Ein letztes Mal

Dottie

Unruhig tigerte sie vor dem Gemach des Königs auf und ab, das Stück Papier hielt sie fest in ihrer Hand.
Sie hatte ihn am vorherigen Abend nicht erwischt, weshalb sie die letzte Nacht und auch den Tag versteckt bei Levin im Stall verbracht hatte. Man hatte sie suchen lassen und sie war sich beinahe sicher, dass es daran lag, dass die Königin wusste, dass sie ihr kleines Geheimnis entdeckt hatte und nicht daran, dass sie am Morgen nicht aufgetaucht war, um ihr beim Einkleiden zu helfen.

Als sie Schritte hörte, erstarrte sie in ihrer Bewegung und sah in die Richtung, aus der sich ihr jemand näherte.
Ihr Atem ging augenblicklich schneller, als sie den Mann erblickte, auf den sie gewartet hatte. Doch er war nicht allein. Zwei Wachmänner flankierten seine Seiten.
Als er Dottie erkannte, hoben sich seine, zum Teil ergrauten, Augenbrauen. „Wo wart Ihr den ganzen Tag?", verlangte er zu wissen. Natürlich hatte ihm seine Gemahlin davon berichtet, dass ihre Zofe nicht auffindbar gewesen war.

Sie schluckte, presste den Brief fest an ihre Brust als fürchtete sie, er würde ihn ihr einfach achtlos entreißen.
Sobald er vor ihr zum Stehen kam, bemerkte er das Papier, das sie wie einen Schatz zu hüten versuchte.
Auch die Männer in Rüstung hielten inne, verharrten an der Seite ihres Herren.

„Nicht ... nicht hier", stammelte Dottie nervös, zitterte dabei wie Espenlaub. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. Was, wenn er ihr nicht glauben würde und annahm, dass sie log? Was, wenn er dachte, sie hätte den Brief selbst geschrieben? Sie begann daran zu zweifeln, ob sie wirklich das Richtige tat. Am Ende würde sie im Kerker landen und Theon und Hunter ...

„Was meint Ihr mit nicht hier?", raunte der König. Er schien nicht zu begreifen, was sie von ihm wollte.

Erneut schluckte sie gegen ihre Nervosität an, ehe sie die nächsten Worte zwischen ihren Lippen hervorpresste: „Ich erbitte ein Gespräch ... ein Gespräch unter vier Augen." Kläglich scheiterte sie bei dem Versuch, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Die Stirn ihres Gegenübers legte sich in Falten. „Denkt Ihr wirklich, ich wäre so naiv mich alleine in einen Raum mit Euch zu begeben? Derzeit kann ich niemandem am Hofe vertrauen. Wer verspricht mir, dass Ihr mir nicht hinterrücks einen Dolch in die Brust jagt?"

Dottie konnte seine Bedenken verstehen, doch sie konnte ihm unmöglich hier auf dem offenen Flur diesen Brief überreichen. Unruhig sah sie die zwei Wachmänner an, blickte dem König dann wieder ins Gesicht. „Ich bitte Euch, Majestät. Was soll eine Frau meiner Statur schon gegen Euch ausrichten? Ich versichere Euch, ich hege keinerlei böse Absichten. Ich will nur ... dieses Schreiben ..."

„Nun spuckt es schon aus!", herrschte er sie an. Sein Gesicht färbte sich vor Ungeduld bereits leicht rot.

„Es geht um ... um Eure Söhne." Das letzte Wort war nicht mehr, als ein Flüstern.

Es dauerte einen kurzen Moment, ehe das von ihr Gesagte in sein Bewusstsein zu sickern schien. Als er es endlich begriff, befahl er den beiden Männern mittels eines Handzeichens sich vor seinem Gemach zu positionieren. Anschließend deutete er Dottie, ihm ins Innere zu folgen. Sie kam dem unverzüglich nach.

Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Eine unangenehme Stille breitete sich um sie herum aus, während sie den König dabei beobachtete, wie er zu einem Tisch aus Eichenholz hinüber schritt und sich auf dem, mit Samt überzogenen, Stuhl niederließ.   
Er faltete die Hände und stützte die Ellenbogen auf der Platte auf. Sein Blick bohrte sich in ihren und brachte sie dazu, erneut zu schlucken.

„Es ist unhöflich einen Mann warten zu lassen, besonders dann, wenn es sich bei diesem um den König handelt", raunte er und holte sie damit aus ihrer Art Trance.

Zögerlich lief sie auf ihn zu und überreichte ihm den Brief, trat dann wieder ein paar Schritte zurück und gab ihm die Zeit zu lesen. Dabei beobachtete sie genauestens seine Mimik, die ihr zu ihrem Bedauern keinerlei Auskunft darüber gab, was er in diesem Moment fühlte oder dachte. Seine Gesichtszüge blieben hart wie Stein.

Als er jedes der Worte genauestens studiert hatte, legte er das Schreiben zur Seite und seine dunklen Augen bohrten sich erneut in ihre helle Haut.
Wartete er darauf, dass sie etwas sagte? Sich erklärte? Dottie richtete den Blick auf ihre Füße. „Ich ... ich bin mir durchaus bewusst, Majestät, dass ... dass dies nun makaber klingen wird, aber ... aber ich fand diese Botschaft ... sie ..."

Erneut verlor der König seine Geduld und jegliche Ruhe entwich ihm. Seine Faust donnerte mit einer ohrenbetäubenden Lautstärke auf den Tisch und er brüllte schon fast: „Habt Ihr Eure Zunge verschluckt?! Wenn nicht, dann kann ich dem gerne Nachhilfe leisten!"

Sie zuckte zusammen, wohlwissend, dass er seine Drohung in die Tat umsetzen konnte und es auch tun würde, sollte sie sich nicht endlich zusammenreißen und es einfach laut aussprechen. „Ich habe den Brief unter der Matratze der Königin gefunden."

Erneut legte sich Stille über den Raum und die Stimmung wirkte mit einem Mal erdrückender, als die auf einer Beerdigung. Nur zögerlich hob Dottie den Blick, um sehen zu können was vor sich ging.

Ihr Gegenüber starrte sie an, schien völlig in Gedanken versunken. Sie wagte es nicht auch nur ein weiteres Wort zu sagen, sondern wartete mit vor Nervosität kribbelnder Haut darauf, dass der König sich von selbst wieder zu rühren begann.
Und dies tat er schließlich auch, erhob sich von seinem Stuhl und machte einige Schritte auf sie zu.
Fünf bedrohlich wirkende Schritte, bis er nur wenige Zentimeter vor ihr zum Stehen kam. Sein heißer Atem streifte ihre Wangen und sie atmete den Geruch von Bier und Weihrauch ein, der ihm anhaftete und ihr verriet, dass er vor ihrer Unterhaltung zunächst getrunken und anschließend die Kapelle aufgesucht haben musste. Hatte er für die Rückkehr seiner Söhne gebetet?

Dottie traute sich nicht, ihm direkt in seine Augen zu sehen aus Angst darin Unglauben und Zorn zu erkennen, aber er zwang sie dazu. Grob legten sich seine Finger um ihr Kinn, seine Nägel gruben sich dabei in ihr Fleisch. Er hob ihr Gesicht an, suchte den Kontakt zu ihren Seelenfenstern und schien dabei tief in ihr Innerstes zu blicken.
„Sagt mir, dass Ihr lügt!", zischte er, erinnerte sie dabei an eine gefährliche Giftschlange, die sich vor ihr aufbaute und kurz davor war, ihre spitzen Eckzähne in ihre weiche Haut zu schlagen.

Wie so oft in den letzten Minuten musste sie auch jetzt schlucken. Wie gerne hätte sie sich doch aus seinem unsanften Griff befreit, wäre davon gerannt und hätte sich wieder bei Levin in den Stallungen versteckt. Sie hatte Angst er könnte ihr wirklich nicht glauben, würde sie nach ihrem Gespräch in Ketten legen und ihre letzten Tage im Kerker fristen lassen.
„Ich ... ich wünschte, es wäre so, Majestät", stammelte sie leise, aus Furcht quietschend, wie eine Maus, die in der Falle saß. Eine Falle, in die sie sich selbst hinein manövriert hatte.

Er stieß ihr Gesicht zur Seite als er von ihr abließ, schnaufte gereizt und begann dann vor ihr auf- und abzulaufen.
Kaum hörbar murmelte er dabei Worte vor sich hin, legte die Hände an den Rücken und beugte den Oberkörper leicht nach vorne.

„Seit wann seid Ihr im Besitz dieses Briefes?", wollte er nach einigen weiteren vergangenen Augenblicken wissen, klang dabei wieder so ruhig, wie noch vor dem Lesen des Schreibens.
Offenbar hatte er sich nun wieder unter Kontrolle.

„Seit gestern, Majestät", antwortete sie ihm wahrheitsgemäß.

„Und weshalb kommt Ihr erst jetzt damit zu mir?" Er bemühte sich weiterhin Gelassenheit zu bewahren. Sie sah ihm an den zuckenden Fältchen um seine Augen herum an, dass ihm dies schwerfiel.

„Ich habe Euch gestern nicht angetroffen und ich ... ich wollte Eurer Gemahlin nicht über den Weg laufen", versuchte sie sich zu erklären.

Er nickte, als würde er tatsächlich verstehen in welch heikler Situation sie sich befand. Erneut schwieg er für einige Momente, ehe er die Worte sprach, die in Dotties Ohren einer Erlösung gleichkamen: „Ich glaube Euch."

Sie konnte nicht anders als erleichtert aufzuatmen. Es war kein Geheimnis, dass die Königin Theons Halbbruder hasste, doch dass er ihr so einfach seinen Glauben zugestehen würde, hatte sie nicht erwartet. Immerhin handelte es sich hierbei noch immer um seine Frau, die er den Erzählungen nach einst wirklich geliebt und verehrt hatte, bevor die Tochter verschwunden, sie in ihrem Kummer ertrunken war und er sich dem weichen Schoß einer Mätresse hingegeben hatte.
Seither diente ihre Ehe nur noch dem Zweck, das Land zusammenzuhalten und ein gutes Bild nach außen hin abzugeben. Etwas, das Dottie traurig stimmte. Sie wollte es sich nicht vorstellen, wie es war, nicht mehr aus wahrhaftiger Liebe zusammen zu sein, sondern nur, weil man ein Gelübde vor Gott abgelegt hatte, das unwiderruflich war.

Der König fuhr sich mit der flachen Hand durch sein Gesicht, wandte sich dem Fenster zu, das auf die Wälder zeigte. „Ihr könnt Euch sicherlich ausmalen, in welcher Gefahr Ihr nun schwebt. Ich bin mir sicher, meine Gemahlin hat das Fehlen des Briefes bereits bemerkt."

Die Erleichterung, die Dottie während der letzten vergangenen Minuten in sich gespürt hatte, wich erneut der Angst. Ja, das war ihr bewusst.

„Ich kann nicht länger warten und muss handeln", fuhr er fort, ohne auf eine Antwort der Zofe zu warten. Seine Stimme klang mit einem Mal brüchig. Dottie bildete sich sogar ein, einen Schluchzer zu vernehmen.
Weinte er?
Eine schreckliche Vorahnung machte sich in ihr breit. Hatte er Hunters Kopf bereits erhalten? Hatte sie den Brief zu spät gefunden, oder ihn zu lange bei sich behalten?

„Ihr müsst verschwinden und das noch heute Nacht. Ich werde zwei meiner Männer mit Euch schicken, die Euch in die Hafenstadt Havneby geleiten werden. Dort ...", seine Hand glitt in die Tasche seines Wams, zog einen grünen Stoffbeutel daraus hervor, der klimperte, als er ihn ihr zuwarf, ohne ihr dabei direkt sein Gesicht zuzuwenden, „ ... sucht Ihr das Schiff, das den Namen Styernelys trägt und sagt seinem Kapitän, dass Ihr auf mein Geheiß hin verlangt, mit ihnen über das Meer zu setzen und in Vågsøy von Bord zu gehen. Dort könnt Ihr einen Neuanfang wagen. Keiner wird Euch dort kennen und meine Gemahlin wird sicherlich nicht auf die Idee kommen, Euch bis in die Nordländer verfolgen zu lassen."

Dottie stockte der Atem. Zum einen war sie erleichtert, dass der König so schnell einen Plan parat hatte sie in Sicherheit zu bringen, doch zeitgleich fürchtete sie sich vor dem, was auf sie zukam.
Noch nie war sie über den Ozean gesegelt, hatte noch nie die Länder im Norden gesehen. Sie hatte von Vågsøy gehört, einer Insel, die von Fischfang lebte, in der man eine fremde Sprache nutzte und andere Traditionen verfolgte. Alles in ihr sträubte sich dagegen zu gehen, aber ihr war bewusst, dass ihr keine Wahl blieb, wenn sie am Leben bleiben wollte.

„D...danke, Majestät", brachte sie ihm also stotternd ihre Zustimmung entgegen, während sie den Stoffbeutel in ihrer Hand betrachtete. Er war schwer, was darauf hindeutete, dass er reichlich mit Gold- und Silbermünzen gefüllt war.

„Geht nun, packt Euer weniges Hab und Gut zusammen und wartet dann bei den Stallungen auf meine Männer", wies er sie an.

Sie nickte, verneigte sich, auch wenn er sie nicht ansah und schritt auf die Tür zu. Bevor sie allerdings das Zimmer verließ, hörte sie ihn noch leise nachsetzen: „Ich danke Euch."

Ein letztes Mal in ihrem Leben durchquerte sie die langen Flure des Palastes, betrat ein letztes Mal ihre kleine Kammer und öffnete ein letztes Mal ihren Kleiderschrank, um die wenige Kleidung daraus zu entnehmen und diese in einen Sack zu packen.
Dazu legte sie die einzigen zwei Stücke, die sie an ihre Vergangenheit erinnerten, an ihr Dasein, ehe sie als Zofe auf dem Hofe eingekehrt war - das kleine Gemälde aus schwarzer Tinte, das eine Taube darstellte und den Haarschmuck aus braunen Rebhuhnfedern.
Fest presste sie beides für einige Herzschläge lang an ihre Brust, sog den Geruch nach Thymian in sich auf, der, wenn auch nur noch ganz schwach, noch immer an den alten Geschenken haftete. Ihre kleine Schwester hatte das Bild für sie gezeichnet und es ihr an dem Tag gegeben, an dem sie ihr Heim für immer verlassen hatte. Und ihr Bruder hatte ihr das Kleinod aus Federn geknüpft.
 
Stets hatte sie daran festgehalten ihre Familie eines Tages wiederzusehen, doch nun wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie dies niemals mehr würde.

Ihr blieb keine Zeit weiter in Erinnerungen zu schwelgen. Sie beeilte sie sich die Stallungen zu erreichen, stolperte dabei immer wieder über ihre eigenen Füße.
Die beiden versprochenen Männer warteten bereits zu Pferd auf sie, hielten ein drittes Reittier für sie bereit.
Unsicher schwang sie sich auf den Rücken der cremefarbenen Stute, deren Fell im hellen Licht des Vollmonds wie flüssiges Silber glänzte.

Das Tor wurde ihnen geöffnet und sie passierten es.
Dottie warf einen letzten Blick über ihre Schultern, betrachtete ein letztes Mal die Mauern des Palastes, ehe sie sich ihrem Neubeginn zuwandte und ihre Vergangenheit ein für allemal hinter sich ließ.

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