Der Mörder trug den Namen Naivität
Theon
Die Geschehnisse überschlugen sich, sodass er anfangs gar nicht in der Lage war zu realisieren, was gerade um ihn herum passierte.
Noch immer spürte er das fremde, warme Blut auf seinem Gesicht, während sein eigenes ihm so laut in den Ohren rauschte, dass er all die anderen Geräusche nur noch gedämpft wahrnahm.
Vor seinen Augen spielte sich alles in Zeitlupe ab. Er fühlte sich wie in Trance, gefangen in einem Traum.
Doch er schlief nicht. Das wurde ihm bewusst, als jemand hektisch an seinem Arm rüttelte, um ihn ins Hier und Jetzt zurückzuholen.
Langsam wandte er der Person den Kopf zu, blinzelte Hunter entgegen, der ihm Worte zubrüllte. So schien es zumindest, denn Theon sah, wie sich seine Lippen bewegten.
Die ohrenbetäubende Lautstärke verschluckte jedoch jeden seinen Sätze.
Wieso lebt er noch? Was ist geschehen?
Der Prinz fühlte sich wie gelähmt. Als wären seine Füße in Schichten aus Beton eingemauert, bewegte er sich keinen Millimeter, auch wenn sein Halbbruder immer kräftiger an ihm zerrte.
Wessen Blut habe ich in meinem Gesicht, wenn es nicht seines ist?
Er ließ seinen Blick suchend umher wandern, blendete Hunter für einen Augenblick aus.
Und da sah er sie - Flora lag unweit von ihnen auf dem kalten Boden. Regungslos. Über sie gebeugt Elody, die sich den Bauch hielt. Roter Lebenssaft klebte an ihrer einen Hand, die sie auf ihre Wunde presste, mit der anderen hielt sie den Griff des Dolchs umklammert, den sie Flora in die Brust gerammt hatte.
Erst als er dieses Bild erblickte, begann er sich an das zu erinnern, was passiert war.
Flora hatte sich auf Elody gestürzt, als diese im Begriff gewesen war, Hunters Leben zu beenden. Das Blut, das in seinem Gesicht klebte, das stammte von seiner Schwester.
Der Kampf hatte nicht lange angedauert, da die ehemalige Zofe einfach zu unerfahren war. So hatte Elody schnell die Oberhand gewonnen und ihre Angreiferin niedergestreckt.
Nur eine Sekunde später war das restliche Chaos ausgebrochen, in dessen Mitte er sich noch immer befand.
Männer in Rüstung waren in die Siedlung eingefallen und hatten das Gemetzel mit den Rebellen losgetreten.
„Theon! Verflucht nochmal! Beweg endlich deinen Arsch!" Mittlerweile war Hunter seinen Ohren so nah gekommen, dass er ihn verstehen konnte.
„Wir müssen hier weg!", entgegnete Theon ihm, fand das Gefühl in seinen Beinen wieder und machte sich daran, so schnell wie möglich von der Mitte der Siedlung zu kommen.
Gemeinsam mit seinem Halbbruder flüchtete er sich an den Rand des Geschehens, presste sich an die Wand einer Hütte.
„Waffen! Wir brauchen Waffen!", rief ihm der Jüngere zu, was er mit einem Nicken quittierte. Ohne ein gutes Schwert, oder zumindest einen Dolch in der Hand, waren sie in diesem Durcheinander verloren.
Theon versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, deutete dann auf zwei tote Männer, die nicht weit von ihnen entfernt auf dem blutrot gefärbten Untergrund lagen.
Hunter und er jagten zu ihnen hinüber und nahmen deren Waffen, die sie nun ohnehin nicht mehr brauchten, an sich.
Kaum hatte Theon den Griff des Zweihänders zwischen den Fingern, kam auch schon einer der Rebellen geradewegs und mit erhobenem Schwert in der Hand auf ihn zu gerannt. „Für die Rebellion!", brüllte er, ehe er versuchte Theon mit einem Hieb zu durchlöchern.
Dieser war schneller, parierte den Angriff und holte dann selbst aus, ließ seine Klinge über die Flanke des hochgewachsenen Mannes streifen, der daraufhin schreiend zu Boden ging.
Wohlwissend, dass ihm keine andere Wahl blieb, beendete Theon das Leben des auf der Erde Knieenden, da dieser ihm sicherlich bei nächster Gelegenheit das Schwert in den Rücken gerammt hätte. Er durfte keine Gnade zeigen. Nicht hier. Nicht mitten auf dem Schlachtfeld.
Nachdem der Angreifer in sich zusammengesackt war, sah er sich nach Hunter um, der von ihm getrennt worden war. Er entdeckte ihn in etwas Entfernung, beobachtete wie er einem der königlichen Ritter zur Hilfe eilte und dann Seite an Seite mit diesem mehrere Rebellen ins Jenseits beförderte.
Kurz trafen sich die Blicke der beiden Halbbrüder, ehe sie sich zunickten und einander mit dieser Geste versicherten, dass sie zurechtkommen würden.
Möge Gott mit uns sein und uns im Kampfe schützen.
Der nächste Gedanke, der seinen Kopf durchwanderte, war der an Elody.
Auf der Suche nach ihr begab er sich erneut in die Mitte des Schlachtfelds, lieferte sich mit dem ein oder anderen Rebellen ein Gefecht.
Doch aus jedem von diesem, ging er als Gewinner hervor.
Blut klebte ihm im Gesicht, in den Haaren und an den Händen. Der Geruch von Schweiß und Tod kroch ihm in die Nase.
Sein Herz hämmerte ihm gegen seine Brust und ein belebendes Gefühl rauschte durch seine Venen.
Schließlich bemerkte er aus dem Augenwinkel das schimmernd weiße Haar seiner Schwester, das an manchen Stellen tiefrot gefärbt war.
Trotz ihrer Bauchwunde hielt sie sich auf den Beinen und dachte gar nicht daran aufzugeben.
Brüllend streckte sie einen der Ritter nieder, hatte danach keine Sekunde zum Verschnaufen, ehe sich zwei weitere auf sie stürzten.
Theon zögerte. Sollte er ihr helfen, oder sie einfach dem Pfad ihres Schicksals überlassen, für den sie sich eigenhändig entschieden hatte?
In den vergangenen Tagen hatte sie ihm bewiesen, dass sie sich verändert hatte und das nicht zum Guten. Sie hätte seinen Tod ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf genommen.
Und doch rührte sich da eine Stimme ganz tief in seinem Inneren und wies ihn darauf hin, dass sie noch immer Teil seiner Familie war.
Das Bild von ihrem kindlichen Gesicht, mit den vor Unschuld strahlenden, blauen Augen drängte sich in seine Erinnerung.
Er dachte an jene Momente, in denen sie gemeinsam durch die Gärten getobt waren und den Bäckerinnen in der Küche die köstlichen Kirschtörtchen gestohlen hatten. Wie Elody träumend in die Wolken gesehen, während er ihr vorgelesen hatte und wie sie ihm Blumenkronen aus Veilchen gebastelt und anschließend von ihm verlangt hatte so zu tun, als wäre er ihr zukünftiger Prinz, in den sie sich unsterblich verliebte.
Elody hatte Dinge getan, die er ihr niemals würde verzeihen können. Aber trotz allem war und blieb sie seine kleine Schwester.
Seine kleine Schwester, der er einst geschworen hatte, sie vor allem Bösen zu beschützen.
Nachdem er den nächsten Rebellen besiegt hatte, beeilte er sich an ihre Seite zu kommen.
Ungläubig musterte sie ihn, als er den angreifenden Ritter von ihr stieß und ihn anbrüllte, er solle im Namen des Königs von ihr ablassen und verschwinden.
Drohend hob er dabei sein Schwert in die Höhe, bereit es gegen seinen eigenen Mann zu richten, sollte er seiner Aufforderung nicht nachkommen.
Dieser haderte allerdings nicht lange mit sich, sondern suchte das Weite.
Erst nachdem sich Theon sicher war, dass ihnen ein wenig Zeit blieb, wandte er sich Elody zu und reichte ihr die Hand.
Sie verzog das Gesicht, öffnete den Mund, um ihm giftige Worte entgegenzuspucken, doch ehe sie das tun konnte rief er ihr zu: „Komm mit mir, oder stirb auf diesem Schlachtfeld!"
Er konnte ihr ansehen, dass sie mit sich selbst rang. Einerseits wollte sie keine Schwäche zeigen und sich vom Feind, der er in ihren Augen ja noch immer war, helfen lassen, doch anderseits fühlte sie sich offenbar auch noch nicht bereit diese Welt am heutigen Tag hinter sich zu lassen.
So ergriff sie nach ein paar weiteren verstrichenen Sekunden seine Hand und ließ sich von ihm an den Rand des Geschehens bringen.
Im Schatten einer Hütte verborgen sank sie auf die Knie, lehnte sich an die Wand in ihrem Rücken und zog das Hemd hoch, um sich ihre Wunde anzusehen.
Fluchend knirschte sie mit den Zähnen als sie sah, wie tief diese ging und presste das bereits mit Blut durchtränkte Stück Stoff wieder darauf.
Theon wusste genauso gut wie sie, dass sie die Hilfe eines Arztes brauchte, wenn sie überleben wollte.
Die Verletzung musste gereinigt werden und anschließend genäht, sonst bestand die Gefahr, einer todbringenden Infektion. Wenn sie nicht zuvor bereits verblutete.
„Wieso?", zischte sie, atmete dabei schwer. „Wieso hilft du mir, nach allem was ich dir angetan habe? Ich wollte dich töten, Theon. Dich und deine gesamte Familie und deine Liebe." Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es noch immer nicht glauben, dass er sie tatsächlich in Sicherheit gebracht hatte.
Zumindest vorerst. Denn so lange der Kampf noch immer wütete, waren sie nicht außer Gefahr.
„Du bist meine Schwester", antwortete er ihr, wandte den Blick von ihr ab und ließ ihn prüfend über die Umgebung schweifen, um sicherzugehen, dass kein Rebelle und auch kein Soldat im Inbegriff war, direkt auf sie zu zusteuern.
Ein heiseres Lachen ihrerseits drang an seine Ohren, sobald er das Schwert anhob.
Bone hatte sie entdeckt und vermutete seine Anführerin offenbar in Fährnis.
Schnell wehrte er seinen derzeitigen Gegner ab, bohrte ihm seinen Dolch ins Auge und rannte dann direkt auf Theon und Elody zu.
In seinen dunklen Augen loderte ein Feuer, das dem jungen Prinzen einen Schauder über den Rücken jagte.
Der Wolfsmann erreichte ihn in Windeseile und schneller als Theon hätte reagieren können, rammte er ihn mit voller Wucht, sodass er das Gleichgewicht verlor und nach hinten in die Wand der Hütte krachte.
Dabei glitt ihm das Schwert aus den Händen.
Panisch versuchte Theon den Griff wieder gepackt zu bekommen, doch Bone ließ ihm keine Gelegenheit dazu. Er packte ihn am Kragen und begann mit der Faust auf sein Gesicht einzuschlagen.
Ein Schmerz durchfuhr seinen gesamten Körper. Er spürte seine Nase brechen, seine Lippen und die Haut über seinen Augenbrauen aufplatzen.
„Sag ihm, dass er aufhören soll!", brüllte er Elody verzweifelt zu, versuchte dabei den Hieben des anderen auszuweichen, die so unaufhörlich wie Regentropfen auf ihn niederprasselten und ihm zunehmend das Bewusstsein raubten. Schwarze Punkte tanzten bereits vor seinem Sichtfeld.
Anders als erwartet, kam seine Schwester ihm auch dieses Mal nicht zu Hilfe. Tatenlos sah sie ihrem Handlanger dabei zu, wie er den Teufel aus ihrem Bruder prügelte.
Theon konnte beinahe nur noch Schwarz erkennen, als das Ganze abrupt ein Ende fand.
Jemand riss Bone von ihm weg.
Benommen rollte der Prinz über den Boden, kniff die Augen zusammen und stöhnte vor Schmerzen.
Er brauchte einen Moment, ehe er die Kraft fand, sich sein eigenes Blut aus dem Gesicht zu wischen und sich langsam aufzusetzen. Die Welt um ihn herum drehte sich.
Er tastete den Boden nach seinem Schwert ab und hob es an, als er es zu fassen bekam. Schwankend rappelte er sich auf, wohlwissend, dass ein Mann, der auf der Erde lag, ein toter Mann war. Und noch war er nicht bereit zu sterben. Nicht heute.
Blinzelnd sah er sich um und versuchte die verschwommene Sicht zu klären, was ihm erst nach ein paar weiteren Atemzügen glückte.
Da erkannte er auch, wer ihm sein Leben gerettet hatte.
Hunter lieferte sich nun einen Kampf mit Bone. Der Wolfsmann war schnell, doch Theons Halbbruder war flinker. Gekonnt wich er jedem seiner Schwerthiebe aus, parierte sie, als hätte er noch nie etwas anderes in seinem jungen Dasein getan.
Theon war sich sicher, dass Hunter als Gewinner aus diesem Gefecht hervorgehen würde und wandte für eine Sekunde den Blick von ihm ab, um Elody anzusehen.
Aber die Weißhaarige war verschwunden.
Verwirrt suchte er mit den Augen das Schlachtfeld nach ihr ab. Mit ihrer Verletzung konnte sie unmöglich weit gekommen sein, doch nirgendwo konnte er ihr auffallend gefärbtes Haar entdecken.
Hatte sie es geschafft und war tatsächlich geflohen? Wut machte sich in dem jungen Prinzen breit, die sich gegen ihn selbst richtete. Wieso nur war er so naiv gewesen und hatte erneut versucht sie zu retten?
Wenn sie nun wirklich entkommen war, dann bedeutete diese Schlacht nicht das Ende der Rebellion.
Elody würde sich wieder in die Wälder zurückziehen, ihre überlebenden Leute um sich herum zusammenscharren und erneut einen Angriff auf die Krone planen. Niemals würde sie aufgeben, bis sie bekam, was sie wollte - den Thron und den Tod ihrer leiblichen Familie.
Ein markerschütternder Schrei drang an Theons Ohren, der seinen Blick wieder herumwirbeln ließ.
Hunter ging blutspuckend zu Boden, tastete mit den Fingern seinen Brustkorb ab und ergriff die Spitze eines Schwertes.
„Nein!" Theons Gesicht verließ jegliche übriggebliebene Farbe. Elody hatte sich durch die Schatten der Hütten rücklings an Hunter herangeschlichen und ihm ihre Waffe durch sein Fleisch gejagt.
Ohne etwas dagegen tun zu können, musste Theon mit ansehen, wie sein Bruder starb.
Und er allein trug die Schuld daran.
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