Kapitel 7
„Das hatte ich befürchtet." Der ältere Vampir starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen auf das bedrohlich dahinrauschende Gewässer. Auch die anderen Männer schauten unschlüssig auf den tosenden Fluss.
Sina betrachtete ebenfalls das Wasser, doch kreisten ihre Gedanken nicht um die erfolgreiche Überquerung. Sie ließ ihren Blick stromabwärts wandern. Irgendwo gab es mit Sicherheit eine Stelle, an der man unbemerkt verschwinden konnte. Ihre Mundwinkel zuckten kurz nach oben. In einiger Entfernung verschwand der Wasserlauf hinter einer Biegung. Die Böschung schien dort höher zu sein. Perfekt, um sich neugierigen Blicken zu entziehen. Jetzt benötigte sie nur einen unbewachten Moment, um in den Fluten unterzutauchen und sich von der Strömung mitnehmen zu lassen. Hoffentlich vermieste ihr das nicht einer der Spitzzähne.
„Immerhin werden unsere Tiere wieder sauber. Ich hoffe, der Boden ist auf der anderen Seite nicht so aufgeweicht, wie hier." Fabiu klopfte seinem Pferd auf die Schulter. Die langen Beine über und über mit Schlamm verschmutzt. Selbst die Stiefel der Männer hatten Schlammspritzer abbekommen.
„Sauber werden sie gewiss", brummte Hermanus. „Nur sind sie jetzt schon teilweise nervös. Ich trage die Verantwortung für euch alle."
„Unsere Pferde werden uns schon sicher rüberbringen." Romanu klang zuversichtlich. Die Mitglieder der Gruppe nickten zustimmend.
Nur der Anführer schien weiter zu zweifeln. „Dann gib mir Sina mal rüber. Dein Hengst benimmt sich ein wenig zu aufgeregt." Er wies auf das Tier, das mit dem Hufen stampfte, um den lästigen Schlamm von den Fesseln zu schleudern.
Sina klammerte sich noch fester an den jungen Vampir, der vor ihr im Sattel saß, und setzte damit ein deutliches Zeichen. Sie sah nicht ein, bei jemand anderes mitzureiten. Das unruhige Schnauben des Hengstes und die Anspannung in seinen Muskeln war ihr nicht entgangen. Sie baute darauf, dass das Pferd im Wasser scheute, wodurch ihr Fluchtversuch weniger offenkundig war.
„Sina bleibt bei mir. Ich bringe sie schon sicher rüber." Romanus Stimme spiegelte sein Selbstvertrauen wider. Er schien überzeugt davon zu sein, sie ohne Vorkommnisse auf die andere Seite des Flusses zu transportieren.
Sina schluckte schwer. Sein Vertrauen, das er auch in sie setzte, zu missbrauchen, kam ihr falsch vor. Andererseits gab es womöglich nie wieder eine solche Gelegenheit, der Versklavung zu entgehen.
„Dann los", gab Hermanus das Signal und trieb sein Tier in die Fluten. Weitere Vampire schlossen sich an. Einige hatten Mühe, ihre Pferde dazu zu bewegen, sich ins Wasser zu begeben. Die Huftiere zuckten mit den Ohren. Ihre Schweife peitschten wild durch die Luft. Andere tänzelten rückwärts, doch schließlich überquerte eins nach dem anderen den tosenden Fluss.
„Halt dich gut fest, Sina, jetzt sind wir dran." Romanu hatte abgewartet, dass seine Kollegen alle sicher auf dem gegenüberliegenden Ufer angekommen waren. Nun trieb er seinen Hengst gemächlich an. „Komm mein Junge, gleich hast du saubere Hufe." Er tätschelte dem schnaubenden Tier den Hals.
Sina drehte den Kopf, suchte die Landschaft hinter ihnen nach einem Anzeichen ab, dass Razvan aufgeholt hatte. Zufrieden stellte sie fest, dass der arrogante Spitzzahn nirgends zu sehen war. Sie lächelte. Das kam ihr sehr gelegen. Romanus Körper schirmte sie von seinen Begleitern ab und auf ihrer Seite gab es keinen Zeugen.
„Nun geh schon rein, Großer", sprach der Vampir beruhigend auf das tänzelnde Tier ein. Der Hengst warf den Kopf hoch, stieß ein schrilles Wiehern aus.
„Nun treib ihn schon an", rief Fabiu ihm von der anderen Seite zu. „Sonst überholt selbst Razvan euch noch."
„Keine Sorge." Romanu lachte. „Der wird uns nicht einholen." Er stieß seinem Pferd die Hacken in den Bauch.
Gehorsam setzte es einen Huf nach dem anderen in das Gewässer. Fast schon entspannt schien es bis zur Mitte des Flusses zu laufen. Sina biss sich auf die Unterlippe. Das hatte sie nicht erwartet. Erneut warf sie einen Blick über die Schulter. Sie sprach in Gedanken eine Entschuldigung und wollte gerade dem Hengst in die Flanke kneifen, als er urplötzlich stieg. Mit einem leisen Aufschrei plumpste sie ins Wasser, tauchte unter und ließ sich von der Strömung mitreißen.
Tief unter der Wasseroberfläche brachte sie mit kräftigen Schwimmbewegungen Abstand zwischen sich und die verhassten Spitzzähne. Hoffentlich glaubten die Monster, dass sie in den Fluten ertrank, und folgten ihr nicht am Ufer entlang. Normale Menschen konnten meist nicht schwimmen, lernten nicht wie Kinder ihres Dorfes, schon früh, wie man im Wald und in Gewässern überlebte. Daher wäre die Annahme, dass sie es nicht schaffte, einer der ersten Gedanken, der bei den Männern aufkommen würde.
Immer weiter riss die Strömung sie mit. Der Druck auf ihren Ohren, der anfangs nur leicht zu spüren war, nahm stetig zu. Geräusche drangen kaum noch zu ihr durch. Selbst das Tosen des Wassers klang wie das Gurgeln eines Baches. In ihren Lungen brannte es. Wie nach jenem Abend, an dem sie mit den anderen Mädchen um das hochaufragende Lagerfeuer getanzt und die heiße, rauchige Luft eingeatmet hatte. Sie schwamm zurück an die Wasseroberfläche und schnappte nach Atem. Das Flusswasser spritzte um sie herum auf, schwappte ihr ins Gesicht oder schlug über ihrem Kopf zusammen. Wasser drang gleichzeitig in ihren Mund und ihre Nase ein. Sie hustete, versuchte die Flüssigkeit zumindest aus ihren Nasenlöchern loszuwerden. An ihren Zähnen blieben Sandkörner vom aufgewühlten Gewässer kleben. Es schmeckte nach Erde und Pflanzen.
Vor ihren Augen erschien die Biegung des Flusses. Dichtes Grün bewucherte die Seiten. Kein flaches Ufer, wie an der Stelle, an der die Vampire ihre Pferde ins Wasser getrieben hatte. Perfekt, um sich vor neugierigen Blicken zu verstecken. Mit zwei kräftigen Schlägen ihrer Beine erreichte sie ein bewachsenes Teilstück, bei dem Gras und andere Grünpflanzen von der Böschung in den Fluss ragten. Dahinter versteckte sich zu ihrer Erleichterung eine Art Höhle. Sina presste sich mit dem Rücken an den Erdwall und atmete einige Atemzüge tief durch. Das Schlimmste war überstanden. Schon bald würde sie sich auf den Weg in ihr Land und vor allem in ihr Dorf machen. Sie durfte nur nicht zu früh aus ihrem Unterschlupf hervorkommen.
Sie wrang ihre Haare aus. Das Kleid klebte ihr wie eine zweite Haut am Körper, nass und kalt. Sie würde es ausziehen und trocknen lassen müssen, bevor sie die Reise in ihre Heimat fortsetzte. Sonst schwächte die Feuchtigkeit sie. Eine weitere Gefahr drohte, denn Razvan würde ebenfalls an der Stelle, an der sie in den Fluss gefallen war, selbigen überqueren. Sie traute ihm zu, dass er sie dann biss, ihr Blut trank, und dabei feststellte, was sie in Wirklichkeit war. Sina presste die Lippen aufeinander. Niemand durfte das jemals erfahren.
Das Schnauben eines Pferdes riss sie aus ihren Überlegungen und sie erstarrte regelrecht. Sie fluchte innerlich über ihr wild klopfendes Herz. Konnte der Spitzzahn es aus dem tosenden Wasser heraushören?
„Sina?" Romanu rief nach ihr. Natürlich war er dem Wasserlauf auf der Suche nach ihr gefolgt. „Verdammt Sina, so antworte mir doch!"
Sie riss die Augen weit auf. Die Erkenntnis lastete schwer auf ihrem Gewissen. Hermanus behielt mit seinen Worten recht. Sie hatte das Band aus Furcht vor seinen Gefährten zu fest mit dem jungen Vampir gesponnen. Nun litt er ihretwegen. Sie schüttelte vehement den Kopf, die Haare klatschten ihr ins Gesicht. Er war ein Feind, wie alle Spitzzähne. Wieso empfand sie dann Mitleid mit ihm? Würde er es mit ihr haben, wenn man herausfand, dass sie kein Mensch war? Unwahrscheinlich. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen, auf denen sich das Süßwasser des Flusses mit ihren salzigen Tränen vermischte.
„Sina?" Dieses Mal klang seine Stimme leiser.
Sie spitzte die Ohren. Hatte er sich still von ihrem Standort weiter entfernt? Erleichtert atmete sie auf. Die Kälte des Wassers durchdrang immer mehr ihren Körper. Je schneller die Vampire verschwanden, desto eher konnte sie sich aufwärmen. Nachdenklich rieb sie sich die Oberarme. Die Haut ihrer Fingerspitzen wellte sich bereits.
Die Pflanzen raschelten über ihr. Etwas Licht fiel auf sie. „Sina!" Ein reißendes Geräusch, mehr Tageslicht fiel auf ihr Versteck. Romanu riss das Gras aus, um sie besser zu erreichen. „Du lebst! Gib mir deine Hand. Ich zieh dich hoch."
Wortlos gehorchte sie, wunderte sich nur über die Erleichterung, die sich in ihr breitmachte, als seine Finger sich um ihren Unterarm schlossen. Scheinbar mühelos zog er sie hoch.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Kleines", murmelte er. Sein Blick huschte über ihr Gesicht und ihren Körper. „Hast du dich verletzt? Blut rieche ich nicht."
„Nein. Ich ..." Sie stockte. „Ich wollte nicht fliehen."
„Das weiß ich doch." Der Vampir strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Eine sanfte Geste für ein Monster wie ihn. Dann löste er seinen Umhang. „Zieh bitte dein nasses Kleid aus. Sonst wirst du noch krank. Ich habe doch versprochen, auf dich aufzupassen." Ohne Aufforderung drehte er sich um und wandte ihr den Rücken zu.
Sina knabberte an ihrer Lippe. Versuchte sie, ihm und seinen Gefährten erneut zu entfliehen, oder ergab sie sich vorläufig in ihr Schicksal? Romanu würde ihr weiterhin folgen, um seinem Schwur gerecht zu werden. Sie sollte das Band zu ihm wirklich lockern. Andererseits bedeutete es einen erweiterten Schutz. Nur Hermanus und Fabiu schienen zu wissen, was sie war. Der Rest tappte völlig im Dunkeln.
Ihre Entscheidung fiel so schnell wie ihre durchnässte Kleidung. Sie nahm dem Vampir den Umhang ab und hüllte sich ein.
„So ist es richtig." Romanu bückte sich, um das Kleid aufzuheben. Seinem Blick entgingen die vielen Risse nicht. Kopfschüttelnd warf er es zurück ins Gras. „Du bekommst auf der Burg etwas Besseres, von höherer Qualität. Jetzt kehren wir aber zu den anderen zurück. Die warten bestimmt schon ungeduldig auf uns." Er hob sie hoch, setzte sie auf seinen Hengst, der sich völlig beruhigt zu haben schien. „Aber jetzt sitze ich besser hinter dir. Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, als du in den Fluss gestürzt bist. Ich hatte Angst, dich verloren zu haben", fügte er kaum hörbar hinzu.
Sina schluckte abermals. Sie hatte seinen Eid und sein gutes Herz hemmungslos für ihre Zwecke ausgenutzt. Doch was blieb ihr in dieser Situation auch anderes übrig? Er war der einzige Schutz, den sie in seiner grausamen Welt besaß. Dabei war es fraglich, inwiefern er sie vor dem Herrscher beschützen konnte. Sie war auf ihn angewiesen. Auf ihn und Hermanus.
Letzterer sah sie stirnrunzelnd an, als Romanu mit ihr zur Gruppe stieß, die am Ufer gewartet hatte.
„Ich sagte dir doch, dass sie es schafft. Sina ist viel klüger und geschickter als andere Mädchen." Der junge Vampir legte beschützend seinen Arm um sie. „Noch einmal geht sie mir nicht verloren."
Sie lehnte sich an seine Brust. Die Sicherheit, die er ausstrahlte, beruhigte sie, ließ ihren Puls gleichmäßig schlagen. Warum eigentlich? Wie war es möglich, dass ein Erzfeind ihr dieses Gefühl von Geborgenheit schenkte? Eine Frage, die sie auf dem restlichen Weg nicht mehr losließ.
*****
Und da hatten wir Fluchtversuch Nummer 1. Mögt Ihr Wetten abschließen, wie oft sie es noch versuchen wird, bis es ihr gelingt?
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