Den folgenden Tag erwachte er nicht, weil die Sonne ihn geweckt hatte, sondern weil er laute Geräusche aus der Küche über sich hörte. Es polterte und krachte, Schritte klackten auf den Dielen, dann gab es einen grausamen Schrei. Voller Angst. Todesangst. So schnell er konnte, sprang er aus dem Bett und hechtete die Treppe nach oben. Die Müdigkeit, die noch in einigen seiner Knochen steckte, machte es ihm schwer, das Tempo zu halten, doch er zwang seine Muskeln zur Arbeit. Hechelnd erreichte er den ersten Flur. Drei Ecken, dann eine Tür. Das Geräusch eines zerberstenden Fensters. Ein dumpfes Geräusch. Hupende Autofahrer. Dann endlich erreichte er die Küche. Stille machte sich im Haus breit, legte sich über alles und jeden. So undurchdringlich wie in der Schwerelosigkeit im All. Er hörte nicht einmal seine eigenen Schritte, die über die weißen Fliesen klatschten. Seine nackten Füße sogen sich an jeder einzelnen fest, wie ein Saugnapf. Er setzte nur die Ballen auf, als müsste er sich an jemanden heran schleichen, der nicht da war. Scherben bohrten sich in seine Haut und Blut rann über den blütenweißen Boden. Ein Bild, wie es Künstler malten. Glas brach unter seinem Gewicht, ohne die Stille zu unterbrechen. Teller lagen zerschmettert auf dem Boden, blaue, rote, gelbe, grüne. Vor ihm ruhten die Überreste einer Tasse. Auf der Scherbe aus Keramik war ein Pfeil eingraviert. Er zeigte in seine Richtung. Darüber die Aufschrift: „Er war's". Wie in Zeitlupe, gefangen in einem Strudel der Zeit, bückte er sich hinunter und umschloss das Stück mit seinen Händen. Die scharfen Kanten schnitten in seine Handflächen, doch er umklammerte es nur noch fester. Es schien, als wollte die Tasse ihn verhöhnen, ihn auslachen, ihn verspotten. B. Des. As. Ges. B. Es. Panic.- Giovanni Allevi. Alle Zeit verging langsamer, ein Pinselstrich auf einer Leinwand, betont ruhig gezogen, noch überlegend, wo er enden sollte. Die Autos auf der Straße bewegten sich wie Schnecken, die Fahrer winkten, telefonierten, alles in gedrosselter Geschwindigkeit. Einige gestikulierten noch immer dem unaufmerksamen Fußgänger hinterher, der, ganz in Schwarze gekleidet, auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Sein Blick war geradezu auf ihn gerichtet. Trotz der Entfernung konnte man die Narben in dem blassen Gesicht sehen. Eine zog sich über das linke Auge. Milchig schien es; blind. Der einzige Farbtupfer in dem so bleichen Gesicht war das Blut an seiner aufgeplatzten Lippe. Ein kleiner roter Tropfen, so abstrakt wie das Blut auf den Küchenfliesen. Er konnte sehen, wie er sich, durch die Schwerkraft angezogen, einen Weg nach unten bahnte. Sie zog an ihm, bis er sich von der Unterlippe löste und hinunter stürzte. Fallend, dann auf den gepflasterten Gehweg auftreffen, kurz in verschiedene Richtungen ausbreitend. Dann zog er sich wieder in sich zusammen und verharrte auf dem kalten Stein. Niemand sonst würde ihm je Beachtung schenken. Nur er, er würde ihn immer und immer wieder sehen. Egal, wo er war, er würde ihn sehen, finden. Niemals könnte er ihn vergessen; seine Geschichte vergessen. Über das Gesicht des Mannes huschte ein Grinsen. Es entblößte seine gelben Zähne, eine Goldenen. Selbst das Zahnfleisch war übersät mit Narben, blasser noch als sein Gesicht und doch deutlich erkennbar. Der Mann zog sich seine Kapuze wieder über den Kopf und wandte sich ab; verschwand um die nächste Ecke, ohne sich noch einmal umzudrehen. Lange sah er ihm nach. Ein verzweifelter Versuch, nicht den Kopf zu drehen und der großen Blutlache, die sich langsam zu seinen Füßen hin ausbreitete, die Beachtung zu schenken, die er hatte. Tiefrot schimmerte sie in dem Licht der aufgehenden Sonne. Ein Meer aus dunkelroter Farbe, in dem sich sein Blick verlor. Er konnte ein kleines Schiff sehen, das mit den Fluten kämpfte. Immer wieder überspülte eine Welle gnadenlos das Deck. Die Planken trieften. Das laute Knarren verriet, dass es bald auseinander brechen würde. Am Steuer stand eine kleine Figur. Sie fixierte ihn, starrte ihm direkt in die Augen und deutete mit ihrem winzigen Finger auf das Szenario vor ihm, als wollte sie sagen: „Wach auf und sieh endlich hin. Du weißt es doch schon längst." Die nächste Woge zog das zerbrechliche Schiff mit sich in die Tiefe. Das Letzte, was er sehen konnte, war der vorwurfsvolle Blicke, der kleinen Figur, der ihn ein letztes Mal aufforderte, nicht wegzusehen. Seine Augen brannten. Er konnte, wollte sie nicht schließen. Die Feuchtigkeit war aus ihnen verschwunden, sein Sichtfeld eingeschränkt, unscharf, doch es fühlte sich an, wie Verrat, wenn er sich die Qualen nehmen würde, indem er blinzelte. Wie sollte er dann sehen, was vor ihm geschehen war, ohne zu begreifen, wie schrecklich es war? Mühsam, zögerlich hob er seinen Kopf, riss seinen Blick von dem längst versunkenen Schiff los und richtete ihn auf das schreckliche Szenario vor ihm.

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