Kapitel 19

Mama hatte mich schlafen lassen.

So war ich erst wach geworden, als die Sonne schon relativ hoch am strahlend blauen Himmel stand. Sofort hatte es mich zum Fenster gezogen.

Auf den ersten Blick hatte ich Viva auf der Weide zwischen unserem Haus und den ersten Stallungen des Clubs gefunden. Wie immer hatte sie einträchtig neben Haddy und Libby gestanden und gegrast.

Ihr Anblick löste so ein Ruhiges Gefühl in mir aus, wie sonst nichts. Immer wenn ich auf die Weide blickte, dann hatte ich das Gefühl, als wäre alles wie früher. Wie vor dem Sommer. Bei ihr schien immer alles in Ordnung. Sie hatte ihre Freundinnen, ab und an kamen Mama und ich und machten etwas mit ihr.

Seufzend löste ich mich vom Fenster und blickte widerwillig zur noch verschlossenen Zimmertür. Wenn ich jetzt die Treppe herunter ging, dann würde Mama mich wahrscheinlich wieder so ansehen. Dieser Blick versicherte mich und sorgte nur dafür, dass ich mich noch schuldiger an der Situation fühlte. Trotzdem hatte ich Hunger und würde ihr nicht den ganzen Tag aus dem Weg gehen können, besonders nicht, falls sie doch einen Termin bei meiner Therapeutin für heute bekommen hatte.

„Marie, du musst dir Zeit geben und vielleicht darüber nachdenken dich stationär behandeln lassen, wenn es nicht besser wird." Das sagte diese Frau mit viel zu spitzen Kinn jedes Mal. Dann fragte ich mich allerdings immer eher, ob sie mit ihrem Kinn wohl eine Melone aufspießen könnte, als wirklich zuzuhören. Meine Antwort war auch immer dieselbe. Ich nickte artig und tat so als würde ich mir ihren Vorschlag zu Herzen nehmen.

Ich schnappte mir ein paar Kuschelsocken aus meiner weißen kleinen Kommode neben dem Fenster. Wohlig weich schmiegte sich der Stoff an meine Füße, während ich über den Teppich schlich und schließlich vor der Tür stehen blieb, die kalte Klinke in der Hand.

Auch wenn ich mich lieber in meinem Zimmer einschließen wollte und abwarten bis der Tag verging oder zumindest Liz aus der Schule kam, war das wohl keine Option und damit atmete ich noch einmal tief ein, dann drückte ich die Klinke herunter und schob die Tür auf.

Schummeriges Licht schlug mir entgegen und ein Wäschekorb stand verloren neben der Treppe. Aus dem Bad konnte ich Mama leise Summen hören. Kurz überkam mich die Illusion, dass ich den letzten Sommer nur geträumt hatte. Alles war so normal. So sehr wie schon immer in meinem Leben.

„Na, wach? Ich habe mit Frau Hoffmann gesprochen. Sie würde dich heute Mittag zwischenschieben. Mit Hannah habe ich heute Morgen gesprochen, als ich Viva ein Paar Äpfel gebracht habe. Sie würde mir Donatello ausleihen, du weißt schon dieses Tschechische Warmblut mit der interessanten Schenkung, der immer aussieht als würde er Eyeliner tragen."

Dahin war die Illusion. So schnell sie aufgekeimt war, war sie nun erstickt und wieder begraben worden.

Stumm nickte ich und schloss meine Zimmertür hinter mir. Quälend langsam machte ich einen Schritt zur Treppe. Noch könnte ich mich wieder in mein Zimmer verkriechen und zumindest für noch ein paar Stunden in der warmen Illusion versuchen zu leben, dass alles nicht passiert war.

„Frühstück steht unten. Ich habe deinen Vater bearbeitet bekommen, dass er zum Bäcker joggt und Croissants mitbringt." Mama lugte aus dem Bad und grinste so mädchenhaft wie selten. Die halblangen blonden Haare hatte sie mit einer großen rosafarbenen Klammer am Hinterkopf festgesteckt und trug keinerlei Make-Up, sie hatte sich also wirklich frei genommen.

Papa lief seit der Geschichte jeden Morgen mehre Kilometer. Das hatte ihm ein Trauerberater empfohlen. Er sagte es machte ihm das Leben mit dem Verlust leichter und würde ihm helfen sich besser auf seinen Job konzentrieren. „Das pustet den Kopf durch wie eine Windböe am Strand, bei Seegang." Vielleicht sollte ich ihn mal begleiten.

Auf dem Küchentisch stand tatsächlich ein Korb mit Brötchen und einem einsamen Croissant, dass ich mir einfach schnappte und die Gartentür öffnet. Mit zielstrebigen Schritten hastete ich durch das noch feuchte Gras, das meine Socken durchfeuchtete und setzte mich schließlich mit meinem Frühstück in der Hand auf den obersten Holzbalken der Weide, genau dort wo Mama vor Jahren mal die Hecke weggeschnitten hatte, um immer mal auf die Pferde gucken zu können, wenn sie aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers im Erdgeschoss guckte.

Viva kam sofort brummelnd angetrabt und bremste schwungvoll vor mir ab. Ihr warmer Atem kitzelte an meiner Hand, als ich ihre Nase zurückschob, als sie das Croissant in meiner Hand probieren wollte. Enttäuscht wackelte sie mit der Oberlippe und brachte mich damit zum Lachen.

„Das ist nichts für Pferde!" Ich riss mir ein Stück von dem Gebäck ab und schob es mir in den Mund. Libby und Haddy kamen auch langsam in unsere Richtung.

Ich kraulte Viva hinter den Ohren, während ich kaute. Eigentlich hätte ich jetzt Mathe. Vielleicht gar nicht so blöd zu fehlen. Bea würde mich wahrscheinlich vermissen. Sie hatte nun niemanden, dem sie alles noch mal erklären konnte.

Viva streckte schon wieder den Kopf und wollte in mein Croissant beißen. Schnell zog ich die Hand weg und musste kichern, als sie mich vorwurfsvoll ansah. Ihr rotbraunes Fell glänzte im Sonnenlicht wie mit Gold überzogen und die Blesse strahlte so weiß wieselten. Sie standen wohl noch nicht lange draußen, sonst sähe sie schon mehr nach Schwein als nach Pferd aus.

Ich biss schließlich in mein Croissant und ließ den Blick schweifen. Hier könnte ich auch bleiben. Bei den Pferden, in den letzten Zügen des Morgens und mit einem der besten Croissants in ganz Kleinblommen versorgt.

Papa war bestimmt bei Elli gewesen. Dort war er auch häufiger, seit man Lina gefunden hatte. Das zweite Mal war ich mit und sie hatten sich bestimmt drei Stunden über Lina und die Suche damals unterhalten. Seitdem hatte er ab und an mal etwas mitgebracht, wenn er dort gewesen war. Inzwischen war ich überzeugt, dass Elli nicht nur die beste Sanddorntorte in ganz Kleinblommen backte, sondern auch die besten Croissants jeden Morgen aus dem Ofen ihrer kleinen Backstube zog.

Mama war bisher nie da gewesen. Sie schien alles zu ignorieren, als wäre nie etwas geschehen und als hätte sie alle nie gekannt.

Vom Stall her winkte jemand und ich musste kurz blinzeln, um zu sehen, dass es Hannah war, die direkt vor dem Stalltor stand und eine Schubkarre vor sich abgestellt hatte.

Grinsen hob auch ich die Hände und winkte ihr. Dabei wurde Viva wieder zur Giraffe und versuchte an das Croissant zu kommen.

Diese Idylle hier draußen war etwas Schützenswertes. Wo hatte man sowas noch direkt vor der Haustür?

Haddy traute sich jetzt auch zu uns und versuchte auch ihr Glück an etwas von dem Croissant zu kommen. Lachend schob ich auch sie weg. Viva und sie standen so blöd gucken nebeneinander, dass man, wenn man sie jetzt fotografieren würde dem Bild den Titel Dumm und Dümmer geben könnte.

„Ach, lasst ihr mein Mädchen nicht frühstücken?" Mama ließ sich neben mich auf dem rauen Balken nieder. Sie hatte schon ihre liebste dunkelgrüne Reithose an und ein paar getrocknete Hagebutten in der Hand. Viva machte sofort eine ihrer Faxen, bei denen sie die Oberlippe hochzog, dass es aussah, als würde sie lachen. Mama musste sofort den Kopf schütteln und lachen. „Na, wer hat dir den Mist nur beigebracht?" Sie knuffte mich dabei in die Seite. Viva setzte derweil ihren besten und niedlichsten Blick auf. Mit dem Kopf nickte sie und machte dabei immer wieder das Maul auf und zu, als wolle sie „Bitte, Bitte, Bitte", sagen.

Ich schob mir noch den Rest meines Croissants in den Mund und nahm Mama eine Hagebutte aus der Hand. Viva streckte sich sofort in meine Richtung und ihr warmer Atem strich über meine Hand, als sie die Hagebutte erschnüffelte. Auf der flachen Hand hielt ihr den kleinen Snack hin, den sie sofort verspeiste. Mama verteilte derweil je eine an Haddy und Libby.

„Die drei von der Tankstelle", kicherte sie als alle drei bettelnd nebeneinander am Zaun standen. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Das muss ich Lena schicken. Die wird sich bestimmt freuen ihre Königin so bodenständig zu sehen."

Lady Liberty war wirklich vom besten Dressurblut, das man derzeit auf dem Markt bekommen konnte und eine Königin, sobald sie das Viereck betrat. Sie passte zu Lena. Beide waren unheimlich elegant und wirkten viel zu oft wie nicht von dieser Welt.

Dagegen sahen die Papiere von Haddy und Viva aus wie die der letzten Ackergäule, aber auf Papieren konnte man ja schließlich nicht reiten.

Viva pustete mir forschend den warmen Atem ins Gesicht und wandte sich dann reichlich enttäuscht Mama zu, die ihr noch eine Hagebutte zusteckte, ehe sie einen Arm um mich schlag und die Augen schloss.

„So lässt es sich doch leben, oder? Gutes Wetter, noch besseres Frühstück und die Pferde beinahe direkt im Garten."

„Mhm," machte ich und dachte zum ersten Mal an diesem Morgen mit nicht einer Zelle meines Körpers an die Geschehnisse des letzten Sommers. Da waren nur die Idylle und keine Therapeuten mit schlauen Sprüchen, oder Albträume. Nur Vogelzwitschern, die drei von der Tankstelle und Mama und ich. 

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