Von verlorenen Gärten und Pferdeschlächtern

Clair

Sie hatte sich von Theon über den kleinen Weg führen lassen, der sie hinter die hohen Mauern des Palastes führte.

Am Anfang ihrer Verabredung hatte sie sich ganz und gar nicht wohl gefühlt, doch der Besuch des Musikzimmers hatte ihre Nerven ein wenig beruhigen können. Die sanften Klänge des Flügels, sowie die Streichlaute der Geige, waren wie Balsam für ihre Seele gewesen. Und noch dazu hatte sie der Moment, in dem sie und der Prinz in Harmonie die Instrumente zum erklingen gebracht hatte, wieder zu träumen beginnen lassen. Es hatte sich angefühlt, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen.

Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Arm, während sie über den kleinen Pfad wanderten. Sie atmete den Geruch von Meersalz und Minze ein, der von ihm ausging und bereute es sogleich für einen winzig kleinen Augenblick, dass sie seinem Vorschlag, einen Spaziergang an der Küste zu wagen, nicht nachgekommen war. Der Gedanke an die rauschenden Wellen und endlosen Weiten ließ sie lächeln und sie nahm sich fest vor, seine Idee in den nächsten Tagen doch noch umzusetzen.

Gemeinsam bogen sie um die nächste Ecke. Clair richtete ihren Blick auf die kleinen Gänseblümchen, die seitlich am Rande des Weges wuchsen und sich gegen die sonst so trübe Stimmung, die die meisten Teile des Palastes vermittelte, wehrten. Das Weiß ihrer Blütenblätter strahlte der Prinzessin schon beinahe so hell entgegen, wie die Sonne selbst.

Gerade als sie wieder nach vorne sehen wollte, stoppte Theon so abrupt, dass sie beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert wäre.

Verwirrt musterte sie ihn von der Seite, wobei sich ihre Stirn in Falten legte. Starr schaute er geradeaus. Sein Gesicht nahm dabei einen ungesunden Farbton an, der noch weißer als der der Gänseblümchen war.

„Alles in Ordnung?", fragte sie vorsichtig nach, erhielt aber keine Antwort von ihm. Nicht verstehend worin das Problem für ihn lag, folgte sie schlussendlich einfach seinem Blick und erspähte das überwucherte, silberne Gartentor, das vor ihnen aus dem Boden ragte. Rosen, Efeu und Farne räkelten sich an den schön geschwungenen, metallenen Stäben nach oben und ließen den Eingang wirken, als hätte ihn schon seit Jahren niemand mehr geöffnet.

Ob dem auch wirklich so war? Aber weshalb? Gärten waren etwas wundervolles. Sie waren Orte, an denen sich die Damen des Adels für gewöhnlich nur zu gerne aufhielten. Es gab wohl keine passenderen Attribute, die den Begriff der Weiblichkeit besser unterstrichen, als Blumen und atemberaubende Düfte.
Auch Clair liebte diese besonderen Grünanlagen.

Ein Schmerz machte sich in ihrer Brust breit, als sie unweigerlich daran denken musste, dass sie nun für längere Zeit nicht mehr in den Genuss der königlichen Parkanlage Terosas kommen würde. Wie lange sie wohl am Ende in Bardo verweilen musste? Eine Frage, deren Antwort in den Sternen stand.
Ihr Vater hatte ihr mehr als nur deutlich gemacht, dass sie in den nächsten Wochen nicht mir der Erlaubnis einer Rückreise zu rechnen brauchte. Sie schauderte bei der Erinnerung an die Wut, die sich am vergangenen Abend in seine Augen gemischt hatte.

Sie nahm die Hand von Theons Arm und streckte ihre zierlichen Finger nach dem Tor aus, doch noch ehe sie den silbernen Knauf berühren konnte, spürte sie, wie der Prinz sie grob an der Schulter zurück riss. „Nicht!", rief er aus, als befürchtete er, sie könnte dadurch einen Drachen befreien, der auf der anderen Seite verweilte.

Sie wandte ihm ihr Gesicht wieder zu und bemerkte die Angst, die sich in seinen Augen widerspiegelte. Seine Atmung ging schneller und sie konnte die Schweißperlen sehen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten. Was war nur in ihn gefahren? Es handelte sich doch nur um einen Garten.

„Versteckt Ihr etwas hinter diesem Tor? Etwa einen dreiköpfigen Hund, oder eine fliederfarbene Gans?", witzelte sie und legte sich anschließend sofort die Hand an die Lippen. Sie hatte sich nicht über ihn lustig machen wollen und doch tat sie es. „Bitte verzeiht mir. Ich weiß auch nicht, was mich zu diesen ungehobelten Worten veranlasst hat."

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie war doch sonst nicht so vorlaut. Nein, ehrlich gesagt besaß sie gute Manieren. Sogar ausgezeichnete. Eigentlich.
War es der schlechte Schlaf in Kombination mit der Wut über ihre Eltern, der sie nun ihrer Selbstbeherrschung beraubte? Vor ihrem inneren Auge konnte sie bereits die enttäuschten Gesichter des königlichen Ehepaars von Terosa aufblitzen sehen.

Sie wollte zu einer weiteren Entschuldigung ansetzten, doch es war bereits zu spät. Unter die Angst in dem glasigen Blick des Prinzen, mischte sich nun auch Zorn. „Ich sollte meinen Vater  aufsuchen. Ihr findet sicher allein zurück." Ohne auf eine Antwort ihrerseits zu warten, machte er kehrt und ließ sie einfach stehen.

Seufzend sah sie ihm nach, fasste sich an die Stirn. Sehr gut gemacht, Clair. Nun denkt er sicherlich, du bist nicht mehr als ein verzogenes Gör.

Als sie ihn nicht mehr erkennen konnte, ließ sie ihren Blick noch für einen letzten kurzen Moment über das Gartentor wandern und dachte darüber nach, einfach selbst nachzusehen, was sich so Schreckliches dahinter verbarg. Doch vermutlich hätte das die Lage nur noch mehr verschlimmert, hätte Theon sie dabei ertappt, also ließ sie die Sache vorerst ruhen. Tief atmete sie durch, ehe sie sich langsam auf den Rückweg machte und über den mit Gänseblümchen gesäumten Pfad zurück auf den Hof spazierte.

Vor den Stallungen hielt sie inne, als sie ein ihr bekanntes Gesicht bemerkte. Der Halbbruder des Prinzen war gerade dabei, vom Rücken eines schwarzen Rappen zu steigen. Sanft tätschelte er dem anmutigen Tier den Hals und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr.

„Denkt Ihr, er versteht, was Ihr zu ihm sagt?", erhob Clair das Wort und trat ein wenig näher an das Geschehen heran.

Mit einem überraschten Funkeln in den Augen, wandte Hunter sich ihr zu. „Verzeihung, ich habe Euch gar nicht bemerkt. Ihr scheint den Anmut und die Leichtfüßigkeit einer Katze zu besitzen", meinte er schmunzelnd und griff nach den Zügeln seines Pferdes. Sanft schnaubte das schwarze Tier und weiße Atemwolken stiegen die Luft empor. „Ist mein Bruder denn gar nicht in der Nähe? Oder eine der Zofen?" Eine seiner dunklen Augenbrauen hob sich, während er sich prüfend umsah.

Wie sollte Clair ihm nur erklären, dass sie Theon verärgert hatte und sie deshalb alleine unterwegs war? Das würde sicherlich kein gutes Licht auf sie werfen.

„Oh, er war bei mir, doch er hatte wohl die Zeit vergessen. Euer Vater erwartet ihn allem Anschein nach bei einer wichtigen politischen Unterredung", entschied sie sich dazu, ihm nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Sie faltete ihre Hände und schenkte Hunter ein freundliches Lächeln.

Er nickte. „Das klingt nach meinem Bruder. Er kommt später sicherlich wieder auf Euch zurück. Bis dahin könnte ich Eure Begleitung sein, insofern Ihr nicht von einer der Zofen erwartet werdet."

Clair schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum, dass Theon der Rothaarigen Bescheid gegeben hat. Dafür wirkte er zu sehr in Eile."

„Ihr meint Dottie", nannte er ihr den Namen der jungen Frau, die sie am heutigen Morgen umsorgt hatte und löste damit ein ungutes Gefühl in ihr aus. Clair war so unglücklich gestimmt gewesen, dass sie sich nicht einmal selbst danach erkundigt hatte, wie die ihr zugewiesene Zofe hieß. Wie unhöflich. Im Stillen gelobte sie sich Besserung.

„Wollt Ihr hier warten, während ich ihn in seine Box bringe?" Etwas unruhig begann der schwarze Rappe neben Hunter hin und her zu tänzeln.

„Schon gut, ich begleite Euch gerne nach drinnen. Ich liebe Pferde, müsst Ihr wissen. Schon als kleines Mädchen habe ich es gelernt zu reiten." Clair schenkte ihm erneut ein warmes Lächeln, ehe sie ihm ins Innere der Stallungen folgte. Der Geruch der Reittiere war schon draußen kräftig gewesen, doch hier übermannte er jegliche ihrer Sinne. Die Geräusche von in Stroh scharrenden Hufen, dem Kauen auf Hafer und sanftem Schnaufen drangen an ihr Ohr und ließen sie sich auf der Stelle wohlfühlen.

Eine Erinnerung durchflutete ihren Geist und sie sah sich selbst für die Dauer eines Herzschlags vor ihrem inneren Auge, wie sie in den Stallungen Terosas auf dem Heuboden herumkletterte und versuchte sich vor ihrer herrischen Septa zu verstecken.

Mit einem träumenden Ausdruck auf dem Gesicht, ließ sie ihren Blick umherschweifen und musterte die vielen Pferde, die ihre Köpfe neugierig aus den Fenstern ihrer Boxen streckten.
Sanft fuhr sie mit den Fingern über die Nüstern einer haselnussbraunen Stute mit weißer Mähne und gleichfarbiger Blesse, während sie Hunter dabei beobachtete, wie er das Zaumzeug seines Rappen löste und ihm wiederholt ein paar Worte ins Ohr flüstere. Zu gerne hätte sie gewusst, was es war, das er das anmutigen Tier wissen ließ.
Die Bindung, die die beiden zueinander hatten, hätte wohl selbst ein Blinder nicht leugnen können.

„Ich habe ihn als junger Knabe auf einem Turnier erstanden", erhob Hunter das Wort, als er Clairs wissbegierigen Blick bemerkte. Er verriegelte die Box und lehnte sich dann, die Arme vor der Brust verschränkt, gegen die hölzerne Fassade.

„War er der Preis für einen Eurer Siege?" Für eine gute Geschichte war die junge Prinzessin doch einfach immer zu begeistern. Was gab es Besseres als heldenhafte Erzählungen, die zum Träumen anregten? Interessiert musterte sie Theons Halbbruder, der die Arme vor der Brust verschränkte und auf ihre Frage hin mit dem Kopf schüttelte.

„Ich habe ihn gerettet. Sein ehemaliger Reiter ist Leonard von Augustin, besser bekannt als der Ritter der schwarzen Eulen. Berüchtigt ist er auch heute noch für sein Streben nach den höchsten Rängen auf Turnieren, so würde es mich nicht wundern, solltet auch Ihr schon einmal von ihm gehört haben."

Clair lief es kalt den Rücken hinunter, als sie den Namen des Mannes vernahm, der einstmals im Besitz des schönen Rappen gewesen war. „Man nennt ihn bei uns den Pferdeschlächter." Zwar hatte sie ihn noch nie gesehen, doch die Geschichten über ihn reichten bereits aus, um sich sicher zu sein, dass sie das auch niemals wollte.

Hunter nickte. „Mutträger, so nenne ich ihn, erbrachte an dem damaligen Tag nicht die Leistung, die sich Leonard von ihm erhofft hatte. Doch noch ehe er ihm die Kehle durchtrennen konnte, rannte ein junger Knabe auf den Platz und stellte sich ihm in den Weg."

Die Prinzessin schluckte. „Das wart Ihr." Sie kam nicht um den Gedanken herum, wie leichtsinnig es doch von ihm gewesen war, das zu tun. Spielend leicht hätte der Ritter der schwarzen Eulen seinem Leben ein Ende setzen können, denn um einen Bastard hätte, womöglich bis auf den wahren Elternteil, keine Menschenseele geweint.

„Das bin ich gewesen", bestätigte er ihr nur wenig später. „Ich erinnere mich an die eisig blauen Augen die mich durch das schwarze Visier gemustert haben und ich konnte an dem Blick erkennen, dass er mit der Überlegung spielte, mir den Kopf von den Schultern zu schlagen. Doch er tat es nicht. Stattdessen drückte er mir die Zügel in die Hand und meinte, ich würde schon sehen, wie viel Pech mir dieser Gaul am Ende bringen würde. Wie falsch der doch damit lag."

Ein verschmitztes Grinsen umspielte Hunters Lippen, ehe er wieder ernst wurde. „Mutträger brauchte mich ebenso so sehr, wie ich ihn."

„Eine Geschichte der wahren Freundschaft", murmelte Clair und neigte den Kopf etwas zur Seite, um den Rappen mustern zu können, der sein Maul in der Heuraufe versenkt hatte und entspannt seine wohlverdiente Mahlzeit zu sich nahm.

„Nein. Es ist viel mehr eine Geschichte der wahren Liebe", widersprach Hunter ihr und folgte kurz ihrem Blick, ehe er sich von der Box abstieß.
„Was hat Theon Euch denn bereits alles gezeigt? Gibt es etwas, das Ihr Euch zu sehen wünscht?"

Sofort kam Clair wieder der Gedanke an das bewucherte Tor. Sollte sie es wagen und ihn danach fragen? Sicherlich wusste er, was es damit auf sich hatte. Oder sollte sie so tun, als wüsste sie noch nichts von dem verloren wirkenden Garten?
Dies war ihre Gelegenheit mehr zu diesem Ort zu erfahren. Wenn sie diese nicht ausnutzte, dann würde sie der Lüftung von diesem Geheimnis wahrscheinlich nicht wieder so schnell nahekommen.

„Das Musikzimmer und die Bibliothek sind unbestreitbar wirklich bezaubernd, doch es gibt da tatsächlich etwas, das ich nur zu gerne sehen würde. Wisst Ihr, dass Terosa auch das Land der Blumen genannt wird? Mein Königreich trägt diesen Namen nicht umsonst. Es ist bekannt für die Vielfalt der Flora und Fauna und man sagt sich, es sei im Besitz der wohl schönsten Gärten, die diese Welt zu bieten hat. Ich denke es ist daher nicht verwunderlich, dass ich nur zu gerne einen Blick auf eure Parkanlagen werfen würde, nur um sicherzugehen, dass diese Erzählung auch wirklich der Wahrheit entspricht."

Nicht wirklich wissend, mit welcher Reaktion sie gerechnet hatte, überraschte es sie doch, als sich die Miene ihres Gegenübers mit einem Mal verfinsterte. Ganz so, als hätte sie nicht von wunderschönen Blüten, sondern von grausamen Pferdeschlächtern gesprochen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top