Kapitel 18
Die Nacht hatte sich schon wieder über unsere Kleinstadt gelegt. Wie jeden Abend sah ich noch einmal durch mein Fenster auf den Stall. Eine einzelne Laterne brannte wie jede Nacht vor dem Haupthaus, ansonsten hatte sich auch dort schon die Dunkelheit breit gemacht.
Tief atmete ich durch und zog meine Bettdecke höher. Der Wind säuselte wie so oft um unser Haus. Manchmal kam es mir vor, als wären es die Seelen all jener die vor Jahrzehnten auf der See geblieben waren und in jedem Windstoß versuchten ihre Geschichte zu erzählen. Früher hatte ich diese Geschichten geliebt. Sie waren ein fester Teil meiner Herkunft, genauso wie der Strand und die wildschäumende Nordsee, die hinter dem großen Deich gebannt war.
All diese Geräusche hatten mich vor wenigen Wochen noch in den Schlaf gewiegt. Nacht für Nacht. Mein ganzes Leben lang. Jetzt machten sie mir allerdings Angst. Alles hörte sich verzerrter an. Konnte etwas anderes sein als das Heulen des Windes. Die Zweige, die ab und an gegen mein Fenster schlugen wurden zu Fingern, die verlangend über die Scheibe kratzten, um mich zu töten. Das leise Wispern wurde zu den Stimmen der Hubers, die überlegten, wie sie in unser Haus kommen konnten. Dieses Mal nicht nur um mich zu töten.
Sofort schlug mein Herz schneller und ich musste gar nicht auf meine Hände sehen, um das Zittern zu bemerken. Enger schlang ich meine weiche und warme Decke um mich. Die kleine Nachttischlampe mit dem goldenen Ständer und dem weißen Schirm ließ ich an. Ich musste sehen, wo ich war. Die Augen würde ich jedenfalls nicht schließen können, wenn hier Dunkelheit herrschte und ich allein mit dieser gespenstischen Geräuschkulisse war.
Gespenstisch. So kam mir auch diese Nacht vor. Zu dunkel. In meiner Erinnerung hatte sich jegliches Licht in dunkle Schatten verwandelt. In meinem Brustkorb zog sich alles zusammen. Es war, als wollten meine Rippen jegliche Luft aus meinen Lungen drücken wollen, sogar mein Herz fühlte sich eingeengt an. Mein Körper fühlte sich an wie ein Käfig und ich war Rilkes Panter, der nichts außer seine endlose Gefangenschaft sah.
Ich traute mich nicht mich zu bewegen. Mein Zimmer verschwamm mehr und mehr vor meinen Augen. Eine beharrliche Stimme in meinem Kopf rief immer und immer wieder „Es ist nicht echt. Es ist nicht echt.", aber sie war so leise, dass ich ich sie kaum hören konnte. Das Blut rauschte viel zu laut in meinen Ohren.
Ganz am Rand konnte ich ein leises Quietschen hören. Mein Atem stockte. Ich krampfte mich zusammen. Sie waren hier. Sie würden mich töten.
Eine Gestalt schob sich in mein Blickfeld. Viel zu verschwommen, um klar zu sehen, wer sie war, aber in meiner verqueren Wahrnehmung wurde sie zu Britta Huber, die ganz langsam die Hand ausstreckte und mir über das Haar strich. Ich riss die Augen auf, wollte mich wegdrehen, aber mein Körper reagierte nicht.
„Schhht. Alles gut", flüsterte da die Stimme meiner Mutter.
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt wurde meine Sicht wieder klarer und die Enge in meinem Brustkorb verzog sich. Jemand hatte die Käfigtür geöffnet und mich aus dem Gefängnis geführt.
„Schlecht geträumt?", fragte sie liebevoll und strich mir beruhigend über die Wange.
Ich suchte sofort ihren Blick und fühlte mich elend. Ihre blauen Augen strahlten matt und sie sah aus, als hätte ich sie aus dem Schlaf gerissen.
Das wollte ich nicht. Ich wollte vor allem nicht das sie sich Sorgen machte. Mir ging es gut. Meistens. Dann wenn das Trauma schlief.
Ich schüttelte den Kopf.
Sofort wurde ihr Blick noch weicher und sie schlug die Bettdecke zurück. „Was hast du heute gemacht? So schlimm war es doch schon seit Wochen nicht mehr." Sie schwang eines ihrer langen Beine über die Bettkante.
War das eine Anklage? Ein Vorwurf? Ich hatte das doch nicht gewollt? Ich hatte die Hubers doch nicht darum gebeten mir Gewalt anzutun!
Mama schwang auch das andere Bein über die Kante und ließ die Decke wieder sinken. Der kurze kalte Lufthauch ließ mich zusammenfahren. Mein Kokon hatte einen Riss bekommen.
„Ich war in der Schule." Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Sie war bei Viva gewesen. Ich hatte die Pferde heute nur vom Fenster ausgesehen, als ich mal von meinen Hausaufgaben aufblickte.
Mama seufzte und zog mich mit dem linken Arm fest an sich, mit dem rechten zog sie an der Kordel meiner Nachttischlampe und löschte das Licht. „Vielleicht bleibst du morgen lieber hier und ich gucke mal, ob wir deinen Termin bei Frau Doktor Heller vorziehen können."
Was sollte ich hier tun? Darauf warten, dass mir die Decke auf den Kopf fiel, bis Liz endlich aus der Schule kam und wir zusammen Zeit bei den Pferden verbringen konnten. Auch dort wollte ich inzwischen nicht mehr allein sein.
Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
Mama strich mir über den Rücken. „Marie, so kannst du dich nicht konzentrieren und ich glaube ein Gespräch mit Doktor Heller ist wichtiger als jede Deutsch- oder Mathestunde, die du verpasst. Ich weiß, dass der Alltag gerade sehr wichtig ist, aber manchmal müssen wir auch kleine Rückschritte machen. Wenn du willst, kann ich mir morgen freinehmen und wir malen wir früher zusammen."
Wie früher... Da war ich ein kleines Mädchen, das Mamas Zeichnungen ausgemalt hatte und ihr stolz jedes bunte Einhorn und jeden mit Glitzerkleber verschmierten Pegasus gezeigt hatte. Das war ich nicht mehr. Schon lange nicht mehr.
Zitternd atmete ich aus und schüttelte bestimmt den Kopf.
„Aber irgendetwas müssen wir doch machen, dass du in keine Gedankenspirale kommst." Sie klang nachdenklich.
„Ich will einfach nur reiten." Viva. Viva war der sanfte Balsam für meine Seele.
„Das bekommen wir auch hin. Ich werde Hannah fragen, ob sie ein Pferd für mich hat und dann gehen wir mal wieder zusammen ausreiten."
Wahrscheinlich würde Hannah ihr den dicken Willy geben, der sonst zu wenig bewegt wurde und wieder eine halbe Ewigkeit braucht, bis er auf Vivas Höhe war. Wenn Viva einen Schritt machte, machte Willi mindestens drei.
„Ich bleibe jetzt hier, bis du eingeschlafen bist. Es ist alles gut. Dir kann hier niemand etwas tun." Sie zog mich noch fester an sich und ich konnte ihren Herzschlag deutlich wahrnehmen. Wahrscheinlich war es der Instinkt, der mich zur Ruhe kommen ließ. Es gab wohl kaum etwas, was so beruhigte wie der Herzschlag der eigenen Mutter.
Ganz allmählich glitt ich hinab in den Schlaf, der sich wie ein warmes und weiches Tuch über mir ausbreitete. Er hüllte mich ein und verschlang mich in einem Happs.
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