Kapitel 54


Zeit war relativ, wenn man in einem Kellerloch hockte. Wie viele Tage hielten sie mich schon gefangen? Drei? Vier? Was waren Minuten? Was Stunden? Die Monotonie von Schlafen und Wachen wurde nur unterbrochen, wenn jemand mir ein wenig zu essen und zu trinken brachte. Carmen hatte nicht übertrieben, als sie sagte, ich sollte in Ruhe über ihr Angebot nachdenken.

Du schuldest den Italienern nichts.

Die Spanierin täuschte sich. Ich schuldete ihnen alles. Ohne die Familie hätte ich nicht erkannt, was für ein Spiel meine Mutter mit mir spielte. Wie sie und ihr zweiter Mann mich für ihre Zwecke einsetzten. Die Gehässigkeiten von Britt. Saß sie ebenfalls in einem Keller fest oder hatten die Santori sie anderweitig untergebracht? Wer kümmerte sich um sie? Etwa Raffaele? Nadelspitzen bohrten sich tief in mein Herz bei dem Gedanken daran, wie sie sich ihm an den Hals warf. Sie würde ihn willig heiraten, für ein wenig Luxus sämtliche Skrupel über Bord werfen. Ein blonder Engel, dem ich nichts entgegenzustellen hatte. Sie war wunderschön, der Traum eines jeden Jungen. Legte sie es darauf an, schmolz Raffa in ihren Händen wie Wachs.

Cazzo! Ich biss die Zähne aufeinander, fluchte innerlich. Wieso verfiel ich in alte Muster, bildete mir ein, dass ich ihr unterlegen war? Furcht vor dem, was in meiner Abwesenheit auf dem Mafiaanwesen geschah? Eine Art Kontrollverlust? War das ein Grund, weshalb ich die Flucht ergriffen hatte? Die Aussicht, vom Don mit seinem Sohn verheiratet zu werden, ohne dass ich Raffas Beweggründe für sein Verhalten verstand.

Je mehr du dich mit der Furcht vor mir auseinandersetzt, desto stärker wirst du.

Ich legte die Stirn in Falten. Der Spruch passte nicht nur auf das Training beim Don. Carmen jagte mir keine Angst ein. Nicht einmal die Aussicht, hier nur noch tot herauszukommen. Der Tod war unausweichlich. Die Art, wie man starb, war das Furchterregende. Bevor ich weiter in solche Gedanken abdriftete, schwang die Tür auf und krachte gegen die Wand. Meinetwegen konnten sie sie noch öfter so behandeln. Vielleicht fiel sie dann aus ihrem Rahmen heraus, ermöglichte mir ein Entkommen.

„Hast du über meine Worte nachgedacht?" Carmen zerrte den Stuhl über den Betonboden, ohne eine Miene zu verziehen. Das scharrende Geräusch erinnerte mich an Fingernägel, die auf einer Tafel entlanggezogen wurden. Es passte zu der Hexe. Ich richtete meine volle Aufmerksamkeit auf sie, nicht auf Fernando, der mitten auf der Schwelle stehenblieb. Die Gerte in der Hand betrachtete er mich, als ob ich ein heruntergekommenes verlebtes Stück Nutzvieh war, auf dem Weg zur Schlachtbank. Besser sah ich im Moment auch nicht aus. Die Haare fettig, die Kopfhaut juckte schlimmer als ein Dutzend Mückenstiche. Doch was kümmerte mich noch mein Aussehen? Nichts, um ehrlich zu sein. Es war vorbei.

„Du kannst dir dein Angebot dorthin stecken, wo die Sonne nicht scheint." Ich unterschrieb mental mein Testament.

„Das ist unklug von dir." Carmens Lächeln erstarb. Hatte sie ernsthaft erwartet, dass ich mich gegen die Italiener richtete? Als williges Werkzeug für ihre finsteren Machenschaften? So sehr ich mir einige Dinge in der Familie anders gewünscht hätte, hintergehen würde ich sie niemals. Die Spanierin schien das nicht zu begreifen. „Womöglich hilft es dir, wenn du weniger zu essen bekommst, um dein Denkvermögen anzukurbeln."

„Vielleicht hilft es mir, wenn du mir erzählst, warum die Santori so hinter euch und Harold her sind." Kam ich hier wider Erwartung raus, waren das Informationen, die sich als nützlich erweisen konnten.

„Das würde ich der kleinen Schlampe nicht sagen, Carmen. Die spielt doch nur mit uns." Fernando schlug mit der Gerte in seine Hand. Laut hallte das Klatschen im Raum wider.

„Cierra la boca, Fernando!" Hatte sie ihm gerade gesagt, er sollte sein Maul halten? Interessant. Der Spanier schnaubte kurz, ließ mich mit der Frau allein.

„Deine Neugierde wird noch mal dein Untergang." Sie schüttelte langsam den Kopf. „Gut, ich erzähle es dir. Wir sind nicht die Bösen. Zumindest nicht ganz. Harolds Vater hat den Pädophilenring, den sein Sohn nun führt, aufgebaut. Vor vielen Jahren kidnappte er die einzige Tochter des italienischen Dons von Los Angeles. Wie viele Mädchen vor ihr, wollte er sie trainieren, damit sie freiwillig Männern jeglichen Wunsch von den Augen ablas und ihnen ihren Körper anbot. Doch sie war störrisch, griff ihn mit einem Messer an. Er hat sie getötet, in einem Straßengraben entsorgt. Es heißt, dass es den Don gebrochen hat, seine Tochter so aufzufinden. Er starb wenige Jahre später, weil er rücksichtslos wurde. Seine Söhne übernahmen das Zepter, suchen bis heute nach dem Schuldigen."

„Und was hat das mit deiner Familie zu tun?" Ich war davon überzeugt, dass mehr dahintersteckte. Ihr Seufzen bestätigte mich in meinem Verdacht.

„Nun, eventuell helfen wir ihm im logistischen Bereich aus. Sorgen dafür, dass die Mädchen in die richtigen Staaten zu ihren neuen Besitzern kommen." Sie tippte sich ans Kinn. „Ein paar seiner besten Kunden hat man vor einigen Jahren tot aufgefunden. Wir vermuten, dass die Santori auf der Jagd nach Harold und uns dahinterstecken. Ich wollte dich einsetzen, um sie auf eine falsche Fährte zu setzen." Carmen stand auf. „Aber mir ist bewusst, dass du sie nicht verraten würdest. Was auch immer du für einen Grund hast. Wir ziehen in zwei Wochen weiter, werden dich dann vermutlich nicht mitnehmen."

„Zwei Wochen", murmelte ich, nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war. Eine Gnadenfrist, ein Aufschub für das Unvermeidliche. Wieso hatte Carmen sich darauf eingelassen, mir alles zu erzählen, wenn sie meinen Tod bereits plante? Um mir etwas zum Grübeln zu geben? Weil es sie nicht kümmerte, wer die Geschichte erfuhr? Oder war alles erstunken und erlogen, waren sie selbst für den Tod des Mädchens verantwortlich? Ich ließ mich auf das gammelige Bett sinken. Etwa vierzehn Tage. Wenn bis dahin niemand zu meiner Rettung auftauchte, war es aus. Außer ich schaffte es, mich mit einem der Wärter anzufreunden und ihn zu überreden, mich gehen zu lassen. Ein schwieriges Unterfangen. Andererseits war ich auch nicht im Keller der Santori gestorben, entgegen dem ursprünglichen Willen des Dons.

Ob Carmen und ihre Leute hinter dem Angriff auf das Anwesen in Kalifornien steckten? Um die Santori von dort zu verscheuchen, damit der Pädophilenring ungestört seinen Machenschaften nachging? Ich traute es ihnen zu. Wie ich es auch anstellte, ich musste hier rauskommen und Raffas Familie informieren.

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Nein, ich bereue es nicht, euch bis zur nächsten Woche mit der Antwort auf die Frage, was mit Dakota passieren wird, warten zu lassen.

Andererseits, da die Geschichte fast zu Ende ist, könnte ich mich auch erweichen lassen, das nächste Kapitel gegen Nachmittag/frühen Abend zu posten. Aber nur falls ich mal nett bin. 😈

Was haltet Ihr denn von der Story, die Carmen ihr aufgetischt hat?

Und stecken die Santori hinter den toten Kunden von Harolds Ring oder jemand anders?

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