Flur Teil47

Rorys Gefühle gerieten komplett durcheinander. Der blonde Typ am Küchentisch sah nicht aus, als würde er irgendeinen fiesen Scherz treiben. Nein, der schaute ihn an in einer Mischung aus Neugier und Aufmunterung. „Das wird er sein, mach auf", sagte er schlicht. Der hatte Nerven! Rory hatte mehr getan, als vergeblich immer wieder nach seinem Bruder zu suchen, als es irgendwann keine realistische Hoffnung mehr gab, waren Wut und Verzweiflung über das Erlebte der Trauer gewichen. Wie viele qualvolle Tage und noch quälendere Nächte er durchlebt hatte, könnte er gar nicht schätzen. Und jetzt klingelte es an der Tür. Rory atmete schwer. Das erste, was er hörte, war Hundegebell. Sein Bruder war aber kein Hund. Nein, da scharrte ein Hund an der Tür und wollte mit hinein. Als er die Hand schon ausgestreckt hatte, um die Tür zu öffnen und sein Herz wie wild zu rasen begann, kam ihm der Gedanke, dass er ausrasten würde, wenn es nicht Callum war, der da auf Einlass wartete. Er klingelte nochmal und schlug mit der Faust an die Tür. „Mach auf, ich bin's! Lass mich rein..." Rory zögerte, ihn schwindelte. Das klang nicht wie sein Bruder. Fuck, wie denn auch. Der wäre inzwischen auch erwachsen, logisch, fuck! Noch einmal schlug die Faust an die Tür, der Hund bellte. Rory öffnete. Durch die halb geöffnete Tür rannte der Hund hinein, dann sah er ihn. Großer, schlanker Typ mit Callums Locken und Callums Augen, aufgerissen vor Schreck oder Überraschung. CALLUM. Rory war wie vom Donner gerührt. Wie war das möglich? Wo war er nur gewesen? Wieso hatte er ihn nicht gefunden? Er spürte nicht den Boden unter seinen Füßen und starrte Callum nur an. Er war ganz, ein Pflaster an der Schläfe. „Rory, hi, ich bin's", wiederholte der Jüngere jetzt in sanfterem, etwas verunsicherten Ton. Er lächelte unsicher. Rory konnte sein Glück kaum fassen, trat nun vor und nickte, erst langsam, dann schneller. „Ja, ja ich seh's, du bist es! Callum, Kleiner, oh fuck, komm her!" Er hob die Arme weit, um Callum in den Arm zu nehmen, aber da hatte der sich schon an ihn geworfen und schlang seine Arme um ihn herum. Von Callums Schwung gingen beide direkt hinten rüber und strauchelnd zu Boden. Der Hund kläffte, er selbst ächzte, weil Callums Gewicht ihm quasi alle Luft auf einmal aus den Lungen presste, aber das war egal, sowas von egal. Rory griff nach Callums Haar und hob seinen Kopf, damit er ihn anschauen konnte. War er wirklich da, war er echt? „Autsch."

„Sorry."

„Egal."

Rory schaute ihm ins Gesicht. Ja, das war sein kleiner Bruder, nur war er nicht mehr klein. Er war ganz schön groß und er hatte Tränen in den Augen. „Hey, hey, alles wird gut", hörte sich Rory selbst sagen und strich dem großen Kleinen übers Haar. Was sonst wie eine Phrase geklungen hätte, schien wirklich real zu sein. Der blonde Typ in der Küche hatte ihm tatsächlich seinen Bruder wiedergebracht. „Ich hab dich so vermisst", kam es von Callum.

„Ich hab dich überall gesucht", gab Rory zurück. Er spürte jetzt auch Tränen auf seinen Wangen herunterlaufen. Das waren Tränen der Erleichterung und der Freude. Dann sah er verschwommen, dass dieser Jeremy gekommen war und den Hund auf den Arm nahm, damit der sich beruhigte.

„Ist das dein Hund?", wollte Rory wissen. Eigentlich eine total beknackte Frage. Callum schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich, aber er glaubt, ich gehöre ihm."

„Dann ist es deiner?", wandte sich Rory an Jem. Der schüttelte auch den Kopf.

„Ist ein bisschen komplizierter," gab Jem zu, „Warum steht ihr zwei nicht erstmal auf..."

Rory und Callum mussten beide lachen. Sie gaben bestimmt ein tolles Bild ab, übereinander gepurzelt im Hausflur. Dann rappelte sich erst Callum hoch und hielt ihm seine Hand hin. Rory ergriff sie und ließ sich von seinem Bruder auf die Beine ziehen. „Hast du dir wehgetan?", fragte er, immer noch lachend.

Rory glaubte nicht. „Alles gut." Allerdings rieb er sich ein bisschen den Hintern. „Jetzt bin ich jedenfalls richtig wach. Und wenn ich morgen 'nen blauen Fleck hab, weiß ich, dass ich nicht nur geträumt habe. Hey, Kleiner, ist das schön, dich zu sehen." Er musste ihm direkt wieder einen Arm um die Schulter legen, wie um sicher zu gehen, dass er nicht gleich wieder verschwinden würde. Wie es schien, waren sie ungefähr gleich groß, Callum vielleicht ein bisschen größer. „Du musst mir erklären, was passiert ist! Was hast du erlebt? Wo warst du? Wieso hat dich die Polizei nicht gefunden? Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?" Okay, das waren sicherlich zu viele Fragen auf einmal. Zumindest sah sein kleiner Bruder gerade etwas verunsichert aus und blickte zwischen ihm und dem Blonden hin und her. Wer war das jetzt nochmal genau?

„Das ist nicht so ganz einfach... zu erklären", sagte Callum dann. Wie um ihm beizustehen mischte sich der Blonde mit ein.

„Die Hauptsache ist doch, dass ihr euch wiederhabt", fand er und setzte den Hund ab.

Da hatte er sowas von Recht. Aber Rory war natürlich klar, dass es Gründe haben musste, warum sein Bruder verschwunden und nun wie durch ein Wunder wieder aufgetaucht war. Es hieß, er sei bei seinem Pflegevater abgehauen, weil er Drogen nahm. Es hieß, er hätte ihn bestohlen. Das mit den Drogen war gewiss der absolute Schwachsinn. Rory kannte seinen Bruder besser als das und nach der ganzen Sauferei von ihrem Dad, würde Callum doch nicht mit sowas anfangen. Und ein Dieb war er schon mal gleich gar nicht. „Wo kommst du jetzt her?", fragte er wieder. Zu viele Fragen, schon klar. Aber die hier war einfach.

„Aus Cambridge. Wir waren bei Jems Familie. Eigentlich kommen wir aus London."

„Da habe ich nach dir gesucht. Du warst da?"

Callum nickte, sagte aber sonst nichts weiter, so als wäre diese Frage unangenehm. Nein, schlimmer als das. Fuck.

Jeremy sprang wieder ein. „Wie wäre es, wenn wir einen zweiten Versuch mit dem Kaffee starten, du rufst deine Arbeit an und dann redet ihr über eines nach dem anderen."

Rory schaute den Blonden neugierig an. Der war ganz schön clever. Dann wandte er sich scherzhaft an Callum. „Der Typ da, mit dem Durchblick, wer war das doch gleich?"

Callum lächelte. „Das ist Jeremy. Mein Freund."

Rory ging jetzt ein Licht auf. Die zwei waren ein Paar. „Na, dann, mein Bruder und sein Schlaumeier, gehen wir mal in die Küche." Kurzerhand legte er den noch freien Arm über Jeremys Schulter und ging los. Rory kam sich vor, als wäre das der verdammt beste Tag in seinem Leben, an den er sich erinnern konnte und wie, um das zu bestätigen, fing der Hund wieder an zu bellen.

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