Fahrstuhl Teil76
Callums Instinkt für manche Dinge, war so gut, er wünschte sich manchmal, es wäre nicht so. Sicherlich hätte er ohne diesen Instinkt niemals die Jahre auf der Straße überlebt, andererseits war er es so leid, in dem, wie sich manche Menschen gaben, immer gleich das Schlechteste zu sehen und damit meist auch richtig zu liegen. Was hatte er doch gleich gesagt, als Higgins und Alexander ihn als Zeugen vernahmen? Johnson hatte ihn mein geiler Kleiner genannt und Sunny. Das passte nicht zusammen. „Sonnenschein" oder „sonnig" passten weder zu Johnson noch zu dem geilen Kleinen. Also entschied er, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.
Nachdem alle ihren Fisch 'n Chips gegessen hatten und Jem seinem Vater den Gefallen tat, mal bei seiner Mum anzurufen, die ganz bestimmt schon darauf wartete, dass er ihr die neusten Neuigkeiten und Entwicklungen mitteilte, ergriff Cal die Gelegenheit, sich davon zu stehlen.
„Ich muss mal wo hin", erklärte er nur.
„Die Toiletten sind links den Gang entlang, am Treppenhaus vorbei, hinter den Säulen", gab Alexander an.
„Okay, bis gleich."
Er ging dann tatsächlich erst zu den Toiletten. Immerhin war es möglich, dass sie sich dort über den Weg liefen, aber dort war nur ein anderer Typ mit Anwaltsperücke und einer der Gerichtsdiener, die zuvor bei der Verhandlung waren. Callum tat beschäftigt mit Händewaschen, denn er wollte nicht angesprochen werden. Er wusch sich auch das Gesicht, was wirklich gut tat, dann ordnete er seine von Jem verwuschelten Locken ein wenig, bevor er sich auf den Weg durch die Gänge machte. Rory hatte gesagt, die hätten sich die Snickers geholt. Er ging langsam und leise und schaute vorsichtig um die Ecken. Ganz sicher wollte er nicht auf Johnson treffen, aber den ließ man wohl kaum ohne Polizisten an der Seite hier herumlaufen. Und dann endlich hatte er Erfolg bei seiner Suche. Er ging unauffällig am Eingang zur Cafeteria vorbei und als er einen Blick hinein riskierte, saß da Johnson, flankiert von zwei Polizisten, mit seiner Frau. Die saßen so, dass sie den Rücken zur Tür gewandt hatten. Die Mädchen und der Junge aber könnten ihn sehen, wenn er es darauf anlegte. Und Callum legte es ein wenig darauf an. Er ging noch einmal an dem Eingang vorbei, blieb dann stehen und horchte. Nichts. Noch einmal. Und horchen. Und tatsächlich kam jetzt das Geräusch von Schritten auf dem Gang. Callum riskierte einen kurzen Blick über die Schulter und ja, er hatte Glück. Es war der Sohn, der ihm folgte. Was jetzt? Callum fiel nichts besseres ein, also ging er einfach weiter und hielt Ausschau nach einer Tür oder einer Ecke, wo sie reden könnten. Was er schließlich fand, war der Fahrstuhl. Auch gut. Der wäre hoffentlich nicht ständig in Gebrauch. Callum drückte auf den Knopf, der die Kabine rief und als sich die automatische Tür öffnete, stieg niemand aus, die Kabine war leer. Johnsons Sohn kam jetzt auf ihn zu, noch immer blass wie die Wand, aber die Wangen bekamen etwas Röte, als er Callum neben dem Fahrstuhl erblickte und verstand. Callum stellte seinen Fuß in die Tür, damit sie aufblieb, dann traten beide gemeinsam ein. Die Tür schloss sich.
Der Junge sah Callum an und da wusste der, dass er sich nicht getäuscht hatte. Was sollte er jetzt nur sagen? Darüber hatte er noch nicht nachdenken können.
„Hey, Sullivan", sagte er nur für den Anfang.
Der Junge schaute Callum aus stumpfen, aber hübschen braunen Augen an. Er hatte weniger Ähnlichkeit mit J, eher mit seiner Mutter. Ein hübscher Bengel, mit dunklem Haar, recht kurz, aber mit dem Ansatz von Locken. Wie Callum. Er holte tief Luft, wie um sich selbst Mut zu machen.
„Mister Robinson..."
„Nenn' mich Callum."
„Callum. Ich bin Sullivan."
„Ich weiß, du bist ... Sunny, richtig?" Callum sprach nicht viel lauter als ein Flüstern, um den Jungen nicht noch mehr zu verängstigen. In dem Moment setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Sie schwiegen, im dritten Stock stieg eine Dame ein, mit der sie wieder nach unten fuhren. Dort stellte Callum wieder den Fuß zwischen die Tür. Sunny hatte mit Mühe Tränen zurückgehalten, die jetzt deutlich zu fließen begannen. Dann nickte er.
„D- das ist alles wahr, w- was du gesagt hast", begann er dann mit gepresster Stimme.
„Wenn du das weißt, wieso hast du nichts gesagt?"
Der Junge schaute ihn verzweifelt an. „Das ist mein V-vater."
„Das macht es nur schlimmer." Callum merkte, dass seine Worte die Verzweiflung nur steigerten, also trat er vor und nahm Js Sohn jetzt einfach in den Arm. Der begann an seiner Schulter zu weinen und Cal spürte, wie der Jüngere zitterte.
„E-es t-tut mir so leid", schluchzte er jetzt.
„Welcher Teil? Dass er dich fickt und das bei mir auch versucht hat oder dass er mich ficken wollte, weil er sich bei dir zurückhält?"
Sullivan zuckte bei diesen Worten zusammen und blickte Callum entsetzt an. „Wie k-kannst du...?"
„Wie ich das so sagen kann? Na, weil es so ist. Das eine oder das andere. Dein Vater ist 'n Kinderschänder. Ich war in deinem Alter, als ich ihm das erste Mal..."
„Hör auf, b-bitte."
„Wie alt warst du?"
„V-vierzehn."
„Hellfire, ich weiß, wie das ist..." Callum drückte den Jungen wieder tröstend an sich. Er sollte ihn eigentlich verachten, dafür, dass er es nicht fertig brachte, seinen Vater anzuzeigen, aber dann würde er seiner Mutter und den Schwestern wehtun. Cal schluckte schwer.
„Ich hab gemeint, was ich gesagt habe. Ich geh nicht für deinen Dad in den Knast. Eher beschreib' ich allen, wie sein Schwanz aussieht. Und du solltest zusehen, dass du da wegkommst... hier." Mit diesen Worten steckte Callum Sullivan das abgerissene Stück Papier in die Hosentasche. Der nahm es heraus, faltete es auf und schaute Callum überrascht an.
„I-ist das dein Ernst?"
„Ja."
„Danke."
„Dank mir, wenn es vorbei ist."
Sullivan nickte. Dann verließen die zwei den Fahrstuhl und gingen in entgegengesetzte Richtungen davon. Callum atmete durch.
Jem hatte inzwischen sein Telefonat beendet und es kam ihm vor, als wenn Callum lange wegblieb. Und wo er gerade versuchte, sich zeitlich zu orientieren, kam es ihm auch lang genug vor, dass die Jury sich wegen der Anklage einig werden konnte.
„Dauert das immer so lange", wandte er sich an seinen Dad.
„Mach dir keine Sorgen. Lange oder kurz sind weder ein gutes noch ein schlechtes Zeichen."
„Wenn das noch viel länger dauert", überlegte Rory, „sollte jemand zu dem Hund fahren und mit dem 'ne Runde drehen."
„Dann aber nicht du", bot Roger an, „sein Bruder sollte hier sein, wenn die das Urteil verkünden."
„Ich denke, wir sollten alle hier sein", fand Jem. „Wo steckt Cal?"
In dem Augenblick kam der Lockenkopf wieder zurück in den Hinterhof. „Ich bin hier. Hat sich was getan?"
„Es kann nicht mehr lange dauern", gab Alexander an.
„Hoffentlich." Cal setzte sich wieder zu Jem.
„Wo warst du so lange?", flüsterte der ihm zu und gab ihm einen kleinen Kuss.
Cal wollte gerade anfangen, es zu erklären, da kam einer der Gerichtsdiener ebenfalls in den Hof. „Meine Herren, die Jury wäre dann soweit. Es sammeln sich alle wieder im Saal. Wenn ich sie also bitten dürfte..."
Cal blinzelte überrascht. „So schnell?"
„Na, schnell ist anders", fand Jem. Aber ihm war klar, wie Cal das meinte. Es würde nicht mehr lange dauern und eine der wichtigsten Entscheidungen in seinem Leben würde sich als richtig oder falsch erweisen. Er wollte ihn aufmuntern.
„Na komm, dann sind wir umso schneller zuhause!"
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