Inmitten eines Unwetters
Clair
Ihr Blick schweifte aus dem Fenster, hin zum Meer, das heute sanftere Wellen warf.
Es schien fast so, als würde die schäumende Gischt versuchen, seiner Betrachterin die dringend benötigte Ruhe zu vermitteln.
Seit dem Überfall waren bereits Tage vergangen, doch vergessen konnte sie das Geschehene nicht.
Wie auch? Die Bilder der sterbenden Männer und des blutbefleckten Sandes, die Geräusche der klirrenden Schwerter und der Geruch des Todes hatten sich tief in ihre Sinne eingebrannt.
An erholsamen Schlaf war seither nicht mehr zu denken. Immer wieder träumte sie davon, nur war der Ausgang der Handlung nie der Realität entsprechend.
Sie hatten überlebt, in ihren nächtlichen Vorstellungen aber starben sie. Erst Theon, der den Bogenschützen übersah und dann sie, als keiner mehr da war, der sie hätte schützen können.
Ihr Köper bebte als die Erinnerungen ihre Gedanken einmal mehr überfluteten.
In ihrem Zimmer hatte sie es nicht länger ausgehalten, weshalb sie sich klammheimlich davongestohlen hatte und in die Bibliothek geflüchtet war.
Theon hatte ihr zu Beginn ihres Aufenthalts erklärt, dass kaum einer sich in den Saal mit den vielen Büchern verirrte, ebenso wenig, wie in das kleine Musikzimmer.
Doch da sie den Schriftwerken mehr zugetan war als den Instrumenten, hatte sie sich als Ort ihrer Zuflucht eben diesen Raum ausgesucht, in dem sie nun auf dem mit Schafsfellen ausgelegten Fenstersims saß und das Meer beobachtete.
Auf ihrem Schoß ruhte mit aufgeschlagenen Seiten eines der literarischen Werke, doch sie hatte es bereits aufgegeben, es aufmerksam zu lesen.
Denn egal wie sehr sie sich angestrengt hatte ihren Fokus vollkommen auf die Worte aus Tinte zu richten, es wollte ihr einfach nicht gelingen.
Immer wieder drifteten ihre Gedanken ab und ließen diese grausamen Bilder vor ihrem geistigen Auge tanzen. Gerne hätte sie diese, so einfach wie eine Seite aus einem Buch, aus ihrem Leben herausgerissen.
Ihre Erinnerungen waren aber kein Stück Papier. Sie waren nichts Materielles, nichts Greifbares und so blieb ihr nur die Möglichkeit, die Geschehnisse als Teil ihres Selbst zu akzeptieren. Sie würde lernen müssen mit ihnen zu leben. Früher oder später.
Der Geruch von Rauch bahnte sich einen Weg in ihre Nase und brachte sie schließlich dazu, den Blick von den Wellen zu lösen.
Sie sah hin zu dem Kerzenleuchter, der dicht neben einem der mit Büchern übersäten Tische stand. Eine der lichtbringenden Wachsformen hatte ihren Dienst quittiert.
Sie seufzte etwas, schlug das Buch auf ihrem Schoß zu und erhob sich vom Fenstersims.
„Alle Dinge sind vergänglich."
Erschrocken zuckte Clair zusammen, als plötzlich eine Stimme durch den Raum schallte. Sie drehte ihren Kopf und erblickte Hunter, der an einem der Regale lehnte und sie mit nachdenklichem Ausdruck auf dem Gesicht betrachtete.
Wie lange hatte er schon dort gestanden und sie beobachtet? Sofort begann sich eine unangenehme Hitze begann in ihrem Inneren auszubreiten. Sie fasste sich an ihr Dekolleté, so als würde diese Berührung ihr dazu verhelfen, sich wieder beruhigen. Das tat sie aber nicht.
„Habt Ihr nichts Besseres zu tun, als zu spionieren?", rügte sie ihn für sein in ihren Augen unsittliches Verhalten, woraufhin er aber nur schmunzelte.
Mit geschmeidig aussehenden Bewegungen, die Clair an die einer Katze erinnerten, trat er auf sie zu. „Ich hätte Euch nach dem Vorfall an der Küste schon früher aufsuchen müssen, aber es wurde mir untersagt. Königin Marianna war davon überzeugt, Ihr bräuchtet Ruhe, um Euch mit der geschehenen Situation abzufinden."
„Ruhe?" So nannte die Herrscherin Bardos dies also? In Wahrheit hatte sie sie weggesperrt, als wäre sie nun eine Gefangene und nicht mehr länger ein Gast. Sie hatte dafür gesorgt, dass sie auf ihrem Gemach versauerte und damit den Eindruck bei Clair erweckt, es wäre sie, die die Schuld an den jüngsten Ereignissen tragen würde. Dabei konnte Clair doch ebenso wenig etwas für das, was sich zugetragen hatte.
„Aber wie ich sehe, habt Ihr es satt, nur auf Eurem Zimmer auszuharren."
Hunter legte seine Hände an den Rücken, musterte er sie weiterhin. In seinen himmelblauen Augen war ein gewisses rebellisches Funkeln zu erkennen. Offenbar amüsierte es ihn, dass Clair sich ohne Erlaubnis aus ihrem Gemach entfernt und in die Bibliothek gestohlen hatte.
„Was wollt Ihr hier? Offenbar habt Ihr mich ja gesucht, sonst wärt Ihr wohl kaum hier aufgetaucht", verlangte sie von ihm zu wissen und beäugte ihn mit kritischem Blick. Theon hätte sie hier erwartet, denn sie wusste immerhin von seiner belesenen Seite und auch davon, dass er diese Räumlichkeiten selbst des Öfteren nutzte, um allem anderen zu entkommen. Aber Hunter teilte diese Leidenschaft nicht mit seinem Halbbruder, das hatte er ihr bei einem ihrer Treffen gestanden.
„Ihr habt Recht. Meine Welt sind die Pferde im Stall und nicht die Bücher in diesem Saal", bestätigte er ihren Verdacht nicht nur durch Zufall hier aufgekreuzt zu sein.
„Mein Vater ließ mich nach Euch schicken. Er und seine Gemahlin haben Euch etwas mitzuteilen."
Und dazu schickten sie ihn und nicht Theon, oder gar Dottie? Clair schluckte, denn sofort machte sich das Gefühl in ihr breit, dass sich erneut Änderungen anbahnten.
Als hätte der Dunkelhaarige ihre Gedanken gelesen, erhob er ein weiteres Mal die Stimme, ehe er ihr den Arm anbot: „Mein Bruder erwartet Euch ebenfalls. Er war noch in einer Unterredung mit dem Königspaar, als ich losgeschickt worden bin, um Euch zu suchen."
Er machte eine kurze Pause.
„Nun ... um ehrlich zu sein, hatte ich mich dafür angeboten, nachdem Unruhe aufgekommen war und die Königin bereits die Soldaten die Räumlichkeiten des Palastes nach Euch hatte absuchen lassen wollen. Ich hatte da meine Vermutungen, wo Ihr Euch herumtreiben könntet."
Clair legte ihre Finger auf seinen Unterarm, ließ sich von ihm mit flauem Magen aus der Bibliothek und anschließend in Richtung Thronsaal führen. Würde sie Ärger bekommen, da sie nicht auf ihrem Gemach geblieben war?
Mit jedem weiteren Schritt, der sie ihrem Ziel näherbrachte, wurde die Prinzessin zunehmend nervöser.
Sie umklammerte Hunters Arm, als wäre dieser ihr sicherer Anker, der sie vor dem Sturm bewahren würde.
Doch sie hatte die Hoffnung auf Rettung wohl in den Falschen gelegt, denn vor der Tür, die sie direkt in das Unwetter hineinführen würde, blieb er stehen und löste ihre Griff.
Sie wollte ihn fragen, ob er sie nicht nach drinnen begleiten konnte, doch er erhob die Stimme, noch bevor sich ein Wort ihren Lippen entrang: „Ich mag gut genug für die Königin sein, um Euch zu suchen und zu ihr zu bringen, aber deshalb bin ich noch lange nicht hinter dieser Tür erwünscht."
Clair schluckte, atmete tief durch und glättete mittels hektischer Bewegungen ihr recht eng anliegendes weißes Kleid.
„Keine Sorge, Ihr seht wie immer bezaubernd aus. Versucht nur etwas weniger wie ein verängstigtes Rehkitz dreinzublicken. Ich konnte das Feuer in Euren Augen bereits lodern sehen und weiß, dass in Eurem Inneren eine starke, selbstbewusste, junge Frau schlummert. Lasst Euch nicht von der Königin, oder von meinem Vater in Eurer Autorität untergraben. Ihr seid die Prinzessin eines der mächtigsten Königreiche des Landes und genau das solltet Ihr auch verkörpern ", sprach Hunter ihr aufbauende Worte zu, als er merkte, wie nervös sie war.
Sie sah auf, begegnete seinen Seelenfenstern, die ihr in diesem Moment genau die Art von Ruhe vermittelten, die sie brauchte.
Geräuschvoll atmete sie durch, ehe sie nickte und sich der Tür des Saals zuwandte.
Lass dich nicht in deiner Autorität untergraben.
Erhobenen Hauptes betrat sie die Räumlichkeit und mit geradem Rücken schritt sie auf Königin Marianna und König Hagen zu.
Theon stand neben seinem Vater, die Hände an den Rücken gelegt. Nur flüchtig huschte Clairs Blick zu ihm, doch die kurze Dauer genügte, um festzustellen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
Von Beginn an war der Prinz beinahe immer wie ein offenes Buch zu lesen gewesen, so auch heute.
Vor Nervosität zuckten seine Mundwinkel.
„Wo seid Ihr gewesen?", verlangte Marianna zu wissen, sobald Clair vor ihnen zum Stehen kam und sich angemessen vor ihnen verbeugte.
Ich bin die Prinzessin eines der mächtigsten Königreiche und das sollte ich auch verkörpern.
Selbstbewusst reckte Clair ihr Kinn in die Höhe, platzierte ihre Arme in aller Ruhe vor ihrem Körper. „Ich habe es mir herausgenommen, mich in Eurer Bibliothek zu beschäftigen. Die Zeit auf meinem Gemach zu verbringen, wurde nach und nach ermüdend. Und Ihr wollt doch nicht, dass ich mich hier zu Tode langweile, nicht wahr? Das war immerhin nicht das, was meine Eltern vorgesehen hatten, als sie mich hier ließen."
„Wir hatten veranlasst, dass Ihr auf Eurem Gemach verweilt, bis die Angelegenheiten geklärt sind. Das war eine Regel und es schickt sich nicht für junge Damen Eures Standes, solche zu brechen. Ihr seid hier Gast und solltet Euch dementsprechend höflich und respektvoll verhalten", donnerte die Stimme des Königs durch den Saal und für einen kurzen Moment erinnerte er Clair an ihren eigenen Vater.
„In Terosa geht man anders mit seinen Gästen um", feuerte Clair augenblicklich zurück. Ihre grünen Augen funkelten herausfordernd. Sie war bereit, für ihre Rechte einzutreten. „Man lässt sie nicht in einem einzigen Raum versauern und nur hin und wieder durch eine Zofe betreuen."
Noch ehe Hagen oder Marinna ihr eine Antwort geben und somit ihrem indirekten Protest entgegensteuern konnten, erhob Theon die Stimme: „Haben wir uns nun etwa hier versammelt, um uns gegenseitig Vorwürfe zu machen? Ich maße mir an zu erwähnen, dass es Dringlicheres zu besprechen gibt."
Clairs Blick richtete sich auf den blonden Thronerben und ein Stich durchzuckte ihr junges Herz.
Auch er hatte sie nach dem Vorfall einfach alleine gelassen, hatte sich nicht für sie eingesetzt und das obwohl er durchaus wusste, dass sie nichts für den Überfall konnte. Es war nicht ihre Schuld gewesen, was da geschehen war. Wieso also behandelte auch er sie, als wäre sie diejenige, die dafür verantwortlich war?
An der Küste waren sie sich so nahe gekommen, doch nun wirkte es, als wären all die Emotionen, die sich in jenem Moment zwischen ihnen aufgebaut hatten, nur Illusion gewesen.
„Wir kamen nicht darum herum, Euren Eltern von dem Vorfall zu berichten", griff der König nach einer Minute des Schweigens die Hauptthematik dieses Gesprächs auf und lenkte somit Clairs Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „Sie baten uns darum, Eure Rückreise nach Terosa zu organisieren, da es ihnen erscheint, als wärt Ihr hier nicht sicher genug. Die rothaarige junge Zofe packt deshalb in eben diesem Augenblick all Eure Eigentümer zusammen."
Nicht wissend wie ihr geschah, setzte Clairs Atmung einen Moment lang aus.
War das wirklich wahr? Sie durfte nach Terosa zurückkehren? Zurück nachhause? In das von ihr geliebte Reich mit den vielen Wildblumen, das nur so vor Wärme, Helligkeit und Liebe sprühte?
Für die Dauer mehrerer Wochen, hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als genau das.
Sie hatte sich hier, hinter den dunkeln Mauern, die so viele Geheimnisse zu beherbergen schienen, unwohl und zu guter letzt auch nicht mehr sicher gefühlt.
Freude erfüllte ihre Brust. Allerdings nur für wenige Sekunden.
Als ihre Augen Theons begegneten, verflog das Gefühl der Glückseligkeit so schnell, wie eine Feder, die vom Wind eines Sturms davongetragen wurde.
Waren das Schmerz und Bedauern, die sich da in den Tiefen seiner ozeangleichen Iriden spiegelten?
Wenn er der Tatsache ihrer Abreise so untröstlich gegenübertrat, weshalb hatte er Clairs Anwesenheit dann die letzten Tage so vehement gemieden?
Wieso hatte er ihr nicht gezeigt, was ihm an ihr lag?
Theon stieg von dem Sockel hinunter, trat ihr gegenüber.
Tief atmete sie seinen Geruch von feuchtem Sand und Tannennadeln ein, der ihr seit ihrem beinahe-Kuss wohl bekannt war.
Wie ein unterwürfiger Hund sah sie zu ihm auf, mit Augen so groß wie Monde.
Im Stillen hoffte sie, er würde sie darum bitten, sich dem Wunsch ihrer beider Eltern zu widersetzen und bei ihm zu bleiben, um sie besser kennenzulernen und sie am Ende zu seiner Frau zu nehmen, so wie es von Anfang an vorherbestimmt gewesen war.
Doch das tat er nicht. Stattdessen bot er ihr seinen Arm an. „Lasst mich Euch zur Kutsche geleiten und Euch gebührend im Namen meines Königreiches und meiner Eltern verabschieden."
Das sollte es also wirklich gewesen sein? Sie würde nachhause zurückkehren und die geplante Allianz, zwischen Terosa und Bardo, würde niemals in die Realität umgesetzt werden?
Etwas in ihr weigerte sich dem einfach so zuzustimmen. Da war etwas zwischen ihr und Theon gewesen. Es hatte sich etwas entwickelt. Etwas, das sie nur ungern einfach so aufgeben wollte.
Und doch widersprach sie nicht.
Mit zittrigen Händen ergriff sie seinen Arm.
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