Kapitel 7: Der Blick hinter die Fassade
Es war spät am Nachmittag, als Hermine den Bibliotheksturm aufsuchte, um sich auf die bevorstehenden Prüfungen vorzubereiten. Der Himmel war grau, und die dicken Wolken deuteten auf einen bevorstehenden Regen hin. Sie war es gewohnt, in der Bibliothek zu arbeiten, doch heute fühlte sich die Stille der Regale und die frische Luft, die durch das Fenster wehte, anders an. Etwas war in der Luft – und sie wusste, dass es mit Draco zu tun hatte.
Es war in den letzten Tagen immer öfter passiert, dass sie ihm über den Weg lief. Meistens war es nichts Auffälliges – flüchtige Blicke, kurze Gespräche in den Gängen, gemeinsame Pausen, die sie unbewusst in der Nähe des jeweils anderen verbrachten. Doch an diesem Nachmittag war etwas anders. Etwas, das sie nicht ganz fassen konnte.
Als sie die Tür zur Bibliothek aufschob, entdeckte sie Draco, der in einer der Ecken am Fenster saß. Das war ungewöhnlich, denn er war normalerweise nicht der Typ, der freiwillig Zeit in der Bibliothek verbrachte. Doch hier saß er, ein Buch aufgeschlagen, die Stirn in Falten gelegt, als versuche er, in den Worten etwas zu finden, das ihn beruhigte. Hermine hielt kurz inne und beobachtete ihn. In den letzten Wochen hatte sie sich immer wieder gefragt, was ihn wirklich beschäftigte – jenseits der Oberflächlichkeit, die er oft zeigte.
„Malfoy?", sagte sie vorsichtig, als sie auf ihn zutrat.
Draco hob langsam den Kopf und sah sie mit einem Blick an, der sie für einen Moment unerklärlich berührte. Ein schneller, fast flüchtiger Blick, der aber so viel mehr zu sagen schien als jedes Wort, das er jemals ausgesprochen hatte.
„Granger", antwortete er mit einem leicht gereizten Tonfall, der jedoch keine wirkliche Feindseligkeit trug. Es war eher ein Reflex, als ob er nicht genau wusste, wie er reagieren sollte. „Was machst du hier?"
„Ich wollte eigentlich nur ein bisschen lernen", sagte Hermine, während sie sich an den Tisch setzte und ihre Bücher ausbreitete. „Aber wenn du hier bist, dachte ich, es wäre vielleicht besser, wenn wir uns gegenseitig ein bisschen helfen."
„Helfen?" Draco hob eine Augenbraue und schüttelte leicht den Kopf. „Mit was genau?"
„Nun, bei den Zaubertrank-Prüfungen zum Beispiel", sagte sie mit einem schüchternen Lächeln, während sie auf das Buch vor sich deutete. „Ich meine, du hast es gut gemacht, als wir das Projekt zusammen gemacht haben. Vielleicht gibt es ja noch etwas, was du wissen willst. Wenn du willst, kann ich dir helfen."
Draco schien für einen Moment unsicher, doch dann nickte er. „Klingt eigentlich nicht schlecht. Du weißt ja, dass ich Zaubertränke nicht unbedingt zu meinen Stärken zähle."
„Ich dachte mir schon, dass du dich vielleicht ein bisschen schwer tust", sagte sie mit einem augenzwinkernden Lächeln. „Aber wer weiß? Vielleicht wirst du ja der Überraschungssieger bei der Prüfung."
Draco schnaubte und blätterte die Seiten seines Buches um. „Ich würde nie behaupten, der beste Zaubertränkebrauer zu sein", murmelte er, und für einen Moment sah er fast melancholisch aus. Doch als er Hermine ansah, verschwand dieser Ausdruck schnell wieder. „Aber du, Granger, hast immer alles im Griff, nicht wahr?"
„Nicht immer", antwortete sie leise. „Manchmal... manchmal weiß ich auch nicht, was ich tun soll."
Diese ehrliche Bemerkung überraschte sie selbst, doch sie wusste, dass sie ihm gerade etwas von sich preisgab, was sie nicht jedem zeigen würde. Draco sah sie für einen Moment an, als ob er nach etwas suchte, das sie ihm erklären könnte. Doch dann sagte er nur: „Vielleicht sollten wir uns einfach auf die Prüfung konzentrieren. Du hast recht, wir müssen uns vorbereiten."
Die Stunden vergingen in konzentrierter Stille. Hermine zeigte Draco verschiedene Techniken, die bei der Zubereitung der Tränke hilfreich sein könnten, und er war erstaunlich aufmerksam. Es war fast, als ob er sich Mühe gab, zu verstehen, was er bisher verpasst hatte. Der Unterricht hatte ihm nie die richtige Wertschätzung für Zaubertränke beigebracht, doch das bedeutete nicht, dass er unfähig war. Wenn er sich konzentrierte, konnte er alles erreichen – und es war erstaunlich, wie schnell er sich verbesserte.
Doch während sie ihm half, bemerkte sie, dass er immer wieder abwesend wirkte, als ob etwas in seinem Inneren wühlte. Manchmal starrte er aus dem Fenster, und sie konnte die Nachdenklichkeit in seinen Augen sehen. Hermine fragte sich, ob sie jemals wirklich erfahren würde, was hinter dieser Fassade steckte, die er so mühelos aufbaute.
„Was ist eigentlich mit dir, Malfoy?" fragte sie plötzlich, ohne es wirklich zu planen. „Du redest nie wirklich über... dich. Was beschäftigt dich?"
Draco sah sie mit einer Mischung aus Überraschung und Abwehr an. Doch statt sich zurückzuziehen, atmete er tief durch und schloss das Buch vor ihm. „Warum interessiert es dich?", fragte er, und seine Stimme klang jetzt flach, fast gleichgültig.
„Weil du nicht einfach nur der arrogante Junge von damals bist", antwortete sie, ohne auf ihre Worte zu achten. „Du bist... anders. Und ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, was wirklich hinter der Fassade steckt."
Draco stand abrupt auf und ging zum Fenster. Die Dunkelheit war inzwischen hereingebrochen, und die Bibliothek war nur noch schwach erleuchtet. „Ich habe keine Fassade, Granger", sagte er leise, fast tonlos. „Ich habe nur gelernt, dass es besser ist, den Mund zu halten und nicht zu viel von sich preiszugeben."
Hermine spürte, wie das Gespräch einen anderen Ton annahm. Es war nicht mehr das Geplänkel von vorhin. Es war ein Moment der Wahrheit – und sie wusste, dass sie ihm nicht zu nahe treten durfte. Doch etwas in ihr verlangte nach Antworten. Sie wollte wissen, was er wirklich dachte, was ihn quälte. Und warum er sich so sehr bemühte, seine Vergangenheit zu verbergen.
„Es gibt Menschen, die verstehen, Draco", sagte sie leise, und ihre Worte klangen fast wie ein Angebot. „Du musst dich nicht ständig verstellen."
Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. Seine Augen waren ernst, und für einen Moment konnte Hermine sehen, wie viel er sich wünschte, jemanden an sich heranzulassen. Doch dann blickte er wieder weg.
„Vielleicht", sagte er schließlich, „vielleicht gibt es auch Dinge, die niemand verstehen kann."
Und damit ließ er sie mit mehr Fragen zurück, als sie beantwortet bekam. Doch irgendetwas in diesem Gespräch hatte sie näher zu ihm gebracht – vielleicht auf eine Weise, die sie nie erwartet hatte.
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