Kapitel 42


Zwei Tage später war der Blog verschwunden. Lukas hatte recht behalten es war vorbei. Benji hatte keine Macht mehr. Auch die Hubers hatten an Macht über mich eingebüßt. Sie alle durften sich vor Gericht verantworten. Bis zur Verhandlung um Benji würde es noch dauern, aber er hatte schon einige nette Briefe von Anwälten bekommen.

Es war, als wäre ein Stein von mir abgefallen und ich könnte seit Monaten wieder frei atmen. Dachte ich erst das Trauma würde nun noch viel eindrücklicher zurückkehren, aber es war, als wären die Schatten langsam dabei zu ergrauen.

Um den Triumpf über dieses perfide Internetphänomen zu feiern, war ich mit Lukas ausreiten gegangen. Einfach die Ruhe genießen. Nur wir, die Pferde und ab und an mal ein kleiner Schatten das Hallo sagen wollte. Ich würde wohl noch einige Wochen bei jedem Knacken im Unterholz zusammenzucken.

„Eigentlich kaum zu glauben wie schnell das plötzlich ging. Kaum hatte man seinen Namen ist er eingeknickt." Lukas beugte sich an Pantas Seite herunter, um den Sattelgurt zu prüfen.

Ich musste lächeln. Es war wirklich lächerlich leicht gewesen. „Sicher, dass es nicht euer Anwalt war, der dafür gesorgt hat, dass er dich nicht für die gebrochene Nase angezeigt hat und brav Entschuldigungsbriefe verschickt hat?"

Mit einem nachdenklichen Blick tastete er unter dem Bauch seines Hengstes nach dem Sattelgurt. „Das kann auch sein. Ich glaube ich muss gleich einmal nachgurten. Der sitzt doch etwas sehr locker. Können wir vorne an der Tannenschonung einmal stehen bleiben?"

„Sicher, aber wir sollten aufpassen, dass uns dort keine Wanderer überrennen." Mit dem Kinn wies ich auf die kleine Gruppe von Rucksacktouristen bewaffnet mit Nordic Walking Stöcken.

„Da nehme ich lieber den Rennradfahrer dahinten. Der macht bestimmt wenigstens Platz." Lukas seufzte und blickte den Weg runter bis kurz vor den Deich. Ein einsamer in die Jahre gekommener Rennradfahrer mühte sich die leichte Anhöhe hinauf. Schon von weitem konnte man sehen, wie rot er im Gesicht war.

„Hast du am Stall nicht richtig gegurtet?"

„Nee, der Sattelgurt sitzt einfach scheiße. Ich muss morgen mal einen andern von zuhause mitbringen. Ich will ihn jetzt auch nicht immer mit Stollenschutz reiten, wenn er keine drin hat."

Viva schnaubte und wollte sich nach unten strecken, um sich einen Grashalm zu genehmigen. Links und rechts von uns blökten die Schafe der Nachbarn des Reitclubs und der Himmel strahlte, als wenn wir eigentlich immer noch Sommer hätten. So hätte unser Sommer eigentlich aussehen sollen.

„Wann kommt eigentlich dein neues Pferd an?"

Lukas zuckte mit den Schultern und erhob sich wieder. „Irgendwann die Tage. Mum und ich hätten beide nicht gedacht, dass es so lange dauern würde." Sanft drückte er das Bein etwas mehr ran und Pantas machte augenblicklich größere Schritte. Wie immer wölbte er den Hals auf und spielte aufmerksam mit den Ohren, um auch ja zu gefallen. „Die Frage ist nur, ob er nicht erstmal nur für ein halbes Jahr auf die Weide kommt und einfach im Frühjahr wieder antrainiert wird. Der sollte eigentlich mal in den Vielseitigkeitssport und hat immer noch diesen Schalter im Kopf, dass er möglichst schnell über alles drüber muss." Das klang fast als wäre ein halbes Jahr auf der Weide sowas wie ein Factory Reset.

„Dann ist das doch eigentlich dein Pferd." Ich kraulte Viva am Mähnenkamm und ließ die Zügel etwas locker.

Er wiegelte den Kopf hin und her. „Die Pläne haben sich wohl in der letzten Woche etwas geändert. Keine Ahnung ob es so eine gute Idee war ihn herzuholen."

Ich blinzelte. Hatte ich etwas verpasst? Im Sommer war Lukas noch euphorisch gewesen und hatte eventuell zurück in den Kader gewollte und jetzt sprach er davon, dass sich Pläne geändert hatten? Ich traute mich kaum zu fragen. „Wie meinst du das?"

Er atmete tief ein. Über uns zogen schon wieder irgendwelche Seevögel ihre Kreise auf der Suche nach der nächsten Salzwiese. Die Wanderer kamen laut schwatzend näher. „Ich habe nur noch ein halbes Jahr bis zum Abi und ..." er unterbrach sich selbst und schüttelte dann den Kopf. „Ach was ist nicht so wichtig."

„Geht es um das, was danach kommt?" Dann wusste er eindeutig mehr als ich. Noch ein anderthalb Jahre hatte ich Zeit, um eine halbwegs zufriedenstellende Antwort auf diese Frage zu finden.

Lukas musste schlucken und nickte.

Die Tannen kamen immer näher und ich hielt Viva neben der ersten großen an. Gespannt wartete ich auf seine Antwort.

Routiniert schob er das Bein nachvorne, nahm die Zügel in eine Hand und schlug das Sattelblatt hoch. Er klemmte es sich unter den Unterarm und zog dann die Gurtstrupfen nach. „Es ist wirklich nicht..."

Warum machte er es so schwer? Konnte er nicht einfach sagen, was Sache war?

Das Sattelblatt ließ er wieder sinken und das Bein rutschte zurück in seine angestammte Position. Er seufzte. „Ich habe einen Studienplatz in Cardiff."

Innerlich schwankte ich zwischen der Angst davor ihn zu verlieren und der Freude darüber, dass er schon einen Platz hatte. Letzteres fiel mir schwer. Aber sich nicht zu freuen, würde sich falsch anfühlen.

„Glückwunsch", krächzte ich und bemühte mich um ein Lächeln, auch wenn mein Herz bei dem Gedanken daran ihn schon in weniger als sechs Monaten nicht mehr jeden Tag zu sehen schmerzte.

Er grinste schief. „Danke, ich wollte es eigentlich noch etwas für mich behalten. So viele wissen noch nicht, was sie machen wollen. Ich komme mir da einfach komisch vor schon einen Platz zu haben."

Als wenn das alles wäre. Mir wurde in dem Moment auch schlagartig bewusst, dass das zwischen uns für immer nur Freundschaft bleiben würde. Damit war jegliche Chance vertan. Schon bald würden wir zwei grundsätzlich verschiedene Leben leben, in zwei verschiedenen Ländern, unzählige Kilometer voneinander getrennt.

Selbst wenn ich ihm in dem Moment hätte sagen wollen, was ich fühlte, es hätte nichts geändert. Mein Lächeln wurde matter und ich bemühte mich Viva wieder loslaufen zu lassen. Wer wusste schon wann wir uns je wiedersehen würden.

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