II. Die Söhne des Grafen Lusignan
𝕰in sanfter Schein gedämpfter Lampen enthüllte endlose Reihen von Akten, die in geheimnisvollen Schatten verborgen lagen. Zwischen staubigen Regalen saß eine Gestalt an einem schweren Holztisch und blätterte durch die verwitterten Seiten eines alten Manuskripts. Der zarte Schein des Mondlichts fiel durch die schweren Vorhänge und enthüllte einen leichten Schleier aus Staub, der in der Luft schwebte. Das Manuskript erzählte die Geschichte der letzten Erben des Hauses Lusignan:
›Im Jahre des Herrn 1308 pflegte der Graf Lusignan einst die Vaterschaft zweier Söhne namens Henri und Édouard. Während der erstgenannte aus rechtmäßiger Ehe hervorging, entsprang der zweite den heimlichen Umarmungen der Mätresse des Edelmannes. Es war überliefert, dass Henri von einer ernsten und schweigsamen Disposition war, wobei er seinen jüngeren Bruder Édouard über alle Maßen liebte. In Letzteren fand sich all das wieder, was seinem Bruder mangelte; Édouard verzauberte alle, die ihm begegneten, mit seinem fröhlichen und lebhaften Gemüt.
Die Brüder waren durch eine Liebe verbunden, von der man behauptete, sie habe sich noch nie zuvor in solch herzergreifender Weise offenbart. Jedoch kam diese Liebe zu einem abrupten Ende, als Édouard im zarten Alter von zehn Jahren am Geburtstag des Herren des genannten Jahres einem gewaltsamen Ende erlag. Berichten zufolge wurde der Tod des jungen Grafensohnes auf Anweisung seines Onkels vollzogen, welcher dessen Vater erpresste und ihm mit der Ermordung seines Erstgeborenen drohte. Der Graf, der aufgrund der ehelichen Herkunft seinen Erstgeborenen über den Bastard bevorzugte, unterband das Schicksal seines jüngeren Sohnes nicht. Infolge dieser List entschlossen sich die entzweiten Brüder, ihre Nachkommen miteinander zu verbinden und das Schwert nicht länger gegeneinander zu erheben. Doch der Sohn des Grafen vermochte den Untergang seines Bruders nicht zu ertragen und entschloss, in einen Brunnen zu springen, der unweit des Schlosses nahe am Wald gelegen war.
Vor seinem Dahingang verfasste Henri eine Ballade, die nach seinem tragischen Ableben aufgefunden wurde. Sein Lebensende trat kurz nach dem Versterben seines Vaters ein, wodurch seine Blutlinie mit ihm erlosch. Seither verlautet zu jeder Weihnachtszeit, dass der Gesang des jungen Grafensohnes aus dem tiefen Brunnen ertönt und ein Kind aus dem umliegenden Dorf in die Dunkelheit entrückt – als sei er immerzu auf der Suche nach seinem jüngeren Bruder. Das Blut der Lusignans erlosch und mit ihr versank die Sage der Grafensöhne in der Dunkelheit der Vergessenheit.‹
»Das war also der Grund, warum seit über 500 Jahren Kinder aus diesem Dorf verschwanden«, flüsterte die Gestalt, nachdem sie das Manuskript niedergelegt hatte, »weil der Tod seines Bruders ihn den Glauben an bedingungsloser Liebe verlieren ließ. Und das ist wohl der Grund, warum jene, die sie noch in irgendeiner Form in sich trugen, seinen Gesang hören konnten. Aber warum und wohin verschwanden sie?«
»Weil sie unfähig waren, Henri dabei zu helfen, diese Liebe wiederzufinden«, erklang die Stimme des alten Bürgermeisters, der sich Madame Demoulin näherte. »Wissen Sie, ich bin Édouard als Kind sehr oft begegnet. Doch anders als Noël konnten weder ich noch die anderen den Ursprung der Melodie entschlüsseln. Wir hörten sie zwar, doch war unsere kindliche Liebe nicht stark genug, um Henri zu finden. Und wissen Sie, warum Noël als einziger diese Fähigkeit besaß? Weil er ein Nachkomme jener Mätresse ist, die Édouards Mutter war.«
»Sie wussten also all die Jahre über die Ursprünge dieses Fluches Bescheid und haben dennoch entschieden zu schweigen?« In Madame Demoulins Augen loderte die Glut ihres Zorns, die auch Enttäuschung in sich trugen. Sie konnte nicht verstehen, wie all die Jahre, wenn doch die Antwort auf jene Frage sich in einem der alten Manuskripte im Archiv des Dorfes befand, nichts gegen diesen Fluch unternommen werden konnte.
»Sie haben recht, Madame. Die Schuld liegt einzig und allein bei mir. Doch nur ein Blutsverwandter Édouards, ein Nachkomme der Familie Baudin, vermochte den Fluch zu brechen. Die anderen Kinder verloren nach und nach ihr Gedächtnis, als sie sich entschieden, Édouard zu seinem Schloss zu begleiten. Ach, der arme Junge wusste selbst nicht, wie ihm geschah. Konnten sie aus ihrer Trance erwachen, so war ihr Leben gerettet. Doch viele verloren sich in all der Zeit, die verging, und schließlich auch ihr Leben. Ich konnte dieser Amnesie zum Glück aus irgendeinem Grund entkommen«, entgegnete Monsieur Lemaire.
»Und woher wussten Sie, dass nur ein Nachkomme der Baudins diesen Fluch brechen könnte?«
Das Herz des alten Bürgermeisters zog sich schmerzhaft zusammen und in seinem inneren Augen erblickte er jenes Gesicht, das ihn vor vielen Jahren mit Liebe erfüllt hatte. Das warme Glühen jener Liebe schien aus den verblichenen Erinnerungen herauszuströmen und die Gefühle vergangener Jahre wieder aufleben zu lassen.
»Weil ich eine von ihnen innig geliebt hatte. Élise Baudin und ich gingen vor vielen Jahren eine Affäre ein, aus der Noël hervorging. Aus persönlichen Beweggründen konnte ich seine Vaterschaft nicht anerkennen, doch ich hätte nie damit gerechnet, dass auch Élise das Kind verstoßen würde. Ich erfuhr erst später, nachdem sie verschwand, durch das Studieren dieser Manuskripte von ihrer Familiengeschichte; dass ihre Vorfahrin vor 530 Jahren die Mätresse des Grafen Lusignan war.«
»All die Jahre wussten Sie, dass Noël Ihr Kind ist und dennoch haben Sie sich aus seinem Leben zurückgehalten?« Madame Demoulin spürte, wie ihr verletztes inneres Kind in den versteckten Ecken ihrer Seele zu weinen begann. Die Fassade, die sie so sorgfältig aufgebaut hatte, begann zu bröckeln und Stück für Stück auseinanderzufallen. Sie konnte sich noch so oft einreden, dass sie mit ihrer Vergangenheit und dem Schicksal abgeschlossen hätte, doch letzten Endes war auch sie ein Mensch gewesen, der die Bürde eines schweren Herzens zu tragen hatte.
»Viele von uns verlieren das göttliche Licht, nachdem wir in das irdische Leben eingeführt werden. Nur wenige können es behalten. Ich wusste, dass Waisenkinder solch ein Licht in sich tragen. Doch erkannte ich erst letztes Jahr, als ich Noël zu seinen Sternen sprechen sah, dass nur er die beiden Brüder zum Licht zurückzuführen kann. Und nun wird es unser sein, dieses Licht in uns wiederzufinden und zu bewahren, auf dass sich solch eine Tragödie nie wieder ereignen soll.«
Und als der alte Bürgermeister diese Worte gesprochen hatte, verschwanden seine Konturen in den schattigen Umarmungen der Nacht. Während die Geräusche der Stadt verblassten und die Laternen zitternde Schatten auf die Straßen warfen, schritt er weiter in die Nacht, deren dunkler Mantel sich um das alte Archiv legte. Derweil die Welt eingeschlafen war, war die Vergangenheit zum neuen Leben erwacht. Madame Demoulin blieb allein zurück, bewacht von den Schatten der Vergangenheit und den flüsternden Seiten, die sie in ihren Händen hielt.
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