Leseprobe- Buch version
Kapitel 1
Immer wieder hörte ich Sand von einem Spaten rieseln. Metall, das mit Kraft in lose Erde gestoßen wurde. Immer und immer wieder, wie auf einer kaputten Schallplatte. Das Knistern von Planen.
Meine Augenlider zuckten.
Dumpf drang die Stimme der Huber zu mir durch. Sie fluchte über ihren Mann, wimmerte um meine Existenz. Ich wollte diese Stimme nie wieder in meinem Leben hören! Schwärze umhüllte mich, engte meine Brust ein. Die Grillen zirpten, als wenn sie über mich lachen wollten. Mein Herz raste. Ich wollte schreien.
„Stopp!" Ich presste mir die Hände auf die Ohren und verzog das Gesicht. Das war nicht real! Das war alles nur in meinem Kopf.
Sanft drang die Stimme von Frau Doktor Hoffman, wie durch Watte zu mir durch. „Tief atmen. Einfach nur atmen. Was siehst du?"
Zittrig atmete ich ein und versuchte eine Hand, von den Ohren zu nehmen. Die Geräusche waren weg. Da war nur das Ticken der kleinen Standuhr am Fenster und das Prasseln des Regens an der Scheibe.
„Ich sehe nichts. Alles ist schwarz. Ich höre nur."
„Gut." Ihr Kuli schrappte über das Papier. „Was hörst du?"
„Den Spaten. Hauptsächlich den Spaten."
„Was fühlst du dabei?"
Ich schluckte und öffnete die Augen. Die Lampe neben dem Sofa, auf dem ich lag, spendete warmes freundlich Licht. Der sonst kahle und kühle Raum wirkte durch die Beleuchtung deutlich gemütlicher.
Meine Therapeutin sah mich fragend über den Rand ihrer Brille an. Den Kuli, mit dem unpassenden roten Plüsch Bömmel am Ende, hielt sie erwartungsvoll über dem Notizblock schwebend, in ihrer sonnengebräunten Hand. „Wenn es zu schwer ist, können wir über etwas anderes reden."
Ich biss mir auf die Unterlippe. Dann würde ich dieses Thema nur weiter meiden und die Fortschritte, na ja, wenn es die geben würde, nur kleiner werden.
„Reden wir doch einfach über ..." Sie blätterte in ihren Notizen. „Lukas. Er war bei dir in der Nacht. Hat sich eure Beziehung seitdem verändert?"
Von einem roten Tuch zum nächsten. Das konnten nur Therapeuten, ohne dass man es ihnen krummnahm.
Ich musste wieder schlucken und richtete mich auf. „Er meidet mich."
„Wie geht es dir damit?"
Wie sollte es mir damit schon gehen? Er schob mich weg. Ich nutzte ihm nichts mehr. Er hatte seine Antworten bekommen.
Ich zuckte mit den Schultern.
Frau Hoffmann oder Anja, wie ich sie eigentlich nennen sollte, aber nicht konnte, tippte mit der Kuli Spitze auf die Seite vor ihr. „Hast du eine Idee, warum er dich meidet?"
Ich schüttelte den Kopf.
„Könnte es sein, dass er Schuldgefühle hat und dich meidet, um nicht mit ihnen konfrontiert zu werden?"
„Dann könnte er mit mir reden."
„So leicht würde ich mir das nicht vorstellen. Er wird auch noch Zeit brauchen. Vielleicht weniger als du, vielleicht mehr. So was lässt sich schwer sagen. Es hängt davon ab, wie tief das Trauma sitzt." Sie rückte ihre Brille zurecht und die kleinen Glitzersteine auf ihren Zeigefingern blitzten im Lampenlicht auf. „Das, was ihr da erlebt habt, darfst du nicht unterschätzen. Ich bin ehrlich mit dir. Ich habe meine Bedenken, die Schulfähigkeit zu unterschreiben."
„Aber wir haben doch Fortschritte gemacht." Ich wollte doch nur ein Stück Normalität zurück. Sie hatte mir das versprochen. Tränen stiegen mir in die Augen und ich wandte den Blick zum Fenster, vor dem sich Bäume im sanften Wind wogen und Regentropfen sich ein Rennen die Scheibe hinab lieferten.
Frau Hoffman seufzte. „Ich weiß dir geht es um den Alltag. Den konnten wir dir ein stückweit bewahren, indem du zuhause bleiben durftest, und nicht stationär aufgenommen wurdest. Du bist mir noch zu fragil. Deine Mutter meinte, du hättest mehrere Albträume die Nacht und würdest teilweise bis frühmorgens wachliegen." Sie lehnte sich vor und lächelte matt. „Denk an dein Abitur, an das, was danach kommen soll. Wenn deine schulischen Leistungen abfallen, dann verbaust du dir die Zukunft."
„Ich will doch nur mit meinen Freunden zusammensitzen und Ablenkung." Das musste sie doch verstehen. Zuhause klappte das nicht. Im Stall klappte das nicht. Flehend sah ich ihr direkt in die Augen.
Sie ließ den Stift sinken und blickte zur Wanduhr. „Du triffst deine beste Freundin doch jeden Tag am Stall. Triff dich mit den Anderen vielleicht erst einmal in einem Café oder lad sie ein. Auch das bringt Ablenkung. Wir müssen die Sitzung hier beenden. Die Zeit ist um." Ihr Lächeln wurde freundlicher. „Was möchtest du dir Positives bis zur nächsten Sitzung vornehmen?"
Ich feuchtete meine Unterlippe mit der Zungenspitze an und senkte den Blick auf den grauen Teppich vor dem roten Sofa. „Ich würde gerne mit Liz ausreiten gehen. Gerne an den Strand."
„Das klingt gut. Gibt es einen Weg, wie ihr den Wald meiden könnt?"
Ich nickte. „Wir müssen vorne rum vom Hof und am Deich entlang."
Frau Hartman erhob sich in einer fließenden Bewegung. Das Notizbuch und den Stift legte sie auf ihren Schreibtisch hinter sich. „Dann gebe ich mein Ok und wünsche euch viel Spaß dabei. Über die Schule reden wir bei unserer nächsten Sitzung noch einmal."
Mama wartete direkt vor der Tür im Auto. Sie legte das Buch aus der Hand kaum, dass sie mich sah, und beugte sich zur Beifahrertür, um sie mir zu öffnen. „Na, wie war's dieses Mal?"
„Ging so." Meine Stimme klang immer noch dünn, als ich auf den Sitz glitt und die Autotür zuzog. „Sie will nicht, dass ich nach den Ferien zur Schule gehe."
„Marie das ist in Ordnung. Mach dir da bitte keinen Druck. Und solltest du die Q1 nochmal machen müssen, ist das nicht schlimm. Du musst jetzt erst einmal lernen mit dem ... ja ... klarzukommen." Sie gab mir eine lavendelfarbene Box. „Ich war bei Ellie. Sie lässt dich grüßen und hat ganz frisch gebackene Kekse eingepackt. Extra die mit viel Schokolade."
„Das ist lieb von ihr, aber das hätte sie nicht machen müssen."
Mama schmunzelte. „Ellie hat sowas schon immer gern gemacht. Bei ihr waren die Tage Reporter und wollten sie Interviewen. Jacob war auch da, er ist wohl dazwischengegangen. Wir sollten auch schauen, dass wir einen guten Anwalt haben und diese Podcaster zumindest loswerden."
Ich musste daran denken, wie Lena vor vier Tagen im Stall gegen ein Crime-Podcaster Duo gewettert hatte. Sie waren so dreist gewesen die Toten bei Klarnamen zu nennen. Entgegen dessen, was Lena ihnen hochformal auf ihre Anfrage zurückgeschrieben hatte. Die Stüwes hatten nur den Vorteil, dass sie einen Sprecher rausschicken konnten, dicht gefolgt von einer Armee an firmeneigenen Anwälten, angeführt von ihrem langjährigen Familienanwalt. So war das mit Geld.
„Dein Vater wollte sich mal umsehen, an wen man sich da wenden muss. Lena hatte angeboten, dass wir uns beteiligen könnten, aber wir könnten uns nicht einmal das Beratungshonorar ihres Anwaltes leisten." Mama schnaubte auf und startete den Motor. „Das bekommen wir alles hin. Der Staub wird sich schon legen ... irgendwann."
Irgendwann. Irgendwann wäre dieser Albtraum endgültig vorbei. Ich konnte dieses Wort nicht mehr hören. Genauso wenig wie das Wort Zeit und dass ich mir diese geben musste.
Ich öffnete die Box und schnappte mir einen der Kekse. Sie rochen, wie Ellies Café süß, lecker und so schokoladig, dass es einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. „Vielleicht sollten wir uns Ellie und Jacob zusammenschließen."
Überrascht zog Mama die Augenbrauen hoch. „Das wäre tatsächlich eine Idee. Schließlich ist ihr Café auch namentlich genannt worden und sie kann kaum noch selbst hinter dem Tresen stehen."
Das Café mit Ellie nur in der Backstube? Da fehlte doch die Seele.
Der Sommer hatte so viel kaputt gemacht. Statt Erleichterung darüber, dass ich dieses Rätsel gelöst hatte, fühlte ich nur Reue.
Wäre das Tagebuch geblieben, wo es war, alles wäre nie passiert. Ich wollte nur noch mein Leben zurück!
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