Kapitel 44


Es gestaltete sich schwierig, Anzeichen dafür zu finden, wer hinter dem Entführungsversuch steckte. Malia hatte es gut weggesteckt, dass ein Vampir sie entführen wollte, doch das lag zu einem Großteil an der liebevollen Behandlung, die Fabiu und Hermanus ihr zuteilwerden ließen. Zu einem geringen Anteil an Taran, der mit ihr an den Ängsten arbeitete. Mit Leichtigkeit hätte er sie ihr einfach so nehmen können, doch er bevorzugte es, ihr beizubringen, wie sie das Geschehene selbst verarbeiten konnte.

Sina beobachtete die beiden, wie sie im Garten saßen, und der Freund dem Mädchen erklärte, wie man sich gegen Albträume wappnete, damit sie ihren Schrecken verloren. Sie wandte sich ab, lief vom Balkon zurück zum Bett und ließ sich drauffallen. Ein tiefer Seufzer bahnte sich seinen Weg aus ihrer Brust, hallte im Raum wider. Romanu verbrachte die Zeit bei seinem Vater im Thronsaal. Besprechungen mit anderen Herrschern, die noch nicht abgereist waren. Unter ihnen der König, der die junge Wächterin mitgebracht hatte. Die Frau hatte sich beim Aufeinandertreffen vernarrt in Malia gezeigt und das Kind schien sich ebenfalls zu der Vampirin hingezogen zu fühlen. Kein Wunder, kam sie als Mitglied einer königlichen Garde dem Rang einer Kriegerin der Vedma gleich. Auch war Sina nicht verborgen geblieben, wie Fabiu sie musterte, wenn er auf sie traf, oder wie die Frau scheu den Blick senkte, wenn sie ihn bemerkte. Wie schaffte man es, den fremden König davon zu überzeugen, ihnen ein Mitglied seiner Wache zu überlassen?

Sie rollte sich auf die Seite und schloss die Augen. Das Fest und die Aufregung der vergangenen Tage hatten sie ermüdet. Oder es lag an der Schwangerschaft, an der Umstellung ihres Körpers. Zu gern hätte sie jetzt bei einer Frau ihres Volkes Rat gesucht. Königin Oksana bot ihr zwar an, über alles zu sprechen, doch als Vampirin hatte sie einen anderen Blick auf die Dinge. Die Dienerinnen vermochten ebenfalls nicht, ihr weiterzuhelfen. Dafür waren Menschen und Vedma ebenfalls zu unterschiedlich. So ähnlich und doch verschieden. Sie seufzte. Hoffentlich beruhigte ein Mittagsschlaf ihre angespannten Sinne. Seit dem Vorfall am Abend der Hochzeit lauschte sie fast unentwegt, ob sich jemand heranschlich. Suchten ihre Augen Nischen und dunkle Ecken nach Schatten ab, die dort nicht hingehörten. Erschöpft ließ sie zu, dass der Schlaf sie übermannte.

*****

Sie lief durch einen nie enden zu wollenden Gang. Immer weiter trugen sie ihre Füße, einem verdächtigen Geräusch hinterher. Sie wagte es nicht, nach den Wachen zu rufen. Fürchtete, den Eindringling so zu verscheuchen, das Geheimnis um seine Herkunft nicht zu lüften.

Ein Schemen huschte um eine Ecke. Endlich eine Abzweigung, die sie in den Schatten, die sich immer weiter auszubreiten schienen, fast übersehen hätte. Sie folgte den sich eilig entfernenden Schritten. Fackeln malten Bilder aus Licht und Dunkelheit an die Wände des sich verengenden Ganges. Die einst weiße Decke war vom Ruß des wild zuckenden Feuers geschwärzt. Die Luft zum Atmen war stickig, roch nach Schwefel und etwas anderem. Sie riss die Augen weit auf. Nein! Das durfte nicht sein! Begegnete sie deswegen niemandem? Waren sie alle dort?

Erneut bog der Weg ab. Abrupt blieb sie stehen. Vor ihr, in einer Art Katakombe, bot sich ihr ein erschreckendes Bild. Tote Körper, die übereinandergestapelt auf dem Granitboden lagen, in grotesken Formen. Einigen fehlten Gliedmaßen, bei anderen hatte irgendetwas große Löcher in den Brustkorb gerissen. Tödliche Wunden, die im schummrigen Licht schwarz und unendlich tief anmuteten. Blut sickerte aus ihnen, vermischte sich auf dem Boden zu riesigen Lachen. Kalte Augen starrten Sina anklagend an. Der metallische Geruch mischte sich mit dem süßlichen des Todes. Geballt traf er auf sie, brachte sie zum Würgen. Sie trat einen Schritt rückwärts, trat in etwas Klebriges. Ihr Blick wanderte zu ihrem Fuß. Einer der Dorfältesten lag neben ihr, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.

Es ist alles deine Schuld, hallte seine Stimme in ihrem Kopf wider. Du hast uns in den Untergang geführt.

Sie riss die Hände hoch, um ihre Ohren zu bedecken und stockte. Von ihren Fingern tropfte das Blut, wie nach den Morden im Dorf. Sie schrie auf und versuchte, sich einen Weg aus dieser Gruft zu bahnen. Doch der Eingang, durch den sie gekommen war, war verschwunden. Immer näher kamen die Wände auf sie zu, türmten die Toten weiter auf. Bald bedeckte das Blut ihre Knöchel, stieg stetig höher, bis es ihr bis zu den Waden reichte. Warm und klebrig haftete es an ihr. Verzweifelt schlug sie auf das Mauerwerk ein. Hörte sie denn niemand?

*****

„Sina, wach auf!" Jemand rüttelte sie an der Schulter. Sie schnappte nach Luft, krallte die Finger in ein Hemd. Tränen rannen unaufhaltsam über ihr Gesicht, während ihr Herz hart und schnell in ihrer Brust schlug.

„Alles wird gut, Sina. Ich bin bei dir." Sie wimmerte zur Antwort. Woher wollte er das wissen? Er war nicht bei ihr gewesen, hatte nicht gesehen, was sich in ihrem Kopf eingebrannt hatte. So viel Leid und sie war dafür verantwortlich. Sie schluchzte, presste sich eng an Romanu. Dann ließ sie ihn abrupt los. Blutflecken prangten auf seinem Hemd. Von ihren blutbedeckten Händen. Wie besessen rieb sie über ihre Haut, weinte in einem fort.

„Komm, ich helfe dir dabei, es abzuwaschen." Ihr Gemahl hob sie hoch und trug sie zum Waschtisch. Das Wasser plätscherte sanft, als er es in die Waschschüssel kippte. Er nahm einen Schwamm und wischte behutsam ihre Finger ab, reinigte sie nacheinander. Der Schüsselinhalt färbte sich rot. Sina konnte ihren Blick nicht davon abwenden. So viel Blut, doch wo kam es her?

„Schließe bitte deinen Augen und atme tief durch." Romanus sanfter tiefer Stimme folgend, schloss sie die Lider. Er summte ihr eine Melodie ins Ohr, wiegte sie bedachtsam hin und her. „Es war nur ein Albtraum, Liebste."

Sie klammerte sich an ihn, ließ seine Worte auf sich eindringen. Quälend langsam drang die Bedeutung zu ihr durch. Erneut ein böser Traum. Sollte das ewig so weitergehen? Stumm weinte sie an seiner Brust, nur von gelegentlichen leisen Schluchzern unterbrochen.

„Taran könnte dir helfen, wenn du ihn darum bittest", unterbrach Romanu nach einer Weile die eingetretene Stille. „Er hat unterschiedliche Möglichkeiten, ein Trauma wie deines abzumildern."

Oder gänzlich zu unterdrücken. Er sprach es nicht aus, doch Sina wusste, dass Taran auch dazu imstande war. Wollte sie ihre Taten komplett vergessen oder gab sie sich mit einer Abmilderung zufrieden? Ein unangenehmes Kribbeln zog ihren Rücken hinunter. Unbehaglich rollte sie mit den Schultern.

„Du brauchst dich ja nicht jetzt sofort dafür oder dagegen zu entscheiden." Romanu hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Wir können Taran und Alina auch gern in ein paar Wochen besuchen."

Sie nickte zustimmend. Sie fühlte sich nicht in der Lage, jetzt einen Entschluss zu fassen. Wieder schaute sie zweifelnd auf ihre Hände und runzelte die Stirn. Hatten die Albträume sonst das tatsächlich Vorgefallene widergespiegelt, wich dieser neue Traum enorm davon ab. Er spiegelte ihr eine Situation vor, die sie so nie erlebt hatte.

Romanu räusperte sich. „Möchtest du mit mir in die Stadt gehen? Ich bin mir sicher, das könnte dich aufheitern."

Sie betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild. Der flehende Blick wie von einem kleinen Tier, brachte sie zum Lachen. „Gern. Aber beschwere dich hinterher nicht, wenn ich bei unseren Untergebenen keinen guten Eindruck hinterlasse. So viel habe ich noch nicht von deiner Mutter gelernt."

„Sie werden dich lieben, egal wie du dich verhältst." Er ergriff ihre Hand und lief mit ihr erst händchenhaltend durch den Palast, dann durch die engen Gassen der Stadt. Die Hauptstraßen meidend führte er sie an Fachwerkhäusern vorbei, deren Wände strahlendweiß gekalkt waren. Die Holzbalken hatten wie fast alles Holz einen warmen honigfarbenen Ton. Von Balkonen rankten Hängepflanzen hinunter. Fleischige Pflanzentriebe mit kleinen roten Blüten, die wie Sonnen aussahen. Ein süßlicher Duft hing in der Luft. Aus den Häusern drang der Geruch von frischem Brot und Gebäck zu ihnen. Sina atmete tief ein, vergaß die Schrecken des Albtraums und ließ sich von ihrem Gefährten immer weiter zum Herzen der Stadt führen. Dem großen Marktplatz, von dem die Straßen und Gassen sternförmig wegführten. Die Wege waren mit bunten Ziegeln zu abstrakten Mustern geschmückt. Farbenfrohe Fliesen an manchen Häuserwänden erzählten Geschichten über die Bewohner. Mal waren Segelschiffe abgebildet, dann wieder Webstühle oder Kleidung.

„Sie verkaufen ihre Ware auf dem Markt, doch in der kalten Jahreszeit kann man auch zu ihnen nach Hause kommen, um etwas zu erwerben. Oder wenn sie sich gerade um einen kranken Familienangehörigen kümmern und das Haus nicht verlassen können. Meinem Vater ist es wichtiger, dass es den Menschen hier gut geht, als dass die Geschäfte einzig auf den Marktplatz konzentriert sind. In den Außenbezirken der Stadt gibt es einige kleinere Marktstände in den Gebäuden der Stadtwache. Damit die Älteren und Schwachen nicht den weiten Weg auf sich nehmen müssen."

Ihr sorgt hier so viel besser für euer Volk als ..." Sina brach ab. Romanu wusste mittlerweile genug über die Vedma, um sich ein Bild von den Gepflogenheiten im Dorf zu machen. Sinnlos, alles immer wieder aufs Neue zu erzählen.

„Das kommt, weil der König ein Hüter ist, so wie dein Gemahl ebenfalls, Sina." Eine zerlumpt aussehende Gestalt löste sich aus einer dunklen Nische und humpelte auf sie zu. Romanu knurrte drohend.

„Bitte. Tue ihm nichts." Sina legte eine Hand auf Romanus Brust, hielt ihn mit leichtem Druck davon ab, sich dem Mann zu nähern. Gebannt starrte sie diesen an, als er den Umhang seiner Kapuze von seinem Kopf gleiten ließ. Er schaute sie mit den ihr so vertrauten blauen Augen milde lächelnd an.

„Hallo Sina. Du hast dir einen guten Gefährten ausgesucht." Der Mann nickte zufrieden. „Er wird immer für dich da sein und dich beschützen. Doch dafür bin ich nicht hergekommen." Er kratzte sich am Nacken. „Wie geht es meiner Urenkelin?"

„Hallo Eleon. Malia geht es gut. Sie würde sich sehr darüber freuen, dich zu sehen." Sina runzelte irritiert die Stirn, als er abwinkte.

„Sie lebt nun in einer Welt, in die ich nicht gehöre. Das Wichtigste ist, dass sie in Sicherheit ist und niemals die Dinge durchmachen muss, die du erlebt hast." Er zog die Kapuze wieder über seinen Kopf und huschte davon. Weit kam er nicht. Am Ende der Gasse packte ihn jemand am Arm. „Bitte lasst mich gehen", flehte er den Vampir an, der in unbarmherzig festhielt.

„Und damit meiner Enkelin die Möglichkeit nehmen, mit ihrem Urgroßvater zu sprechen?", knurrte er. „Mitkommen."

„Aber so zerlumpt soll sie mich nicht sehen!", stieß er besorgt aus. „Ich möchte nicht, dass sie sich meinetwegen schlecht fühlt."

„Da werde ich schon etwas regeln." Hermanus zerrte den alten Seher unbeirrbar hinter sich her in Richtung Palast.

„Dann folgen wir ihnen wohl besser und gehen später auf den Marktplatz." Romanu schmunzelte. „Haben alle Vedma angesichts von Vampiren einen so starken Fluchtinstinkt?"

Sina boxte ihren Gefährten mit dem Ellenbogen in die Rippen. Gleichzeitig schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie würden Eleon schon dazu überreden, hier bei ihnen zu bleiben. Sein zerfledertes Aussehen ließ sie darauf schließen, dass die vergangenen Wochen nicht leicht für ihn waren. Er würde schon einsehen, dass das Leben im Palast besser für ihn war. Und wenn sie ihn dafür erst einmal anketten musste.

*****

Sina und ihre Albträume. Wird das irgendwann noch mal besser?

Ach guck mal an, wen Hermanus da eingefangen hat. Wieso wehrt Eleon sich dagegen, Malia sehen zu können?

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