Kapitel 9: Der erste Riss in der Mauer


Die Tage nach Dracos Geständnis verliefen in einer seltsamen Spannung. Hermine dachte ständig an den Moment in dem geheimen Raum, an die Verletzlichkeit in seinen Augen und an die stille Verzweiflung, die in seinen Worten lag. Draco war weiterhin distanziert, doch sie spürte, dass sich etwas verändert hatte. Es war, als hätte er sie einen Schritt näher an sich herangelassen – einen Schritt, den er vielleicht schon bereute.

Hermine war entschlossen, ihn nicht allein zu lassen, doch sie wusste auch, dass sie vorsichtig sein musste. Draco war wie ein verwundetes Tier – zu viel Druck würde ihn nur vertreiben. Stattdessen beschloss sie, den Kontakt allmählich zu intensivieren, immer dann, wenn sich die Gelegenheit bot.

Die Gelegenheit kam schneller, als sie erwartet hatte.

Es war ein ruhiger Nachmittag, und der Gemeinschaftsraum der Vertrauensschüler war leer. Hermine saß an einem der Tische und machte Notizen für ihr Arithmantik-Essay, als Draco hereinkam. Er wirkte müde, seine Haare waren unordentlich, und die dunklen Schatten unter seinen Augen sprachen von einer weiteren schlaflosen Nacht.

Er blieb kurz stehen, als er sie bemerkte, und schien zu überlegen, ob er einfach wieder gehen sollte. Doch dann zuckte er mit den Schultern, setzte sich in einen der Sessel am Fenster und zog ein Buch aus seiner Tasche.

Hermine zögerte, doch dann legte sie ihre Feder beiseite. „Malfoy?"

Er sah nicht auf, sondern blätterte weiter in seinem Buch. „Granger."

„Du siehst aus, als könntest du etwas Schlaf vertragen."

Er lachte leise, ohne den Blick zu heben. „Wie schmeichelhaft."

„Ich meine es ernst." Hermine stand auf und ging zu ihm hinüber. „Hast du wieder Albträume?"

Jetzt sah er auf. Sein Blick war kalt und abweisend, doch darunter lag etwas anderes – etwas, das Hermine inzwischen erkannte: Schmerz. „Das geht dich nichts an."

„Vielleicht nicht", sagte sie ruhig, „aber das bedeutet nicht, dass ich es ignorieren werde."

Er schloss das Buch mit einem lauten Knall und lehnte sich zurück. „Warum machst du das, Granger? Warum versuchst du ständig, mich zu... retten?"

Hermine setzte sich auf den Sessel gegenüber und verschränkte die Hände. „Weil ich glaube, dass du jemanden brauchst, der es tut. Und weil du es verdient hast."

Draco lachte bitter. „Verdient? Nach allem, was ich getan habe? Ich glaube, du überschätzt mich gewaltig."

„Vielleicht unterschätzt du dich selbst."

Es entstand eine lange Stille zwischen ihnen. Der Regen begann gegen die Fenster zu prasseln, und das einzige Geräusch im Raum war das Knistern des Feuers im Kamin.

Schließlich sprach Draco, seine Stimme leise und gebrochen. „Manchmal denke ich, dass es besser gewesen wäre, wenn ich..." Er brach ab, schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.

Hermine hielt den Atem an. Sie wusste, was er nicht aussprach, und allein der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. „Das darfst du nicht denken", sagte sie eindringlich. „Du bist hier, Draco. Du hast eine zweite Chance bekommen. Und du machst etwas daraus, auch wenn du es nicht sehen kannst."

Er starrte sie an, als ob er nicht wüsste, ob er ihr glauben sollte. „Du bist wirklich unglaublich naiv, weißt du das?"

„Nein", sagte sie leise. „Ich bin einfach nur stur."

Zu ihrer Überraschung huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen. Es war kaum mehr als ein Zucken, doch es war da – und es war echt.

„Vielleicht", sagte er schließlich, „brauche ich tatsächlich jemanden, der stur ist."

Am nächsten Tag fanden sie sich unerwartet wieder zusammen – diesmal im Zaubertrankunterricht. Professor Slughorn hatte sie erneut als Partner eingeteilt, und Hermine konnte nicht umhin, den leichten Anflug von Ärger auf Dracos Gesicht zu bemerken.

„Wie machen wir das diesmal?" fragte sie, als sie an ihrem Kessel standen.

„Wie wäre es, wenn du einfach alles machst und ich zusehe?" erwiderte er trocken.

Hermine verdrehte die Augen. „Sehr witzig, Malfoy. Du kannst immerhin rühren."

Er griff nach dem Rührstab und begann, mit einer Präzision zu rühren, die sie überraschte. „Zufrieden?"

„Beeindruckt, tatsächlich."

Sie arbeiteten eine Weile schweigend, bis Draco plötzlich sagte: „Warum hast du eigentlich nie aufgegeben, Granger? Selbst damals, als alles... aussichtslos schien?"

Hermine sah ihn an, überrascht von der plötzlichen Frage. „Weil ich wusste, dass es das Richtige war. Und weil ich an das Gute geglaubt habe."

„Das Gute", wiederholte er mit einem Hauch von Spott. „Und was ist, wenn das Gute nicht immer gewinnt?"

„Dann kämpfe ich trotzdem weiter", sagte sie bestimmt.

Draco schwieg, doch sein Blick blieb an ihr hängen. Irgendetwas in ihren Worten schien ihn zu bewegen, auch wenn er es nicht zugeben wollte.

Als der Trank schließlich fertig war und sie ihre Fläschchen abfüllten, bemerkte Hermine, dass Draco länger als nötig in ihrer Nähe blieb. Es war, als ob er etwas sagen wollte, doch bevor er den Mut dazu finden konnte, ertönte die Glocke, die das Ende der Stunde ankündigte.

„Granger", sagte er, als sie ihre Sachen packte.

„Ja?"

„Danke."

Es war nur ein Wort, leise und kaum hörbar, doch es trug mehr Gewicht, als Hermine erwartet hatte. Sie nickte, ein kleines Lächeln auf den Lippen, und ging hinaus, das Gefühl von Hoffnung stärker denn je.

Draco Malfoy war vielleicht ein Rätsel – aber es war eines, das es wert war, gelöst zu werden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top