Gosse Teil39
Callum war sich darüber im Klaren, dass seine Abwehrhaltung, wenn es um Familie ging, völlig irrational erscheinen musste. Jem hatte ihn mit zu sich nachhause genommen, ihn seinen unglaublichen Eltern vorgestellt. IHN. Aber dem hatte er eben nichts entgegenzusetzen. Und was glaubte Jem überhaupt? Dass da irgendwo ein paar liebenswerte Verwandte waren, die sich zwar jahrelang nicht darum geschert hatten, was aus ihm und Rory wurde, aber jetzt, wo er es aus der Gosse heraus geschafft hatte, gern mal zum Tee kämen? Was war das für eine verkehrte Welt? Da gab es Menschen wie Jem, die geliebt und geborgen waren. Und gleichzeitig waren andere völlig schutzlos und verwundbar... Ganz sicher waren sein Großvater und seine Schwester mit ihrem Mann und Sohn nicht weniger warmherzig als der Teil der Familie, den Cal schon kannte. Ihm wurde beinahe schlecht, bei dem Gedanken an eine solche Schieflage des Universums. Aber nein, das war kein sinnvoller Gedankengang. Er liebte Jem und das Letzte, was er wollte wäre, dass irgendjemand Jem etwas angetan hätte oder es jemals tun würde. Jemand wie Jem war gut zu anderen, weil er nur Gutes kannte. Und er sah sogar Schönheit und Engel in der Gosse. Was, wenn das alles nicht real war? Was, wenn Jem zu naiv war und Callum diesem Bild nicht entsprach und wenn der ganze naive Zauber verfliegen würde? Was, wenn Typen wie Mister J recht hatten? Dem war es völlig gleich gewesen, ob er ja oder nein sagte. Dem war nicht aufgefallen, dass Callum sich so verändert hatte. Dass er clean war, dass er nicht auf Sexwork aus war, dass er mit einem Freund zusammen war. Was, wenn der recht hatte und Callum sich nur vormachte, dass er gut genug wäre für jemanden wie Jeremy?
„Schau mal, da hinten sind schon ein paar von den Pferden", hörte Cal Jem sagen und schaute aus dem Wagenfenster. Sie waren gerade abgebogen und jetzt fuhren sie an einer langen Weide und sanften Hügeln vorbei. Ein paar Tiere grasten friedlich, ein paar andere schauten neugierig zur Straße.
„Mhmmm." Ihm fiel nichts Sinnvolles ein. Er kannte sich mit Pferden oder schöner Landschaft nicht aus. Er bemerkte, dass Jem nun verunsichert war. Bloß das nicht! „Hör mal, meine scheiß Laune hat nichts mit dir oder deiner Superfamilie zu tun, okay?"
„Nicht okay. Womit hat sie was zu tun? Kann ich dir helfen, was ändern?" Jem wirkte irgendwie hilflos und besorgt.
„Fahr bitte links ran." Cal wartete, bis der Wagen stand, dann suchte er nach Worten. „Jem, ich kann dir nicht mehr geben, als du schon hast. Da bin nur ich und was von mir übrig ist."
Jem schaute regelrecht entsetzt. Was meinte Callum nur? „Du bist alles, was ich will", begann er, „das weißt du auch. Du... du bist stark, liebevoll und so schön, dass einem schwindlig wird, wenn du in der Nähe bist."
Cal schüttelte abwehrend den Kopf. „Was, wenn das alles nichts wert ist, weil ich es nicht bleiben kann? Was, wenn ich rückfällig werde? Was, wenn sie mich wegen Prostitution einknasten? Was, wenn ich irgendeine scheiß Seuche wie AIDS habe?"
Jeremy waren diese Gedanken nicht neu, aber es tat weh, wie Callum es formulierte. Natürlich wäre es furchtbar, wenn Cal sich eine Seuche, wie er sagte, eingefangen hätte. Aber das bedeutete nicht das Ende der Welt und auch sonst nicht. Er drehte sich zu ihm, ergriff seine Hand und hielt sie fest. „Cupid, schau her und bitte hör mir genau zu", sagte er in sanftem, aber sicheren Ton und rückte dichter an den Beifahrersitz. Er suchte Cals Blick, diese rätselhaften Augen, die in jeder Farbfacette des Meeres an einem Sommertag leuchten konnten. Cal blinzelte, was nur bestätigte, wie aufgewühlt er war. Dann fuhr Jeremy fort: „Wenn man sich liebt, so wie wir und wenn man zusammengehört, so wie wir, dann können auch solche Dinge nichts daran ändern. Selbst wenn du rückfällig würdest, würde ich dir wieder helfen. Und wenn du krank wärst, würde ich dir helfen und für dich sorgen. Ich würde das immer und immer wieder tun. Bitte glaub' das endlich." Jeremy hielt gespannt den Atem an. Er hoffte wirklich, dass Callum endlich begreifen würde. Er wollte mit ihm zusammen sein, nicht weil er etwas von ihm wollte, sondern weil er ihn wollte. In guten, wie in schlechten Tagen... Callums Blick hatte sich nun verändert, war ganz offen und weich geworden. Seine Stimme war nur ein Flüstern. „Ich könnte wirklich... krank sein, weißt du, ich fühle mich so ... müde."
Jem war klar, was Cal da andeutete, aber er ließ sich nicht erschüttern. „Das ... muss gar nichts heißen. Du bist vielleicht nur erschöpft. Was du gerade durchmachst ist anstrengend. In mehr als einer Hinsicht."
„Wie kannst du immer so... zuversichtlich sein?"
„Das kann ich eben, zur Not auch für uns beide. Du... du kommst doch gerade erst in sowas wie einem normalen Leben an. Du hattest einen kalten Entzug, du wurdest geschlagen und fast vergewaltigt, verhört und zu den abscheulichsten Dingen befragt. Kein Wunder, dass du mit Nerven und Kräften am Ende bist. Ist mir ein Rätsel, wie wir dabei Sex haben."
Letzteres brachte Cal tatsächlich ein wenig zum Lächeln. Irgendetwas musste er richtig machen, denn sonst wäre dieser unwiderstehliche blonde Typ mit dem großen Herzen nicht immer noch bei ihm. Jeder andere würde in ihm nur beschädigte Ware sehen, aber nicht Jem. Die einzige Antwort auf seine Worte, die Cal kannte, war ein zärtlicher Kuss. Er legte seine Hände in Jems Haar und führte ihre Lippen zueinander. Jem hatte, das wusste der Lockenkopf genau, die süße Angewohnheit, kurz nach Luft zu schnappen, wenn er einen langen und innigen Kuss erwartete. Und so schloss Cal die Augen und gab sich ganz in den Kuss hinein. Die Wärme, die von Jeremys Lippen ausging, erfüllte ihn immer mehr und er spürte, dass es Jem nicht anders erging.
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