Die Gruppe setzt sich in Bewegung. Vor ihnen fallen die Barrieren, Lucas hat ihnen einen Virus verpasst. Drei Minuten sind optimistisch. Vermutlich wird er sie nicht so lange zurückhalten können, aber sie müssen es versuchen. Jeder bleibt an der abgemachten Position stehen. Sie bilden eine Kette. Er ist der Letzte, darf draußen bleiben. Seine Aufgabe ist es, die geklauten Serverbestandteile entgegen zu nehmen. Vor ihm steht seine Schwester. Sie ist die Erste, die hinter der Barriere steht, wenn sie wieder errichtet wird und dann kommt sie nicht mehr raus. Er wollte nicht, dass sie mitkommt, aber er verliert die Diskussionen gegen sie immer. Wenn sie etwas will, dann macht sie es auch, egal was andere sagen. Er hat Angst sie zu verlieren. Sie ist die Einzige, die ihm bleibt und trotzdem begibt sie sich in Gefahr. Er will sich nicht vorstellen, was mit ihr passiert, wenn sie sie fangen. Das will er nicht träumen, aber er weiß, dass er es wird. „Achtung! Das erste Teil kommt!", ruft jemand. Nach dem ersten kommen weitere. Sobald er eines auf dem Wagen verpackt hat, kommt ein neues. Er hat keine Zeit, um über etwas anderes nachzudenken, als die korrekte Befestigung der Einzelteile. Die Zeit wird undefiniert. Wie viele Minuten sind schon vergangen? Er weiß es nicht. „Das Letzte!", schallt es aus dem Tunnel. Leiser Jubel bricht aus. Sie hoffen, dass alles gut geht, dass sie nicht erwischt werden, dass sie Barriere unten bleibt. Seine Schwester kommt ihm entgegen, damit es schnell geht. Gibt ihm das vorletzte Teil und läuft dann zurück, um das Letzte in Empfang zu nehmen. In ihm macht sich auch die Hoffnung breit, dass alles so klappt, wie sie es geplant hatten. Er kann den Schatten seine Schwester schon sehen, als sie sich wieder auf den Rückweg macht, um den Tunnel zu verlassen. Er läuft ihr entgegen, läuft zum Tunneleingang. Jetzt sieht er sie. Es ist ein Kabel, das sie tragen muss. Sie hat es sich über die Schulter gehängt. Hinter ihr kommen die Anderen. Sie lachen. Noch ist alles gut. Freude strahlend drückt seine Schwester ihm das dicke Kabel in die Hand, tritt aus dem Tunnel heraus. Andere folgen ihr. Fast alle schaffen es. Nur zwei sind noch drin als die Barrieren sich wieder errichten. Es braucht lange, weil Lucas nicht sofort aufgibt. Langsam winden die Strahlen, einem früheren Actionfilm gleich, sich nach oben zur Tunneldecke. Alle schreien, feuern die beiden an, die noch nicht draußen sind. Sie spornen sie zum laufen an. Panik macht sich in ihren Gesichtern breit. Seine Schwester reicht der Ersten die Hand, zieht sie nach draußen. Der Andere, Phil, schafft es nicht. Als er hinaus springen will, prallt er von dem Gitter aus leuchtenden Stäben ab. In seinen Augen schimmert die Angst, trotzdem ruft er: „Lauft!" Sie befolgen seinen Rat, klettern auf den Laster. Seine Schwester lässt den Motor aufheulen und gibt Gas. Jeder von ihnen kommt heil wieder im Versteck an, jeder außer Phil. Er ist der Vierte, der bei einem Serverdiebstahl gefangen genommen wird.

Kaum steigt seine Schwester aus dem Auto, fällt er ihr um den Hals: „Ich hatte Angst." Sie nickt nur. In ihren Augen glimmt der Hass, aber sie streichelt ihm sanft über den Kopf: „Ich auch." Er sieht sie an, fragend. Noch nie hatte sie es zugegeben, wenn sie sich fürchtet. „Mach dir aber keine Sorgen", rudert sie schnell zurück, um ihn wieder zu beruhigen, „Dir passiert nichts." Sie beide wissen, dass sie das niemals versprechen kann. Niemand weiß, wem etwas passieren wird und wem nicht. Phil ist älter als wir. An die fünfzig. Er hat eine kleine Tochter und eine Frau. Von beiden hat er sich heute verabschiedet mit den Worten: „Wenn ich wieder zurück bin, dann tanzen wir zusammen." Die Kleine hatte gelacht und seine Frau hatte ihm zum Abschied gewunken. Jetzt wissen sie, dass es der letzte Abschied war. Auch er hätte gerne versprochen, dass ihm nichts passiert und doch wird er niemals wieder als die Person zurück kommen, die er war. „Versprochen", murmelt seine Schwester trotzdem. Betrübt senkt er seinen Blick nach unten auf die Pfütze, die sich durch den Regen des Tages gebildet hatte. Er sieht direkt in die Augen eines neunjährigen Kindes. In seine Augen.

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