Kapitel 20
So schön der Morgen auch gewesen war. Er wurde vom Mittag all seiner Schönheit und Magie beraubt.
Es war eine Therapiesitzung wie jede andere gewesen. Danach fühlte ich mich immer wie ein Porzellanfigur, die schon einen Sprung hatte und beim nächsten Bodenkontakt oder auch nur einer falschen Bewegung in tausend Teile zerspringen würde.
Mama hatte im Auto gewartet und Kekse dabei. Als ich auf die Verpackung sah, schlug mein Herz sofort schneller.
Sie hatte meinen Blick wohl bemerkt, denn sie wies auf die Tüte und erklärt, „Ich habe mich endlich getraut." Sie lächelte so befreit und glücklich, dass die Krähenfüße um ihre Augen noch stärker hervortraten als sonst. „Das Café ist wirklich schön und Elli hat sich so gefreut mich zusehen." Sie startete den Motor. „Jakob habe ich ja hin und wieder Mal am Club getroffen, aber sie... Es war wirklich als hätte ich eine ganz alte Freundin wieder getroffen. Sie hat vorgeschlagen, dass wir uns alle vielleicht endlich mal wieder treffen sollten. Wie in alten Zeiten. Steffi ist ja schließlich auch wieder hier und Fiete war nie weg."
Ich lächelte sie an und griff in die weiße Papiertüte mit dem veilchenlilanen Logo von Ellis Café. Eigentlich hatte ich keinen Hunger, aber ein Keks würde mir jetzt eindeutig guttun.
„Ich werde glaube ich, wenn wir zuhause sind direkt eine Rundmail rausschicken und vorschlagen, dass wir uns am Wochenende im Reiterstübchen treffen. Fiete lade ich einfach persönlich ein, wenn wir gleich am Club sind. Weißt du noch, wie er bei der Beerdigung geweint hat. Er wird sich so freuen seine alte Truppe mehr oder weniger komplett wieder zu haben. Lena muss ich dann auch schrieben, ob sie noch Fotos von Tim von damals hat." Alles an ihr sprühte förmlich vor Tatendrang. „Ich habe es wirklich viel zu lange aufgeschoben ihr zu begegnen."
„Kannst du das vielleicht später machen? Ich würde gerne direkt in den Stall", fragte ich, während ich mir einen Schokokeks mit großen Stückchen Schokolade und wenn es mich nicht täuschte auch etwas Meersalz in den Mund schob.
„Ach das mache ich, während du dich umziehst." Sie bog auf die Hauptstraße ein und ich musste unwillkürlich scharf einatmen, als wir am Hof der Hubers vorbeikamen. Der lag jetzt brach. Niemand wollte einen Reitstall an dem nicht nur glückliche Erinnerungen gemacht wurden, sondern Pferde in beinahe schon Mafiösenstrukturen ausgebeutet und Menschen ermordet.
Mama nahm sofort eine Hand vom Lenker und legte sie mir beruhigen aufs Knie. „Die Stadt will den Hof bald abreißen. Da pilgern zu viele TrueCrime Fans hin."
Der Fall war vor wenigen Wochen in einem großen Deutschen Podcast mit dem Thema wahre Verbrechen besprochen worden und seitdem war der Hof eine Riesenattraktion geworden. Sehr zum Leidwesen aller Einwohner von Kleinblommen.
Elli hatte vor wenigen Wochen tatsächlich Leute im Café, die ihr Fragen zu Lina gestellt haben. Papa hatte sie erzählt, dass ihr Mann sie da wohl weggezogen hätte und die Leute rausgeschmissen. Er wäre wohl sehr viel direkter als sie und sie hätte in dem Moment nicht gewusst, was sie hätte tun sollen.
„Ich bin nur froh, dass sie in diesem Scheißding keinen Namen genannt haben. Sie haben Papa zwar zu einem Interview angefragt und Oma und Opa auch, aber die haben alle nein gesagt. Lena hat bei dem Anruf direkt an ihren Familienanwalt verwiesen. Das war wirklich das letzte!" Mama schnaubte auf und beschleunigte sachte.
„Du fährst zu schnell." Wie immer.
„Ach, die werden da wohl kaum drei Tage in Folge blitzen!"
„Wann kommen Oma und Opa eigentlich mal wieder?" Ich rollte die Öffnung der Tüte zusammen und ließ sie in meinen Schoß gleiten.
„Oma wollte am Freitag ans Grab, soweit ich weiß und danach bei uns Abendessen. Das darf sie auch gerne kochen. Mein Essen schmeckt ihr ja immer nicht. Wir wollen dann auch besprechen, was wir wegen dieses Podcasts machen. Lena hat schon mit dem Anwalt der Stüwes gesprochen und der würde klagen. Wir müssen uns nur entscheiden, ob wir uns anschließen oder nicht. Ich meine sie haben viel zu wenig zensiert und nicht danach gefragt, ob wir damit einverstanden sind, wenn sie darüber reden."
Ich nickte. Wenigstens mir und Lukas hatten sie andere Namen gegeben und nicht aufgelöst in welcher Verbindung wir zu den Opfern standen. So wirkte es wie zwei Radom Teenager, die da einfach reingerutscht waren. Wie falsch das doch klang.
Stumm sah ich aus dem Fenster und ließ das Gedudel im Radio an mir vorbei schrappen, bis wir zuhause waren.
Umgezogen und den Putzplatz schon vorbereitet lief ich wenig später zur Weide. Viva stand mit den anderen schon am Tor und wieherte, als sie mich kommen hörte. Eine dicke Staubschicht zierte ihren Rücken und irgendwo her hatte sie sich noch eine Schlammpackung für ihre linke Flanke besorgt.
„War ja klar. Hättest du dich nicht einmal als Dank für die Hagebutten heute morgen nicht in den Dreck schmeißen können?"
Mit Unschuldsmiene streckte Viva mir ihren feinen Kopf hin und ließ sich an den Strick nehmen.
Wir kamen gerade am Stall an, da kam Ole mit Nigal an der Longe und einer Peitsche in der anderen Hand aus der Stalltür.
„Keine Schule?", begrüßte ich ihn verwundert.
Er lachte. „Vier Freistunden und danach zwei Stunden Kunst-Lk. Da ist es egal ob ich zehn Minuten zu spät bin." So eine gute Erklärung, warum ich hier war, hatte ich leider nicht, aber er sprach schon weiter. „Du musst nichts erklären. Ehrlich gesagt siehst du aus, als hättest du eine schlimme Nacht hinter dir."
Dankbar lächelte ich ihn an und konnte es nicht verhindern hinter ihm in den Stall zu spähen.
„Da muss ich dich leider enttäuschen. Lukas müsste gerade in einer Doppelstunde Französisch sitzen und danach eine Doppelstunde Deutsch haben. Der kommt heute erst später."
„Ich habe nicht..."
Er winkte ab. „Ihr beide fragt ständig nach dem anderen. Reden würde euch ganz klar guttun."
„An mir hängt es nicht!" Beleidigt schob ich die Unterlippe vor und wünschte dann in einem neutraleren Ton. „Falls wir uns nicht noch sehen. Viel Spaß beim ausreiten mit Liz."
Ole pustete sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und knirschte mit den Zähnen. „Mal sehen. Meine Kleine hat es das mit dem Benehmen noch nicht ganz raus."
Ich musste schmunzeln. Manchmal stand Ole echt auf dem Schlauch.
Er hob zum Abschied kurz die Hand mit der Peitsche und nickte mir zu, dann wanderten er und sein Schimmel einträchtig nebeneinander zum Longierzirkel.
Als ich mich zum Putzplatz wandte, sah ich Mama am Anbinder lehnen und breit grinsen. „Der ist ja nett. Ist doch dieser Schwede, oder?"
Ich nickte. „Und Liz bis über beide Ohren in ihn verschossen."
Mamas grinsen wurde weniger und sie hob eine Augenbraue.
„Nein, wir kommen uns da nicht in die Quere. Ole ist einfach nur nett und ich mag ihn nur als Kumpel."
Zufrieden mit der Antwort nickte sie. „Ich sag es ja. Lukas und du, das wird noch was."
Ich schüttelte den Kopf und band Viva an. Nie im Leben! Und auch nicht, weil sie und Lena sich das schon unser ganzes Leben lang in den schillerndsten Farben ausgemalt hatten. Wir hatten vielleicht als Kinder toll zusammen gespielt, aber jetzt waren wir uns so fremd wie noch nie.
Tief ausatmend zog ich den Panikknoten fest, da knackte es plötzlich hinter uns zwischen den Büschen am Stall. Viva machte einen erstaunten Satz nach hinten, das Halfter knarzte leicht, als sie sich mit ihrem Gewicht hineinhängte. Vor meinem inneren Auge hatte ich es schon reißen sehen und Viva zur Straße galoppieren. Beruhigend tätschelte ich ihren Hals und wandte mich zu den Büschen. Was war das? Ich konnte mir doch nicht schon wieder etwas einbilden?
Mama sah auch in die Richtung und zuckte dann mit den Schultern. „Bestimmt nur ein Vogel." Sanft berührte sie meine Schulter. „Ich hole mir dann mal meine Leihgabe. Das wird bestimmt lustig. Hannah sagte er wäre etwas spritzig und ihm würde ein Ausritt mal guttun."
Ich hörte ihr allerdings nicht wirklich zu, denn plötzlich war da wieder dieses Gefühl. Es war, als würde jemand mich beobachten. Jeden meiner Schritte verfolgen und den Blick wie besessen nicht von mir lösen. Es war, als würde sich etwas kalt und abwartend in meinen Nacken bohren. Ich erschauderte, aber entschied, dass ich mir das nur einbildete. Nach der letzten Nacht wunderte mich nichts mehr. Unbeirrt langte ich in meine Putzbox und fing an Viva zu putzen.
Schnell erstrahlte sie wieder in einem rostrot. Die Flanke machte ich nur grob sauber. Sobald sie nach dem Ausritt wieder draußen wäre, würde sie bestimmt schon wieder so aussehen, oder vielleicht sogar noch schlimmer, da musste ich meine Zeit nicht mit einem Schlammfleck verschwenden, der außerhalb von Sattel-, Gurt-, und Trensenlage prangte und klein Schweinchen würde, das unter Garantie nicht stören.
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