Geschenk Teil61


Rory erwachte aus schwerem Schlaf, als Geräusche vom Flur und aus der Küche zu ihm drangen. Wahrscheinlich waren zumindest der Hund und einer von den Jungs inzwischen auf. Mit größerer Wahrscheinlichkeit wäre das Jem. Callum hatte ihn am späten Abend zuvor noch so lange im Arm gehalten, bis Rory sich wieder beruhigt hatte und Callum todmüde war. Er wusste selbst nicht, warum ihn das alles so aufgewühlt hatte. Es war ja nicht so, als hätte er diese Narben erst seit gestern. Im Gegenteil. Wenn er nachrechnete, dann war das beinahe sein halbes Leben lang. Und er hatte sich damit abgefunden, dass er sie den Rest seines Lebens tragen würde, wie er eben all die schrecklichen Erinnerungen mit sich tragen würde. Irgendwie war es nun direkt tröstlich, dass sie ihn auch daran erinnern würden, dass er seinen Bruder tatsächlich vor ihrem Vater beschützen konnte, egal wie hoch der Preis war. Und sie hatten sich wiedergefunden. Und er hatte ihm diesen Hund gekauft. Rory lächelte bei dem Gedanken. Das Leben konnte zwar verdammt unfair sein, aber es konnte wohl auch versöhnlich sein. Immer noch lächelnd, rappelte er sich langsam hoch, zog sich was über und schlurfte in die Küche.

„Guten Morgen, Rory", begrüßte ihn Jem.

„Mmmh ja, wirklich guter Morgen. Dir auch."

Bevor noch irgendwas anderes gesagt werden konnte, bekam Rory erstmal einen Kaffee in die Hand gedrückt. Der belebte ihn noch ein wenig mehr.

„Schläft Cal noch?"

„Ist im Bad."

„Du bist so früh auf, weil du der Mann mit dem Plan bist, oder?"

„Eigentlich bin ich so früh auf, weil ich dachte, du und ich und Cal, wir könnten einen Plan entwickeln." Jem setzte sich mit seinem Becher zu Rory.

„Ich weiß, was du meinst. Ein Job, eine Schule oder beides."

„Ja genau."

„Ist irgendwie ein seltsames Gefühl, wie wir hier so reden."

„Was meinst du?"

„Weiß nicht genau. Vor ein paar Tagen war ich noch nur für mich selbst verantwortlich und jetzt versuche ich zusammen mit seinem Boyfriend, das Leben von meinem tot geglaubten kleinen Bruder zu ordnen."

„Falls dir das hilft: Ich finde dich als großen Bruder echt gut."

„Oh, danke. Du bist als Freund auch nicht so übel."

„Cool."

Als Cal endlich hinzukam, war es schon ziemlich spät und Jem hatte inzwischen mit seinem Vater telefoniert. Alexander würde gegen Abend vorbeikommen, damit er persönlich mit Roger sprechen und sie alles für die Verteidigung nochmal durchgehen könnten. Bis dahin, so lautete schließlich der Plan, würde Rory mit Cal zu den verschiedenen Theatern gehen, um Cal vorzustellen. Rorys Anfragen nach Jobs hatten immerhin drei Treffer erzielt und mit etwas Glück, hätte Cal dann schon einen Job. Zumindest für's Erste, um vor Gericht zu überzeugen. Jem wollte gleichzeitig recherchieren, welche Schulen in London für seinen Liebsten in Frage kämen. Irgendwann gegen Mittag machten sich die Brüder tatsächlich auf den Weg in die Innenstadt. Cal trug die neue Jeans und sah einfach hinreißend aus. Jem überlegte wirklich kurz, ob die Leute von Theater ihm nicht gleich einen Job auf der Bühne geben sollten. Aber das war nur so ein flüchtiger Gedanke. Irgendein Job wäre alles, was sie jetzt bräuchten, dann konnte man immer noch weitersehen. Buster wurde ganz aufgeregt, als es aussah, als würde es nach draußen gehen, also nahm sich Jem die Leine und ging ein Stück gemeinsam mit Rory und Cal bis zur nächsten U-Bahn Station. Dort verabschiedete sich das Paar mit einem Kuss, Jem wünschte viel Glück und ging dann mit Buster einen kleinen Umweg nachhause zurück. Es kam ihm vor, als wäre es ein kleines Wunder, dass er seine Wohnung inzwischen tatsächlich als Zuhause für sich und Cal ansah. Das war mit seinen Ex-Freundinnen nie so gewesen. Aus verschiedenen Gründen. Dabei hatte es ihn weniger gestört, wenn eine von ihnen etwas an seiner Bude ändern wollte. Dann hatten sie eben die Möbel verrückt oder die Wandfarbe geändert oder eine neue Lampe gekauft. Aber er hatte immer das Gefühl gehabt, dass sich da jemand in seinem Bereich breit machte. Das kam ihm damals schon unfair vor, aber jetzt schien es logisch. Keine von ihnen gehörte zu ihm, wie Cal zu ihm gehörte. Cal hatte seine Wohnung in den Nächten und Tagen des Entzugs reichlich verwüstet, durcheinander gebracht, darin getobt und mit Jems Sachen nach ihm geschmissen. Das allerdings schien ihm, als müsste es so sein. Auf gar keinen Fall dürfte Cal ins Gefängnis, dann wäre seine Wohnung wieder öd und leer. Ganz zu schweigen von seinem Schlafzimmer. Und irgendwie würde er Cal das nicht nur sagen sondern auch mit irgendetwas, einer Geste, einem Geschenk, verdeutlichen wollen. Also was? Der Umweg führte Jem jetzt durch Camden Town, wo es alle Möglichen Dinge zu kaufen gab. Da würde er schon auf die richtige Idee kommen. Besonders viel Erfahrung im Geschenke- machen hatte Jem auch nicht gerade. Okay, er hatte seinen Freundinnen natürlich Blumen geschenkt oder Ähnliches, was man seiner Freundin so schenkt. Konzerttickets, Armbänder, neues Handy. Aber was wäre ein passendes Geschenk für Cal? Ein Buch? Sie könnten gemeinsam darin lesen. Das wäre schön, sagte aber nicht aus, was Jem eigentlich aussagen wollte. Ein Handy? Nein, auf gar keinen Fall. Das würde ja fast bedeuten, dass Jem davon ausginge, dass sie sich längere Zeit nur so unterhalten könnten. Nein. Er schaute sich in den Schaufenstern der vielen bunten und punkigen Läden um. Aber das war alles zu wenig passend. Schließlich stromerte er sogar durch die engen Gassen eines dieser Antikmärkte, dicht gefolgt von Buster, dem es eindeutig zu eng war, sich zwischen den ganzen Ständen und Touristen durchzuschieben. Dort fiel sein Blick auf die Auslage eines Händlers, der offenbar Schmuck aus Silberbesteck oder silbernen Schlüsseln anfertigte. Schmuck. Schlüssel. Da kam ihm die Idee. Er kaufte dem Mann eine silberne Kette ab. Ganz schlicht und lang genug, sodass Callum sie über den Kopf bekommen würde, ohne den Verschluss öffnen zu müssen. Warum? Keine Ahnung, er fand das selbst immer lästig. Nachdem er bezahlt hatte, machte er sich sogleich auf, um eine Schlüsselwerkstatt zu finden. Die müssten ihm einen Wohnungsschlüssel nachmachen und mit viel Glück, fand er auch noch jemanden, der Callums Namen darauf eingravieren würde...

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