Tränen liefen über seine Wangen. Noch nie war er seiner Schwester so nah gewesen, wie in diesem Moment. Er hätte sie beinahe berühren können. An nichts konnte er sich erinnern, was sie zusammen erlebt hatten, mit Ausnahme der Wolken, die sie beobachtet hatten und schon diese Erinnerung reichte aus, um ihm zu beweisen, wie nahe sie sich standen. Die Botschaft, die sie ihm über Victoria vermittelt hatte, verschlimmerte seinen Verlust, den er schon sehr lange mit sich trug, ohne zu wissen, was es war, aber sie machte ihn auch stärker. Er wusste jetzt, wie viel Hoffnung sie in ihn steckte, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, was er bewirken sollte und gegen wen. Er nahm sich fest vor, diese Fragen zu beantworten. Zusätzlich wollte er jetzt endlich wissen, welches Ziel das System verfolgte, wenn es so böse zu sein schien.

„Wollen wir gehen?", fragte Victoria auf einmal, wie aus dem Nichts heraus.

„Wohin denn?"

Er musterte sie verwirrt. Was war denn los?

„In eine andere Zeit."

„Ich dachte, du weißt nicht -"

„Wissen ich auch nicht, aber kommen du?"

Sie schaute ihn nur erwartungsvoll an, auf eine Antwort wartend, die er nicht geben konnte. Eine Antwort auf eine Frage, die er nicht verstanden hatte. Ihre Augen ließen nicht von ihm ab, änderten laufend ihre Farbe. Von Grün zu Blau, zu Rot, zu Grau und wieder zu Grün. Ihre Sommersprossen schimmerten, als wollten sie gleich, wie Sterne in den Himmel aufsteigen. Sie nahm seine Hand:

„Wenn du nicht freiwillig kommen, dann nehmen ich dich eben mit!"

Um sie herum breitete sich ein Strudel aus, der das Café Treehouse in sich hinein sog. New York verschwand aus seinem Sichtfeld, die dicke Luft der Stadt wurde fort gezerrt, der Lärm der hupenden Autos verhallte in weiter Ferne. Nur das Spiel der Farben war wichtig. Rot, Gelb, Blau, Grün, Lila, Pink, Türkis, Schwarz, Orange und Weiß. Manche von ihnen pulsierten, andere schienen zu pochen, wie das menschliche Herz. Andere Farben breiteten sich um sie herum aus, auch solche, für die er keinen Namen kannte. Und die Hand Victorias erschien ihm wichtig. Er hatte das Gefühl, dass er sie auf keinen Fall loslassen durfte. Noch nicht. Sie hüpfte vergnügt auf und ab, ihre roten Locken machten jede ihrer Bewegungen mit, und flogen um ihren Kopf. Sie bildeten einen Kontrast zu all dem Bunt rings herum, weil sie doch so natürlich wirkten. Nicht neon oder pastell. Einfach nur real. Die nun wieder grünen Augen leuchteten vor Freude und ihre schmalen Lippen waren zu einem Lachen geformt. Die makellos weißen Zähne blitzten dazwischen hervor, strahlten ihm entgegen. Er spürte, wie sein Kampfgeist schwand. Noch nie konnte er einen Zeitsprung bei vollem Bewusstsein erleben. Sein Sichtfeld verdunkelte sich von Sekunde zu Sekunde, vielleicht waren es auch nur Bruchteile einer Sekunde. Er wusste es nicht. Seine Gedanken wichen immer wieder vom Thema ab; entglitten in Wünsche, Träume, wiedergewonnene Erinnerungen. Es fiel ihm schwer, sich noch weiter auf Victoria zu konzentrieren, die ihn unentwegt anlächelte. Ihr schien der Zeitsprung überhaupt nichts auszumachen. Im Gegenteil. Sie wirkte noch viel energiegeladener als zuvor. All die Kraft, die der Strudel ihm raubte, schien in sie überzugehen. Je stärker er sich bemühen musste, die Augen offen zu halten, desto kräftiger sprang Victoria auf und ab. Sie zerrte an seiner Hand, als wollte sie ihn mit sich in die Höhe reißen, doch er klebte am Boden, wie festgewachsen. Dann, kurz bevor er das Bewusstsein endgültig verlor, ließ sie seine Hand los und lief einfach davon. Sie entfernte sich immer weiter von ihm, ohne dass er sie hätte aufhalten können:

„Warte", krächzte er verzweifelt, befürchtend, sie hätte ihn gar nicht gehört.

Doch sie drehte sich um; freudestrahlend:

„Du müssen mich fangen. Das sein das Spiel. Los! Fangen mich!"

Mit diesen Worten verschwand sie aus seinem Blickfeld und um ihn herum hallten nur noch wenige Fetzen ihrer Worte wider: „Fangen, fangen, fangen, fangen." Dann glitt er erneut hinab in die Dunkelheit, die ihm immer vertrauter zu werden schien; ihn immer wärmer empfing.

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