die sich an Kindern vergreifen und ihnen wehtun wollen."

Callum blieb ruhig, also wirkten Jem Worte vielleicht. Da fiel ihm noch etwas ein. „Als ich dich das erste Mal gesehen habe, wollte ich dich beschützen. Weißt du noch?"

„Vor dem scheiß Regen."

„Ja genau. Vor dem scheiß Regen. Und dann auch vor den Drogen und dem was du dafür getan hast."

„Stimmt."

„Du hast ganz schön getobt."

„Stimmt."

„Ich hab gleich gesehen, dass du was Besonderes bist. Das war dir nur selbst nicht klar und ist es auch jetzt noch nicht. Völlig ohne Grund."

„Ach ja?"

„Ja. Du bist durch all diesen ganzen Mist durch und das, ohne dass sich dein Wesen dadurch verändert hätte. Du bist weder hart noch abgestumpft, noch korrumpiert."

„Was soll denn das sein?"

Jem musste fast grinsen. „Na, versaut, verderbt, manipuliert. Bist du alles nicht. Nicht wirklich. Du kannst gut und richtig von falsch und schlecht genau unterscheiden. Dafür liebe ich dich. Das ist der Grund, warum du um Rorys Verletzungen weinst. Nicht weil sie deine Schuld sind, sondern weil jemand wie du nicht begreifen kann, dass jemand so etwas einem anderen Menschen antut."

Jem konnte jetzt deutlich spüren, wie Callum sich in seinen Armen entkrampfte. Er verstand.

„Jem?"

„Ja?"

„Glaubst du, dass ich auch so klug reden lerne, wenn ich wieder zur Schule gehe?"

„Ganz bestimmt. Aber wegen mit brauchst du das nicht."

„Nicht zur Schule?"

„Nicht klug reden. Ich verstehe auch alles, was ich muss, wenn wir nur so zusammen sind."

„Oh, das gefällt mir."

„Kann ich mir denken."

„Geht's dir jetzt besser?"

„Ja, viel besser."

„Gut."

„Jem?"

„Ja?"

„Küss mich."

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