Kapitel 62


Die Türklinke noch festhaltend, starrte ich fassungslos auf das Bett. Die Puzzleteile fügten sich zusammen, ergaben ein erschreckendes Ganzes. Deswegen hatte Carmen mich angefleht, hierher zu fahren. Ich schluckte, betrat das Zimmer.

„Bist du Dakota?" Das etwa neunjährige Mädchen schaute mich aus großen dunklen Augen fragend an. Fast ängstlich huschte ihr Blick zu Raffaele, der mir wie ein Schatten folgte.

„Ja, die bin ich." Ich setzte mich auf den Bettrand, musterte das Kind unauffällig. Dunkle Augenringe, eingefallene Wangen, ein verblassendes Hämatom am linken Wangenknochen. Ebenso an den zerbrechlich wirkenden Handgelenken. Die Kleine zog ein Bein an den Körper heran. Das andere lag verdächtig still. Jemand hatte das Mädchen misshandelt. Nur wer? Carmen? Schnell verscheuchte ich den Gedanken. „Meinen Namen kennst du bereits, doch wie heißt du?"

„Sofia." Abermals linste sie zu Raffa, kauerte sich noch mehr zusammen. „Bitte sage ihm, dass er weggehen soll."

„Das ist mein Ehemann – Raffaele. Er tut dir nichts", versicherte ich ihr.

„Das hat Opa auch gesagt. Doch dann hat er mich angefasst, wo er es nicht darf." Tränen rannen über das zarte Gesicht. Der Klumpen in meinem Magen wuchs an. Raffa atmete scharf ein. Seine Gedanken wanderten womöglich in dieselben Tiefen wie meine.

„Er kann dir nichts mehr tun." Ich rückte näher an sie heran. „Er ist tot."

„Ich weiß", flüsterte sie. „Er hat mich geschlagen, weil ich ihn angeschrien habe. Weil ich wollte, dass er mich in Ruhe lässt. Er war stärker." Sie senkte den Blick, starrte auf ihr ausgestrecktes Bein. „Aber dann kam Mama." Sie schaute hoch, ihre Augen strahlten kurz. „Sie hat mich gerettet. Wo ist sie?"

„Sie..." Ich brach ab. Wie erklärte ich einem Kind, dass die Mutter gestorben war?

„Deine Mama ist tot, Bambina." Raffa setzte sich neben mich. „Sie hat gegen einen bösen Mann gekämpft, der vielen Mädchen wehgetan hat." Ich hielt den Atem an. War es so leicht? Ich beobachtete, wie mein Ehemann langsam den Arm ausstreckte. „Deine Mama hat meine Ehefrau gebeten, für dich zu sorgen." Wie in Zeitlupe beugte er sich vor, strich dem Kind die Tränen aus dem Gesicht. Sofia regte sich nicht, musterte nur den Italiener, der ihr vom Tod der Mutter berichtete.

„Mama ist tot?" Das Mädchen senkte den Kopf. „Was wird dann aus mir?" Die Kleine tat mir unendlich leid. Mein Brustkorb verkrampfte. Ich rutschte heran, schlang die Arme um ihren zitternden Körper. Das Kind schluchzte, klammerte sich an mich. Raffaele berührte sanft meine Schulter, sah mich auffordernd an. Ich schluckte den Kloß hinunter.

„Du kommst mit zu uns", sprach ich mit tröstender Stimme auf sie ein, um sie oder mich selbst zu beruhigen. Was für eine surreale Situation. Statt den Tod unserer Feinde zu feiern, kümmerten wir uns um die Tochter einer Gegnerin. Das Kind konnte nichts dafür, in eine kriminelle Familie wie Carmens hineingeboren zu sein. Mit einem Großvater, der seine Griffel nicht bei sich behalten konnte. Widerliches Schwein.

„Ich darf bei dir leben?" Sie warf Raffa einen misstrauischen Blick zu. „Mama hat immer gesagt, dass die Italiener nicht unsere Freunde sind. Warum sollten die mir helfen?"

„Weil sie viel lieber sind, als es den Anschein hat. Selbst der Dickkopf hier." Ich zeigte auf meinen Ehemann, der die Stirn runzelte. „Sie haben mich in ihre Familie aufgenommen, als meine Mama und mein Stiefvater mich nicht mehr wollten. Genauso werden sie dich aufnehmen und auf dich aufpassen." Mir kam eine Idee. Da meine Zieheltern sehnsüchtig auf ein Enkelkind warteten, hatten sie mit Sicherheit nichts dagegen einzuwenden, für Sofia die Sorge zu übernehmen. „Komm, ich möchte dich meinen italienischen Eltern vorzustellen." Ich stand auf, hielt ihr die Hand hin.

„Das geht nicht." Sie starrte auf ihr ausgestrecktes Bein. „Ich kann nicht laufen. Opa hat mir wehgetan."

„Dann werde ich dich tragen." Raffaele hob sie behutsam hoch, lief mit ihr zur Tür.

„Warte", rief sie aufgeregt. „Mama hat für euch einen Umschlag in die Schublade gepackt." Sie zeigte über Raffas Schulter auf den Kleiderschrank. Ich zog die Sockenschublade auf, packte den großen Briefumschlag. Er war dicker und schwerer, als ich erwartet hatte. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Steckte darin eine Briefbombe? Würde sie ihr eigenes Kind damit in Gefahr bringen? Für Rache an den Santori? Ich verwarf den Gedanken. Carmen war ein Biest, doch sie hatte ihre Tochter geliebt, selbst für sie getötet. Ich folgte meinem Mann nach draußen, der Sofia vorsichtig in den Wagen setzte.

Eine Stunde später trug er sie in die Eingangshalle der Villa. Sein Vater schaute verwirrt von ihm zu dem Mädchen, das sich eng ankuschelte und das Gesicht an Raffas Schulter versteckte.

„Bambina!" Meine Schwiegermutter stürzte herbei, das Kind nicht aus den Augen lassend. „Was ist mit ihr?"

„Carmens Tochter", teilte ich der Italienerin mit. „Der Tod ihrer Mutter war ein Schock für sie. Außerdem ist sie verletzt. Kannst du bitte mit Annetta bei ihr bleiben, wenn der Doc sie untersucht?"

„Aber natürlich. Michaele, ruf Caralinas Mutter. Raffaele, bring das arme Kind bitte auf die Krankenstation."

„Sì madre." Er lief weiter. Ich nutzte den Augenblick und drückte meinem Schwiegervater den Briefumschlag in die Hand. Der Don drehte sich um, stürmte in sein Büro. Ich blieb ihm auf den Fersen, den Blick auf den Umschlag geheftet, den er ungeduldig aufriss. Keine Explosion, kein weißes Puder, das auf den Boden rieselte. Ich atmete erleichtert auf. Womöglich hatte Carmen dieses eine Mal nichts Böses im Sinn gehabt.

„Na sieh mal einer an." Er breitete Fotos, Lagepläne und Notizzettel vor sich auf dem Schreibtisch aus. Ein weiterer Briefumschlag, auf dem mein Name stand. Fragend sah ich meinen Schwiegervater an. „Hier, für dich."

„Danke." Ich ergriff den Brief und ließ mich auf einen der Stühle fallen. Ungeduldig zerrte ich das Papier hervor. Schon nach den ersten Sätzen schnappte ich hörbar nach Luft.

Hallo Dakota. Ich denke, mit Höflichkeitsfloskeln brauche ich mich nicht aufzuhalten, nach dem, was ich dir angetan habe. Da du diesen Brief in den Händen hältst, werde ich tot sein und dich gebeten haben, auf Sofia aufzupassen. Wie ich wurde sie in eine Familie hineingeboren, die nur Schaden anrichtet. Natürlich habe ich die Aufgaben, die man mir stellte, immer ausgeführt. Mal abgesehen von den zwei Versuchen, Mädchen bei den Santori einzuschleusen, um die Mafia auf die Spur meiner Familie zu lenken. Selbst musste ich dabei aus ihren Händen bleiben, Sofia zuliebe.

Vielleicht wunderst du dich, dass ich ein Kind habe. Geplant war es nicht, und ich habe den Kindsvater immer gehasst. Es war nicht freiwillig, musst du wissen. Ich war noch ein Teenager, da hat mein Vater mich für einen Monat Harold überlassen. Um meinen Willen zu brechen, mich zum Gehorsam zu zwingen. Du kannst dir vermutlich vorstellen, wie der Mistkerl vorgegangen ist. Als er mich zurück nach Hause schickte, ahnte ich noch nichts von der Schwangerschaft. Stattdessen trainierte ich härter als zuvor, gehorchte jeglichem Befehl, um auf den Augenblick der Rache zu warten. Bis ich kapierte, was die Ursache für das Ausbleiben meiner Regel war. Mein Vater hatte mich damit in der Hand. Egal wie sehr ich Harold hasste, mein Mädchen war die wichtigste Person in meinem Leben. Daher führte ich fortan jeden Befehl ohne zu murren aus. Damit Sofia in Sicherheit war.

Doch in den vergangenen Monaten bemerkte ich, wie ihr Großvater sie anstarrte. Ich verstand, dass es nur eine Frage der Zeit war, dass er sich an ihr vergriff. Minutiös plante ich den Untergang seines Imperiums und das von Harolds Pädophilenring. Dass deine Familie Jagd auf sie machte, spielte mir in die Karten. Ich streute mal hier mal dort Informationen, ohne meine Identität preiszugeben.

Ich hoffe, ich habe die Schweine ausgeschaltet. Wenn nicht, ist das eure Aufgabe. Passe mir gut auf mein Mädchen auf. Erzähle ihr bitte nicht von meiner dunklen Seite. Lass sie in dem Glauben, dass ich immer nur alles getan habe, um sie zu schützen. Wäre sie nicht gewesen, ich hätte meinen Vater und Harold vor langer Zeit getötet. Es hätte mich das Leben gekostet. Ohne meine Tochter wäre mir das egal gewesen. Nur ihr zuliebe habe ich gewartet. Gehofft auf einen gemeinsamen Ausweg, auf gemeinsames Glück. Doch das war uns nicht vergönnt.

Zeige ihr, was Liebe und Vertrauen wirklich bedeutet. Bringe ihr bei, sich zu wehren. Doch trage bitte ebenfalls Sorge dafür, dass sie nicht in Mafiaangelegenheiten verstrickt wird. Ich wünsche mir für sie ein sorgenfreies Leben, jenseits vom Morden und Blutvergießen. Es ist mir bewusst, dass ich viel von dir verlange. Vor allem, nach dem, was zwischen uns passiert ist. Doch du bist die einzige Person, der ich es zutraue, für Sofia zu sorgen. Gerade weil du selbst Furchtbares erlebt hast. Du wirst sie schützen, davon bin ich überzeugt.

Das wäre es dann von meiner Seite. Ich bitte nicht um Vergebung. Ich verdiene sie nicht. Vielleicht sehen wir uns, bevor ich sterbe. Bevor du diesen Brief erhalten hast. Es würde mich interessieren, wie es dir ergangen ist. Wie du durch das Erlebte als Person gewachsen bist. Du wirst eines Tages eine liebevolle Mutter sein, eine bessere als ich je hätte werden können.

Ich wünsche dir und deinem italienischen Ehemann ein entspannteres Leben ohne die Bedrohung durch meine Familie. Mögt ihr lang und glücklich beieinander sein.

Nur eines noch. Sofia hat sich immer ein Haustier gewünscht. Bitte erfülle ihr diesen Wunsch. Ich werde mir jetzt meinen Herzenswunsch erfüllen und die Männer umbringen, die meiner Tochter und mir das Leben zur Hölle gemacht haben. Als letztes Zeichen meiner Liebe für sie.

Tränen liefen in Sturzbächen über meine Wangen. Ich glaubte jedes Wort, las die Liebe der Spanierin für ihr Kind heraus. Stumm reichte ich den Brief weiter an Raffaele, der neben mir Platz genommen hatte, und rannte aus dem Büro. Der Weg führte mich zur Krankenstation. Ich platzte in den Raum hinein, in dem meine Ziehmutter und meine Schwiegermutter über Sofia wachten und zusahen, wie unser Arzt sie untersuchte.

„Einige Hämatome und der Bruch. Er hat sie nicht weiter angerührt", vernahm ich seine Worte. Ich atmete auf, setzte mich neben das Mädchen auf das Bett. Sie kuschelte sich wortlos an. Auf mein Nicken hin verließ der Mann das Zimmer. Auch beide Frauen wandten sich zum Gehen, doch ich rief meine Mutter zurück. Alerio, der mir vermutlich gefolgt war, trat ebenfalls ein. Sein Blick wanderte von mir zu dem Kind.

„Sofia", begann ich langsam und wägte ab, wie ich es ihr am besten sagte. „Ich habe dir von meinen Zieheltern erzählt und wie herzlich sie mich aufgenommen haben. Ich bin zu jung, um dir eine Mutter zu sein. Daher kann ich dir nur eine große Schwester sein. Annetta, Alerio." Flehend schaute ich die zwei an. „Wärt ihr bereit, eine weitere Tochter großzuziehen? Ihr die Werte unserer Familie beizubringen?"

„Ma naturalmente!" Mamma schloss uns beide in die Arme. Papà stand am Bett, wachte über uns wie der Vater, den ich mir immer gewünscht hatte. Stolz schwang in seinem Blick mit. Stolz darüber, wie ich mein Leben trotz aller negativen Erlebnisse meisterte.

„Natürlich nehmen wir Sofia in unsere Familie auf", versicherte er ebenfalls. „Und eines Tages wird sie sich als Tante um deine Kinder kümmern, nicht wahr mia figlia?" Ich errötete. Raffa und ich hatten beschlossen, vorläufig zu verhüten, doch da unser Arzt mir die Pille ausgeredet hatte, weil sie zu sehr den Hormonhaushalt durcheinanderbrachte, benutzte mein Mann notgedrungen Kondome. Letztens war uns eins geplatzt. Ein anderes Mal hatten wir es im Eifer des Gefechts vergessen. Bisher war ich nicht schwanger geworden, doch wenn wir nicht besser aufpassten, machten wir unsere Eltern schneller zu Großeltern, als uns lieb war.

„Hast du gehört, Sofia? Du bist jetzt meine kleine Schwester", lenkte ich ab. „Wenn dein gebrochenes Bein verheilt ist, werde ich dir beibringen, wie man sich gegenüber dickköpfigen Italienern durchsetzt. Das wirst du in diesem Haushalt brauchen." Denn wenn ich eins gelernt hatte, dann wie man mit diesen Verrückten umging, damit sie einen respektierten. Etwas, das ich vor zwei Jahren noch nicht für möglich gehalten hatte.

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ENDE

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So, damit hätten wir das Ende erreicht. Im November stürze ich mich auf eine völlig andere Geschichte.

Wer bei Die verschmähte Mate mitliest. Kapitel bis Anfang Dezember sind vorgeschrieben. Es bleibt dort bei den wöchentlichen Uploads.

Gut, das wäre gesagt. Kommen wir mal zurück zu diesem Kapitel und der Geschichte an sich:

Was haltet Ihr denn von Carmens Brief und ihrer Bitte?

Welche Dinge haben Euch an der Geschichte gefallen? Welche weniger?

Gab es Überraschungen / Wendungen, die Ihr nicht erwartet hattet?

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