Die hektischen Straßen von New York wirkten im schwinden Sonnenlicht und gedämpft durch Glasscheiben wie ein Musikstück, das einem im Kopf blieb, obwohl man weder Titel noch Komponist kannte. Eindringlich prägten sie sich ein, ohne ein einzelnes Gesicht hervorzuheben, das am Café Treehouse vorbei hetzte, um irgendwo pünktlich anzukommen. Ob die Menschen hier merkten, in was für einem Stress sie lebten? Kannten sie etwas anderes? Kleine Kinder stolperten ihren Eltern hinterher, weil sie das hohe Tempo einfach noch nicht mithalten konnten, und wenn sie fielen, wurden sie nicht getröstet, sondern dafür verantwortlich gemacht, dass man zu irgendwelchen Verabredungen nicht rechtzeitig erscheinen konnte. Es schien egal, dass sie weinten oder flehten, eine Pause machen zu dürfen. Die Babys im Kinderwagen mussten sich fühlen wie auf einer Rennstrecke. Ihre Mütter, eingewickelt in Designermäntel und Pelzmützen, schienen neue Rekorde aufstellen zu wollen. Gott war er froh, wenn er diese Stadt endlich verlassen konnte. Wer wollte nur freiwillig hier leben? Jedes Geschäft war überfüllt, in den U-Bahnen konnte man kaum noch atmen und auf frische Luft durfte man auch nicht hoffen. Selbst dieses kleine Café platzte aus allen Nähten. Am Tisch gegenüber saß ein Mann, der vermutlich noch nie etwas anderes in seinem Leben gesehen hatte, außer Fastfood und Kuchen. Sein Bauch wölbte sich über den Rand seiner Hose und machte es offensichtlich schwierig, sich hinter den kleinen Tisch zu quetschen. Unter seinem Arm hatten sich tellergroße Schweißflecken gebildet. Auch auf seiner Stirn perlte es. Die Haare schienen auch vom vielen Essen ausgefallen zu sein und er brauchte nur die Augen zu schließen und könnte auf seinem Doppelkinn schlafen. Die zierliche Bedienung wirkte mehr als verloren, als sie seine Bestellung aufnahm. Sie kritzelte panisch alles nieder, was er von sich gab, hoffend, dass der Zettel lang genug sein würde. Man konnte ihrem Gesicht ansehen, dass sie schlecht geschlafen hatte, außerdem versuchte sie mit einer Schicht aus Make-Up, die man vermutlich mit einem Spatel wieder abkratzen müsste, ein blaues Auge zu überdecken. Die Betonung liegt auf 'versucht'. Die Ärmel ihres Pullovers waren bis ganz hinunter zum Handgelenk gezogen. Höchstwahrscheinlich verdeckte sie damit noch mehr schwarze oder lila Blutergüsse. Durch den Stoff zeichnete sich ihr dürrer Körper ab. Hau bloß ab von da Mädchen. Der Typ tut dir nicht gut. Er mochte sich nicht vorstellen, was ihr 'Lebensgefährte' von der Rolle der Frau hielt. Hinter ihr fuchtelte eine andere Frau mit der Hand. Sie ähnelte einem Drahtgestell, so unförmig und eckig war sie. In ihrem Gesicht ließ sich nichts abgerundetes finden. Selbst ihre Augen wirkten viereckig. Zusätzlich ragte ein riesiger Zinken zwischen ihnen hervor. Die Frau schien das jedoch nicht zu stören, denn sie betonte ihr interessantes Gesicht noch mit prunkvollem Ohrschmuck und sehr wahrscheinlich teurem Lidschatten. Um ihren Hals trug sie einen Schal, dem man schon von weitem ansah, dass das arme Tier einmal gelebt hatte. Ihr Mantel, den sie über die Stuhllehne gehängt hatte, glitzerte, besetzt mit pinken Strasssteinen. Zu allem Übel rekelten sich ihre unförmigen Füßen noch in goldenen, nach vorne spitz zulaufenden Schuhen, mit deren Absatzhöhe man den Mount Everest hätte eifersüchtig machen können. Die Haut auf der noch immer fuchtelnden Hand war blass und dünn, ähnlich altem vergilbten Papier. Wann die das letzte Mal mit ihrem Mann gesprochen hat, lässt sich auch gut ausmalen: „Schatz! Ich will deine Kreditkarte, meine ist gerade gesperrt!" Die arme Kellnerin musste sich zusammenreißen, um bei ihrem Anblick nicht zu erschrecken. Wenn man jemals eine alte Hexe beschreiben wollte, dann konnte man sehr gut auf dieses Bild zurückgreifen. Eine bessere Verkörperung würde sich nirgendwo finden lassen.
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