„Na komm. Du schaffst das schon irgendwie", munterte sie ihn auf, als er jetzt schon zum zehnten Mal aufgeben wollte. Seit vier Tagen versuchte Marry ihm das Lesen beizubringen. Sie hatte herausgefunden, dass er, wenn er sich Buchstaben ansah, den jeweiligen Stellenwert im Alphabet vor Augen hatte. Das bedeutete für sie, dass er das nur auswendig lernen musste, wenn er verstehen wollte, was genau dort stand. Jetzt übte sie unermüdlich mit ihm. „Wenn du eine Eins siehst, welchem Buchstaben entspricht das?" Es dauerte sehr lange, bis ihm das Ergebnis einfiel. Das ist der allererste Buchstabe, den muss man doch wenigstens kennen. „Komm. Du kannst das." „A?" Sie klatschte begeistert in die Hände: „Siehst du? Es geht. Wir versuchen den nächsten Buchstaben im Wort. Jetzt müsstest du eine 21 sehen, stimmt's?" Er nickte. Die 21 kannte er schon, er hatte sie selbst schon einmal aufgeschrieben: „U." Sie nickte wieder und deutete auf den nächsten Buchstaben: 20. Auch den kannte er, aber es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. So sehr er sich auch bemühte, es kam ihm nicht mehr in den Sinn, welchem Buchstaben die 20 entsprach. Verdrießlich zuckte er mit den Schultern. „Na gut. Wir machen eine kleine Pause, aber ich glaube an dich. Du schaffst das schon", lenkte sie ein und ging los, um etwas zu Essen zu machen. Er schaute in der Zwischenzeit aus dem Fenster und beobachtete die Leute. Die meisten stiefelten mit auf ein merkwürdiges kleines Teil gerichtetem Blick umher. Marry hatte ihm erklärt, dass dies Handys sein, auch wenn er immer noch nicht wusste, was genau das sollte. Die Funktionen kannte er von den kleinen Eye-Screens, die jeder haben konnte, wenn er etwas Geld hatte, aber warum das so ein hässlicher Kasten sein musste, wusste er nicht. Die Eye-Screens waren wesentlich unauffälliger und damit viel eleganter. Man konnte sich das Bild einfach auf sein Auge projizieren lassen und antworten auf Nachrichten konnte man durch Signale, die man über die Augen oder die Stimme gab. Warum er sich jetzt ausgerechnet an diese Technologie erinnern konnte, wusster er auch nicht. Es schien paradox. Er schüttelte den Kopf. Diese Kästen schienen modern zu sein, denn fast jeder lief damit umher und schien innig damit beschäftigt, anderen Nachrichten oder ähnliches zukommen zu lassen. Die Mode hingegen gefiel ihm sehr gut. Niemand trug hier hässliche Overalls wie man sie in der Zukunft tragen würde. Wenn jemand so etwas als Kleidung gewählt hatte, dann sah es schick aus und elegant. Nicht hauteng, öde und spießig. Man trug hier Jeans und lange Mäntel. Manche sogar Mützen und Schals. Im Jahr 2016 kannte er sich nicht aus. Am dichtesten war er mal 1963 gewesen und das so ungefähr vor drei Wochen.
Marry kam mit einem dampfenden Topf wieder ins Wohnzimmer. Sie stellte ihn auf den Tisch und kramte im Schrank nach ein paar Tellern und Besteck. Er wusste, dass sich in der Küche der Abwasch türmte, den sie nicht sonderlich gern zu betätigen schien. Das bedeutet, dass sich kaum noch sauberes Geschirr finden lassen würde. Er nahm sich vor, morgen selbst den Abwasch zu machen, um ihr eine kleine Freude zu machen, dafür dass sie sich um ihn kümmerte. „Jetzt essen wir und dann üben wir weiter!", verkündete sie, als sie doch noch fündig geworden war und reichte ihm einen Löffel.
Am Ende des Tages zeigten sich tatsächlich erste Ergebnisse der harten Arbeit. Sein Lesetempo entsprach zwar dem eines Erstklässlers, aber er konnte einzelne Wörter entziffern. „Wie gut, dass ich dir nicht mehr beibringen muss, was die einzelnen Wörter alles bedeuten", stellte sie mit ironischem Unterton fest. Er lachte. Manche Worte überraschten ihn in der Schreibweise. Er hätte niemals erwartet, dass „Diskussion" so viele Buchstaben hatte, aber verstehen konnte er es trotzdem. Wenn er es sich selbst übersetzte, ergab es Sinn.
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