Kapitel 5
Der Ast, an dem sie sich hinaufzog, brach splitternd ab. Mit einem Aufschrei stürzte sie dem felsigen Boden entgegen. Gleich würde sie aufschlagen, sich eine Vielzahl an Knochen brechen. Die Flucht war vorbei.
„Hab' dich", wisperte ein Mann ihr zu, als sie in seinen Armen statt auf dem Fels landete. Er drückte sie an seine Brust und trug sie zu seinen Begleitern.
Seine fast heiser anmutende Stimme und seine unerträgliche Nähe versetzten ihren gesamten Körper in Alarmbereitschaft. Die Muskeln zuckten, die Haut spannte und kribbelte wie nach einer unfreiwilligen Bekanntschaft mit Donnernesseln.
Der Fremde bemerkte ihr Unbehagen. „Ganz ruhig, Kleines, ich tue dir nichts." Wie zum Beweis pustete er ihr sachte eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Eine Sklavin scheint sie nicht zu sein." Ein anderer Spitzzahn strich über ihre Arme, sodass sich die feinen Härchen dort wie Soldaten in Reih und Glied aufstellten. „Ich sehe keine Markierung." In seinen Augen blitzte es schelmisch auf.
„Das kann täuschen. Ihre Spezies taugt nur zur Sklavenhaltung. Unterwürfig und schwach, die geborenen Diener. Ihr solltet mir dankbar sein, dass ich ihre Flucht vereitelt habe." Ein für einen Vampir grobschlächtiger Kerl mit verschlagener Miene stolzierte an ihnen vorbei und hob einige Meter entfernt einem im Sonnenlicht glitzernden Gegenstand auf.
Sie runzelte die Stirn. Ein Wurfbeil. Der Ast hatte nicht unter ihrem Gewicht nachgegeben, sondern war vom Beil getroffen zersplittert. Mistkerl. Wenn es ihr nicht gelang, aus den Händen der Spitzzähne zu entkommen, würde sie ihm eines Tages ein Messer in die Kehle rammen.
„Was machen wir jetzt mit ihr?", fragte der Vampir, der sie festhielt. Er war jung, so wie der Rest der Gruppe. Nur einer schien älter zu sein.
Dieser trat nun vor und streckte die Arme aus. „Gib sie mal her, Romanu. Als euer Vorgesetzter ist es meine Aufgabe, auf Gefangene aufzupassen. Fabiu wird sich gleich ihre Wunden anschauen, wenn wir zurück im Wald sind." Er wandte sich an den Mann, der so abfällig gesprochen hatte. „Razvan, laufe bitte vor und hol unsere Pferde."
Das Mädchen atmete erleichtert aus, als der hämische Vampir im Laufschritt die Schlucht verließ. Hoffentlich wurde er von einem der Huftiere niedergetrampelt. Oder besser noch, von allen hintereinander.
„Ich würde sie lieber selbst tragen. Sie fürchtet uns auch so schon." Der Romanu hieß, trug sie an seinem Anführer vorbei. Schon bald ersetzte würzige Waldluft die staubige Luft des Canyons.
Sie atmete tief durch. Ein leichtes Kribbeln in ihren Fußsohlen wies darauf hin, dass die Wunden sich schlossen. Ein Zeichen, dass sie in Kürze ihre Flucht fortsetzen konnte, wenn die Vampire einen Moment nicht aufpassten.
„Setz sie bitte dort ab." Der Ältere wies auf einen moosbewachsenen Platz im Schatten eines Laubbaumes.
Kaum saß sie auf dem weichen Untergrund, rutschte sie von den Spitzzähnen weg, bis der Baumstamm sie an ihrem Rücken stoppte. Ihre Umgebung nicht aus den Augen lassen, drückte sie sich an ihn.
„Ganz schön misstrauisch, die Kleine." Ihr Retter, wenn sie ihn so nennen wollte, hockte sich neben sie und beugte sich vor. Eine Strähne seiner schwarzen Haare glitt aus seinem Zopf. Mit seinen langen eleganten Fingern strich er sie hinter sein Ohr. Er musterte sie mit seinen tiefdunklen Augen. Weder Hass noch Hochmut lagen darin, eher Neugierde und ein wenig Besorgnis. „Wie heißt du?"
„Geh mal zur Seite, Romanu. Ich würde mir gern ihre Verletzungen ansehen, damit wir danach zur Burg aufbrechen können." Der Mann, der ihre Arme nach einer Markierung abgesucht hatte, stieß seinen Freund an die Schulter. „Ich brauche mehr Platz."
Der Angesprochene knurrte leise. Er wich kein Stück zurück, rückte eher noch näher an sie heran. In seinen Augen blitzte es rot auf.
„Romanu! Lass Fabiu seine Arbeit verrichten." Der ältere Vampir scheuchte den Jüngeren auf, der sich nach einem letzten Blick auf sie widerwillig zurückzog.
„Wieso reagiert er so auf die Kleine?", fragte Fabiu. Er tastete ihre Fußsohlen ab. „Die Wunden haben sich schon wieder geschlossen. Wie wir erwartet hatten. Reichst du mir bitte in paar Blätter von der Pflanze dort?"
„Ich habe eine Vermutung", brummte der Anführer. „Hier." Er hielt einige Blätter der Schlangenzunge in einer Hand. „Nicht, dass es unbedingt notwendig ist, aber es darf niemand Verdacht schöpfen. Sonst gerät unsere Kleine hier in große Gefahr." Er beugte sich vor und packte sie sachte am Kinn. „Zum Glück hat sie sich nicht beim Sturz weiter verletzt. Die Erschöpfung reicht völlig. Ich vermute, dass sie in den vergangenen Tagen kaum etwas gegessen hat."
„Ich wüsste, wie sie schneller wieder zu Kräften kommt." Fabiu zog einen Dolch aus seinem Gürtel und sah sich prüfend um. „Niemand achtet gerade auf uns."
„Dann schnell." Der Ältere nickte ihm zu, packte ihren Unterkiefer fester. Argwöhnisch beobachtete sie, was die Fremden taten. Wussten sie etwa, was sie war? Ihr Puls stieg an. Sie sog scharf die Luft durch die Nase ein.
Fabiu ritzte seine Haut am Zeigefinger ein, drückte einen dicken Tropfen Blut hinaus. „Jetzt, Hermanus."
Der Anführer führte Druck auf ihren Kiefer aus, wodurch sie ihren Mund gezwungenermaßen öffnete.
Der zweite Mann schmierte ihr das Vampirblut auf die Zunge und presste seine Hand auf ihren Mund. „Runterschlucken."
„Verdammt", knurrte der Typ, der Hermanus hieß. „Augen zu."
Erschrocken gehorchte sie. Falls es den Spitzzähnen zuvor nicht bekannt war, welcher Spezies sie angehörte, dann hatten sie es spätestens jetzt begriffen. Das Aufleuchten ihrer Iriden, hervorgerufen vom Vampirblut, hatte sie endgültig zu einem Leben in ewiger Gefangenschaft verurteilt.
„Wunderschön", murmelte der jüngere Vampir.
„Aber niemand darf es sehen, sonst ist sie verloren." Der Alte seufzte. „Vor einigen Jahren habe ich gesehen, was mit einer Frau deiner Art passiert ist. Das möchte ich nie wieder miterleben. Bei uns bist du sicher, Kleines."
Langsam öffnete sie die Augen und starrte ihn ungläubig an. Ein Spitzzahn, der sie beschützte? War das auch wieder ein hinterlistiges Spiel dieser Monster? Wollten sie erst ihr Vertrauen gewinnen, um dann ihre letzte Hoffnung brutal zu zerstören? Argwöhnisch betrachtete sie den Mann. Sein Blick schien freundlich zu sein, doch das konnte eine Täuschung sein.
„Du glaubst mir nicht." Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Das verwundert mich nicht. Ihr wachst in Furcht vor uns auf. Mehr als die Menschen." Er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Hermanus. Wie ist dein Name?"
„Sina", antwortete sie nach kurzem Zögern. Lügen oder Schweigen würde sie nicht weiterbringen. Obwohl er wusste, was sie war, stürzte er sich zumindest nicht auf sie, um ihr Blut zu trinken.
„Ein hübscher Name. Und wie alt bist du, Sina?"
„Fünfzehn."
„Dreizehn also." Er warf ihr einen drohenden Blick zu, als sie ihm widersprechen wollte. „Du bist zu jung. Damit nicht für schwere Arbeiten oder andere Dinge geeignet", fügte er nachdrücklich hinzu.
„Ja, ich bin erst dreizehn." Siedend heiß fiel ihr ein, was die Erwachsenen über die Spitzzähne gesagt hatten. Erst wenn man dem Kindesalter entwachsen war, tranken sie das Blut. Eine alte Absprache zwischen den Fürsten, um ihre Sklaven nicht zu sehr zu schwächen und um Krankheiten von ihnen fernzuhalten.
„Vorsicht, Romanu kehrt zurück", warnte Fabiu. „Und Razvan hat die Pferde geholt."
„Schade, dass die Tiere ihm nicht den Schädel eingetreten haben", murmelte Sina.
„Lass ihn das mal nicht hören, Kleine." Hermanus schmunzelte, wurde gleich darauf wieder ernst. „Er darf auf gar keinen Fall erfahren, wer du bist. Haben wir uns da verstanden?"
„Was soll sie verstanden haben?" Romanu hockte sich erneut vor sie und sah verwirrt zwischen ihnen hin und her.
„Dass ich nicht fliehen darf." Sina versuchte vergeblich, seinem Blick auszuweichen. Etwas an seinen tiefdunklen Augen hielt sie gefangen.
„Sina wird uns keine Schwierigkeiten bereiten", fügte Hermanus nach einem Seitenblick auf das Mädchen hinzu.
„Sehr gut. Dann kann Sina bei mir mitreiten." Romanu grinste verschmitzt. Bevor ihm jemand widersprach, hob er sie schon hoch und lief mit ihr zu seinem Reittier.
„Eine kleine Zwischenmahlzeit würde mir jetzt gefallen. Ich habe Durst." Razvan trat auf sie zu, seinen Blick gierig auf das Mädchen gerichtet. In seinen Pupillen flackerte es rot.
Sina presste sich an die Brust des Vampirs, der sie sanft festhielt, und versteckte das Gesicht an seiner Halsbeuge. Wieso griff Hermanus nicht ein?
„Das ist dann dein Problem, Razvan", hörte sie umgehend die schneidende Stimme des Anführers. „Sie ist erst dreizehn Jahre alt. Du kennst das Gesetz", verkündete er nicht nur an den abfällig schnaubenden Vampir, sondern auch an den Rest der Gruppe gewandt. „Daher steht sie unter meinem besonderen Schutz. Wer ihr ein Haar krümmt, muss sich zuerst mir gegenüber verantworten. Wenn ihr also eure Prüfungen bestehen wollt, solltet ihr meinen Anweisungen nicht zuwiderhandeln." Herausfordernd sah er Romanu an. „Sina reitet bei mir mit."
Das Mädchen schüttelte vehement den Kopf und krallte die Finger in das Hemd des jungen Vampirs. Es fand keine logische Erklärung dafür, warum es sich bei ihm sicher fühlte.
Eine Bemerkung der Großmutter fiel Sina ein. Darüber, wie die verschiedenen Begabungen im Dorf benötigt wurden. Jägerinnen und Kriegerinnen perfektionierten das Töten, das ihr zuwider war. Weil es nicht ihrer wahren Art entsprach. Sie verstand sich darauf, den Charakter eines Wesens an seinem Verhalten abzulesen, Gut und Böse in Sekundenschnelle zu unterscheiden. Dies konnte über Leben und Tod entscheiden. Und doch wurde diese Fähigkeit bei ihrer Gruppe belächelt.
Es erklärte, warum sie sich zu Romanu hingezogen fühlte, aber nicht völlig. Eine tiefe Verbundenheit, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Er war nicht einfach nur gut, zuverlässig und hilfsbereit. Es brodelte mehr unter der Oberfläche. Seine aristokratischen Züge verrieten seine Abstammung. Er gehörte nicht in diese Gruppe. Doch niemand außer ihr schien es zu bemerken. Genauso wie es an den Männern vorbeiging, dass Hermanus und Fabiu Vater und Sohn waren. Vampire schickten ihre Kinder zu anderen Herrschern, um sie dort auszubilden zu lassen. Die Aufgabe selbst zu übernehmen, war verboten. Ein Vampirprinz dagegen wurde daheim ausgebildet. Zu gefährlich war es, ihn von zu Hause fortzuschicken. Doch Hermanus war kein Fürst, Fabiu kein Prinz.
Zögernd schaute sie zu dem Anführer der Gruppe, der sie nachdenklich betrachtete. Dann wanderte sein Blick weiter zu Romanu.
„Nun gut, dann pass auf unsere Kleine auf." Er drehte sich zu den jungen Männern um. „Aufsitzen, wir kehren zur Burg zurück. Ich werde euch morgen mitteilen, wie ihr euch in den vergangenen Tagen geschlagen habt und was verbesserungswürdig ist." Der Vampir saß auf und schaute abermals zu Sina und Romanu, der das Mädchen in den Sattel hob.
Sie las die Verwunderung an seinen Augen ab. Darüber, dass sie keine Schwierigkeiten verursachte und ebenso über das vertraut anmutende Verhältnis zwischen ihr und dem Mann, dem sie sprichwörtlich in die Arme gefallen war. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, spürte nur instinktiv, dass sie bei ihm sicher und geborgen war.
*****
Da hat einer aber besonders viel Interesse an Sina. Und sie scheint auch lieber bei ihm zu bleiben. Ob das gut geht?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top