1000% Teil70
Zu Beginn der Sitzung erhoben sich alle und die ehrenwerte Richterin Marion Clarke erklärte die Verhandlung für eröffnet. Nachdem alle wieder Platz genommen hatten, stellte die Richterin die einzelnen Anwälte und Parteien einander vor und begann dann mit der Verlesung der Anklage. Callum hörte wie gebannt zu. Es waren nicht seine Worte, es war Juristensprache, aber er erkannte natürlich die einzelnen Abläufe, so wie er sie der Polizei geschildert hatte. Immer wieder musste er zu J hinüberschauen, wollte sehen, ob man ihm ansah, dass das, was die Richterin verlas ihn berührte. J jedoch verzog keine Miene und ebenso wenig seine Frau, die mit den Töchtern und dem Sohn gleichfalls auf der ersten Bank wie Jeremy und Rory saßen. Die Jugendlichen allerdings wirkten nervös, so als wären sie lieber nicht hier. Weniger die Mädchen, als der Junge. Aber das war auch kein Wunder, denn ihr Vater war wegen versuchter Vergewaltigung, Körperverletzung, Nötigung und auf Schadenersatz für die Zweckentfremdung von Eigentum der British Rail Gesellschaft verklagt. Das Letzte war Cal neu. Alexander schrieb eilig eine kleine Notiz und schob sie Callum zu:
Das ist gut. Sie sagen, sie hatten einen Schaden, nicht, dass er ihr Eigentum beschützt hätte.
Callum war direkt etwas erleichtert und fand es echt cool, dass Jems Dad sowas sofort bemerkte. Er machte sich jetzt bereit dafür, die Verlesung der Aussage von Johnson zu hören, der die Fakten im wahrsten Sinne des Wortes vollkommen verdreht hatte. Bei dem Teil angekommen, wo Callum angeblich vorgehabt hatte, J im Büro auszurauben, schaute der jetzt doch zu ihm herüber. Sein Blick ließ Gefühle von Abscheu und tiefster Verachtung in Cal aufsteigen. Der Typ war so widerlich, wie er da selbstgefällig saß und aussah, als mache er sich nicht die geringsten Sorgen. Und für einen furchtbaren Moment war es Callum, als könne er das Gewicht von Js Körper auf seinem spüren, dessen fauligen Atem in seinem Nacken. Er blickte sich zu Jem und Rory um, deren Anblick ihn wieder beruhigte. J war nicht glaubwürdiger, nur weil er grinste, Cal wäre nicht unglaubwürdiger, nur weil er über das, was hier gerade lief nicht schmunzeln konnte.
Als das endlich zu Ende war, stellte die Richterin fest, dass es darum gehen müsse, in diesem Fall von Aussage steht gegen Aussage, die Wahrheit herauszufinden, indem man alle geäußerten Anklagen und Schilderungen genau prüfe und auf ihre Stichhaltigkeit untersuche. So bat sie zunächst den Detective, der den Tatort gesichert hatte, diesen zu beschreiben und die gesicherten Indizien vorzustellen. Callum kannte den Mann nicht. Es war nicht der, dem er damals seine Personalien geben sollte. Der Mann stellte dann alles so dar, wie Cal es in Erinnerung hatte. Das Büro war inzwischen aufgeräumt gewesen und die Lampe, mit der Cal zugeschlagen hatte, war entsorgt worden. Sie lag in einem Container, Js Blut war daran. Ebenfalls in dem Container hatte die Polizei Callums Schlafsack gefunden. Der Telefonhörer im Büro hatte bei Untersuchung mit Schwarzlicht noch Blutspuren von Callum gezeigt. Das von Callum angegebene Schließfach war tatsächlich außer Betrieb. Der Schlüssel, den Cal stecken gelassen hatte, funktionierte, aber die Elektronik war defekt, also konnte es nicht „normal" von Bahnreisenden genutzt werden.
Callum und Alexander tauschten vielsagende Blicke. Das soeben geschilderte Szenario passte klar zu der Aussage des jungen Mannes. Warum hätte Johnson sonst das Büro aufgeräumt, in dem er überfallen wurde und versucht, Beweisstücke verschwinden zu lassen. Die Richterin blickte den Anwalt von Johnson, einen Mister Higgins an und fragte, ob es eine Erklärung für dieses Verhalten gebe. Higgins nickte und sagte aus, dass sein Mandant aufgrund der schweren Kopfverletzung nicht wusste, was er tat. Er habe nur im Sinn gehabt, seinen Arbeitgeber nicht mit den Unannehmlichkeiten zu behelligen. Es war ja nichts gestohlen worden und die Lampe war nicht unbedingt notwendig. Über so viel Dummdreistigkeit von J hätte Cal fast gelacht, aber der Typ schaute wieder zu ihm her, mit einem Blick, der so viel sagte wie „was kannst du kleiner Wichser darauf antworten?!" Callum starrte daraufhin nur zurück. Er würde sich von diesem Typen nicht einschüchtern lassen. No way!
Die Richterin fragte sogleich, ob es ein medizinisches Gutachten gebe, das die Intensität der Kopfverletzung belege und tatsächlich war der Anwalt Higgins mit einem Handgriff in seine Prozessmappe in der Lage, ein solches Schriftstück zu präsentieren. Callum rollte genervt mit den Augen und Alexander flüsterte ihm sofort zu, dass er das besser lassen solle. Also riss er sich zusammen. Und wieder dieser süffisante Blick von J. Wenn das so weiterging, würde Callum Rory bitten, seine Drohung wahr zu machen und dem Typen einen auf's Maul zu geben.
„Callum, bleib ruhig ja...", flüsterte Alexander ihm zu.
Der Junge würde sein Bestes tun.
Als Nächstes wandte sich die Richterin an Alexander.
„Würden Sie uns bitte erläutern, ob es medizinische Gutachten ihres Mandanten gibt und welcher Art seine Verletzungen waren."
Alexander nickte und überreichte seinerseits das Gutachten des Polizeiarztes mit den Fotos, die man an dem Morgen von Callums Platz- und Schürfwunden gemacht hatte. Sie las aufmerksam und ließ die Fotos dann zur Jury weiterreichen.
Der Higgins erhob sich. „Euer Ehren, es gibt keinerlei Beweis dafür, dass diese Fotos oder dieses Gutachten vom Tag nach dem Überfall auf meinen Mandanten, Mr. Johnson, tatsächlich Verletzungen darstellen, die Mister Robinson von meinem Mandanten zugefügt worden sind. Auch hier steht Aussage gegen Aussage."
„Würden Sie das bitte näher erläutern", forderte Richterin Clarke.
„Euer Ehren, mein Mandant gibt zu, sich mit dem Telefonhörer verteidigt zu haben und die Kopfverletzung von Mr. Robinson kann daher stammen, aber die Schürfwunden an seinen Hüften sind wohl eher das Ergebnis anderer sexueller Kontakte."
Callum ballte unwillkürlich seine Hände zu Fäusten, so fest, dass sich seine Fingernägel schmerzhaft ins Fleisch drückten. Er hatte damit gerechnet, aber nicht so schnell. Alexander blieb scheinbar völlig gelassen.
„Euer Ehren, wir können beweisen, dass diese Verletzungen von dem besagten Tag stammen."
„Wie können Sie das beweisen?"
„Wir haben einen Zeugen. Bitte rufen Sie Doktor Roger Hollander in den Zeugenstand."
Callum wurde ganz aufgeregt. Roger war hier! Aber ja, der könnte das alles bestätigen, ganz sicher sogar. Als Roger zur Tür hereinkam, nickte er kurz in die Richtung von Cal, Jem und Rory, dann setzte er sich in den Zeugenstand und wurde vereidigt. Alexander übernahm die Befragung.
„Mister Hollander, Sie haben meinen Mandanten an dem Morgen medizinisch erstversorgt. Ist das richtig?"
„Ja."
„Würden Sie für das Gericht schildern, wie es dazu kam und was Sie festgestellt haben."
Roger nickte. „Ja, das kann ich. Ich fand Callum sitzend vor der Eingangstür des Hauses, in dem sein Freund und ich wohnen. Er wirkte völlig verstört und ich sah, dass er eine Wunde an der Schläfe hatte. Also bot ich ihm meine Hilfe an."
„Was meinen Sie mit 'verstört'?"
„Er hockte da und sah verängstigt aus. Er hielt so einen Karton im Arm und es war ihm sichtlich peinlich, dass sein Blut darauf tropfte und ich sehen konnte, was los war."
„Hat er Ihnen gegenüber erklärt, wie es dazu gekommen ist?"
Roger überlegte. „Nein, aber mir war klar, dass ihn da jemand angegriffen hat. Sonst wäre er nicht so verstört gewesen. Ich wusste, dass er auf der Straße gelebt hatte, also konnte er nicht gerade zimperlich sein. Also musste etwas Ernstes passiert sein, wenn ihn das so aus der Fassung brachte. Ich riet ihm, sich bei den Behörden zu melden und eine Anzeige wegen Körperverletzung zu machen."
Higgins hakte sich hier ein. „Körperverletzung, nicht Vergewaltigung, richtig?"
Roger nickte. „Ja, richtig. Aber er hatte mir seine Hüften nicht gezeigt."
„Warum hat er das wohl nicht?", wollte Higgins wissen.
„Sie zeigen nicht jedem gleich ihre Hüften, oder? Er war verstört, verängstigt." Roger war anzumerken, dass er mit sich rang, um ruhig zu bleiben.
Alexander klinkte sich wieder ein. „Als Arzt, der Erfahrung mit Körperverletzung und auch Vergewaltigungsopfern hat, was würden Sie da sagen, warum zeigt man seine Hüften nicht?"
Roger schien dankbar für diese Aufforderung zu sein und zögerte kein bisschen. „Das ist nur eine natürliche Scham. Die Opfer realisieren das ganze Ausmaß solcher Taten erst nach und nach. Wenn einem so etwas widerfährt, dann ist man verletzt, geschockt, verunsichert, verdrängt es womöglich, erst später kommt die Erkenntnis und dann die Überlegung, es zur Anzeige zu bringen. Sie laufen nicht los und wollen, dass es jeder sieht oder erfährt, was man ihnen angetan hat."
„Also hat er die Schürfwunden nicht gezeigt!", beharrte Higgins.
„Nein, aber sie waren ganz sicher da."
„Das ist reine Spekulation."
„Euer Ehren", warf Alexander ein, „wir haben noch einen Zeugen. Bitte rufen Sie Jeremy Westenra in den Zeugenstand."
Ein Raunen ging jetzt durch den Gerichtssaal. Welchen Zusammenhang gab es zwischen dem Anwalt Westenra und dem Zeugen, der jetzt aufgerufen wurde?
Jeremy kam nach vorne. Roger überließ ihm seinen Platz im Zeugenstand und setzte sich zu Rory, während man Jem vereidigte.
Alexander hielt es für das Beste, die Situation zu klären. „Euer Ehren, Jeremy ist mein Sohn und Callum ist sein Partner."
Die Richterin nickte und ließ fortfahren.
„Jeremy, schildere und doch bitte, was du darüber weißt, woher Callums Verletzungen stammen und welcher Art sie waren." Er schaute seinen Sohn aufmunternd an.
Jeremy hatte nicht damit gerechnet, so bald etwas Aussagen zu müssen und dann gleich zu diesem Thema, aber er wirkte gefasst.
„Es stimmt, was Doktor Hollander gesagt hat. Cal, Mister Robinson, hat den Übergriff erst verharmlost. Er hat mir zwar erzählt, dass Mister Johnson ihn geschlagen hat, als er an Euston war, aber abends habe ich diese schrecklichen Blutergüsse und Abschürfungen gesehen, als wir eine neue Jeans anprobiert haben."
„Hat er dir erklärt, dass sie von Mister Johnson stammen?"
„Ja, hat er. Und dann hat er erzählt, wie der versucht hat, ihn zu vergewaltigen. Ohnmächtig, auf dem Schreibtisch."
„Euer Ehren", begann Higgins, „solche Druckstellen und Abschürfungen sind nicht gerade ungewöhnlich, wenn es zu Geschlechtsverkehr von zwei oder mehr Homosexuellen kommt."
Callum gefror das Blut in den Adern. Zwei oder mehr, nicht ungewöhnlich...
Alexander war zu überrascht von dieser Äußerung, dass er eine unprofessionelle Reaktion nicht verhindern konnte. „Was wollen Sie damit andeuten? Etwa, dass mein Sohn seinen Freund so zurichtet?!"
Higgins schaute zu Johnson, dann zur Richterin und schließlich zu Alexander. „Keineswegs. Laut meinem Mandanten ist das wohl die unwahrscheinlichere Erklärung. Mister Johnson weiß zufällig, dass Mister Robinson sich für Drogen prostituiert hat. Da wäre es doch nur logisch anzunehmen, dass sein Zustand darauf zurückzuführen ist."
Jem hielt es jetzt nicht mehr auf seinem Stuhl. „Das ist doch wohl die Höhe!", platzte es aus ihm heraus und an Johnson gewandt: „Was fällt dir ein, du..."
„Ruhe, Ruhe im Saal", ging die Clarke dazwischen und schlug mit ihrem Hammer auf.
Jem schaute zu ihr und setzte sich wieder. „Entschuldigung, tut mir nicht leid..."
Sie grinste fast, aber im nächsten Moment war sie wieder völlig streng und übernahm selbst das Wort. „Mister Westenra, sie stehen unter Eid. Sagen Sie uns nochmals, sind Sie sicher, dass sie Verletzungen von Mister Johnson stammen?"
Alexander bemerkte, dass sie von Verletzungen sprach, also glaubte sie das wohl. Er schaute Jem aufmunternd an, der seinerseits kein bisschen zögerte.
„Ich bin mir zu tausend Prozent sicher. Ich und Cal, wir waren da bereits zusammen und er und ich, wir verletzen uns nicht. Das musste von dem Übergriff an Euston stammen."
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