Kapitel 40
Stirnrunzelnd schaute Sina an ihrem Körper herunter. Das Kleid, in das Romanus Mutter sie gesteckt hatte, war zwar ganz hübsch, aber gleichzeitig unpraktisch, wenn man Hosen gewöhnt war. Wo sollte sie ihre Messer verstecken, denn einen Gürtel, um die Waffen dort zu befestigen, bekam sie nicht.
„Warum soll es dir besser ergehen als uns?" Alina ließ sich rücklings auf das weiche Bett fallen, auf dem Malia saß und kicherte. Beide Mädchen trugen ebenfalls Kleider. Die Ältere eins in Grün, das an saftiges Moos im Wald erinnerte, und die Jüngere eines, das so blau wie ihre Augen oder wie ein klarer Himmel an einem Sommertag strahlte.
„Dabei seht ihr alle hinreißend aus. Ich verstehe nicht, was ihr gegen die Kleider habt." Königin Oksana schüttelte bedächtig den Kopf. „Und noch weniger verstehe ich, wieso mein Sohn ein schlichtes schwarzes Kleid ausgesucht hat."
„Vermutlich, weil es zu seiner Gardeuniform passt", rief Alina von ihrem Platz aus herüber. „Mann, ich liebe dieses Bett. So etwas Bequemes hatten wir nicht im Dorf."
„Ich will nicht zurück in unser Dorf", maulte Malia und schob schmollend ihre Unterlippe vor. Alles Fröhliche verschwand aus ihrem Blick und sie sah um Jahre älter aus. „Die Männer sind böse. Nur Eleon ist lieb." Sina schluckte. Das Mädchen hatte von ihrem Versteck aus alles gehört. Nur nicht, was Sina selbst getan hatte. Doch die Hilfe, die der Seher geboten hatte, war der Kleinen nicht verborgen geblieben.
„Keine Sorge, Liebes. Du wirst nie dorthin zurück müssen", versicherte die Königin dem Kind und setzte sich zu ihr. Romanus Mutter streichelte Malia sanft über die Haare. „Fabiu wird gut auf dich aufpassen. Und da er mit seinem Vater in unsere Dienste tritt, wirst du auch Sina immer sehen." Die Vampirin schaute bedauernd zu Alina. „Ich wünschte nur, wir könnten dich ebenfalls mit an unseren Hof nehmen, damit ihr drei beieinander bleibt."
„Alina mag Taran und Taran mag Alina", verkündete Malia mit einem Grinsen. Der Themenwechsel schien sie von ihren Befürchtungen abzulenken. „Die sehen einander an, wie ich leckeres Essen angucke."
„Vor allem die Süßigkeiten." Sina gluckste. Ihre Ziehtochter hatte eine Vorliebe für die süßen Brötchen und das Kleingebäck entwickelt. Fabiu und Hermanus steckten es ihr auch zu gerne zu und erfreuten sich dann an ihrem strahlenden Lächeln.
Sie ließ ihren Blick zu dem älteren Mädchen wandern. Alinas Wangen röteten sich, ein seltsamer Glanz trat in ihre Augen. Obwohl zwischen ihr und Taran nicht solch ein starkes Band wie zwischen Romanu und Sina bestand, hatte sich die Vedma an den Vampir gebunden. Was seinem Sinn für Humor und seinem sanften Charakter zu verdanken war. Es lag zumindest nicht daran, dass er ein Gedankenmanipulator war. Die Fähigkeit hatte er einzig dazu eingesetzt, Alina zu beruhigen, als er sie gegen die Wachen von König Ragnar und gegen Cyrus verteidigte. Das Mädchen hatte erkannt, dass von ihm keine Gefahr ausging.
„Wenn ich mich nicht täusche, schaust du meinen Sohn in einer ähnlichen Art und Weise an, Sina." Königin Oksana hielt Malia eine Hand hin. „Komm, wir gehen schon mal. Die zwei brauchen noch ein wenig." Die Vampirin verließ mit dem Kind das Zimmer. Vermutlich, um zu ihrem Mann zu gehen, der sich bereits im Ballsaal aufhielt.
„Du möchtest nicht zum Fest, oder?" Alina schaute wissend zu Sina.
„Ich hasse König Ragnar. Für das, was er uns antun wollte, und für das, was er anderen Mädchen angetan hat." Sie atmete tief durch, schloss für einen Moment die Augen. „Manchmal glaube ich, dass wir von den Ältesten absichtlich in die Hauptstadt geschickt wurden, damit die Wachen uns aufgriffen. Im Tausch dafür schickte Ragnar nichtsahnende Vampire in den Wald, damit unsere Krieger sie gefangen nehmen konnten."
Alina atmete scharf ein. „Daran mag ich gar nicht denken." Sie knabberte an ihrer Unterlippe, zog mit den Schneidezähnen daran. Wie immer, wenn ihr ein Gedanke missfiel. „Aber es ergibt Sinn. Warum sind sonst Mädchen nicht heimgekehrt? Sie haben sich für das geschämt, was man ihnen angetan hat."
„Und die zurückgekehrt sind, haben entweder nicht darüber gesprochen, oder hatten das Glück, rechtzeitig zu entkommen."
„Du hast auch nichts gesagt", erinnerte Alina sie.
„Weil es mir nach der Zeit bei den Vampiren nicht mehr wichtig erschien. Erst jetzt", sie zögerte. „Erst jetzt, wo ich dem Mann wieder unter die Augen treten muss, der mich versklaven wollte, spüre ich, wie gern ich von hier fliehen möchte."
„Bleib mal lieber da. Es könnte noch interessant werden. Das Oberhaupt der Vampire plant etwas. Was genau, wollte Taran mir nicht sagen." Das Mädchen stand auf und strich ihr Kleid glatt. „Meinst du, es fällt auf, wenn ich mir ein Messer um den Oberschenkel schnalle? Ich fühle mich ohne Waffe so nackt."
„Wir haben versprochen, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Also keine Messer, keine Dolche." Sina seufzte. „Mir wäre auch wohler, wenn ich eine Waffe tragen dürfte. Aber wir sollen uns auf die Wachen verlassen." Sie lief vor zur Tür. „Bringen wir es hinter uns."
„Ein Trost, dass Taran und Romanu auch nicht hier sein wollen", brummte Alina. „Ich freue mich schon darauf, wenn wir in Tarans Reich reisen." Sie warf Sina einen entschuldigenden Blick zu. „Ich werde dich und Malia vermissen, aber Taran ist genauso wie Romanu Thronfolger."
„Sie werden uns schon eine Möglichkeit geben, einander zu besuchen. Nur schade, dass das Land von Cyrus und seinem Vater dazwischen liegt." Wenn man das Königshaus loswerden würde, könnte man deren Reich aufteilen. Aber diesen Gedanken behielt sie besser für sich. Sonst würde sie leicht wegen eines geplanten Anschlags festgenommen und verurteilt werden. Man wusste hier nie, wer bei einem Gespräch zuhörte. Noch etwas, das sie in diesem Palast störte.
Sie öffnete die Tür. Zwei Wachen, die sich zu beiden Seiten postiert hatten, neigten respektvoll die Köpfe. Sina fiel auf, dass einer der Männer zu Romanu, der andere zu Taran gehörte, und unterdrückte ein Schmunzeln. Es war die Art der Prinzen, zu zeigen, dass ihnen die Sicherheit der Mädchen gleichermaßen wichtig war.
Dementsprechend folgten die zwei Wachposten ihnen, als sie zum Ballsaal liefen. Die Gänge dorthin waren mit Prunk und Kinkerlitzchen geschmückt. Unzählige protzige Gemälde, auf denen die Könige der Vergangenheit als Wohltäter abgebildet waren. Das Lächerlichste daran war, dass sie übertrieben gutaussehend dargestellt wurden. Selbst noch im hohen Alter. Sina schnaubte abfällig. Da waren wohl ein paar Herrscher auf die Vampire neidisch gewesen. Kopfschüttelnd lief sie weiter. Gleich würde sie einem weiteren erbärmlichen Vertreter dieser Spezies gegenüberstehen.
Im Ballsaal hatte sich bereits ein Großteil des Vampiradels eingefunden. Sina bemerkte, wie Cyrus jeden ihrer Schritte verfolgte und wie sein Blick dann zu Alina wanderte. Die Gesichtsmuskeln spannten über seinem Kiefer. Erst jetzt drang zu ihm durch, dass das Mädchen keine Dienerin war, sondern Taran mehr bedeutete.
Sina spürte, wie der Hass regelrecht in ihm hochkochte, sah es in jeder winzigen Geste oder wie er seine Miene verzog. Der Vampir fühlte sich um etwas betrogen, auf das er keinen Anspruch hatte. Ärger lag in der Luft. Sie rollte unbehaglich mit ihren Schultern und hakte sich dann bei Alina ein. Die Jüngere schien ohne Worte zu verstehen, und folgte Sina widerstandslos zu Romanu und dessen Familie. Von Taran fehlte jede Spur. Ebenso von seinem Onkel.
Wer sich dagegen ein wenig abseits aufhielt, waren Fabiu und Hermanus mit Malia. Der jüngere Vampir hielt das Mädchen auf dem Arm und genoss es sichtlich, wie das Kind den Kopf an seine Schulter lehnte. Die Vaterrolle stand ihm gut, stellte Sina zufrieden fest. Er würde schon dafür Sorge tragen, dass es ihrer Ziehtochter an nichts fehlte.
Taran traf wenig später ein. Statt bei seiner Familie zu bleiben, oder Alina zu sich zu holen, stellte er sich neben Romanu. Sina hörte, wie die beiden sich leise unterhielten. Darüber, dass König Ragnar eine Überraschung erwartete. Sie lächelte grimmig. Er verdiente es, von seinem Thron verstoßen zu werden. Für das jährliche Fest der Vampire scheute er keine Kosten, doch seine Bevölkerung ließ er hungern. Dazu die geheimen Absprachen mit den Vedma, die vor kurzem Fabius Patrouille das Leben gekostet hatte. Wäre sie nicht rechtzeitig ins Dorf zurückgekehrt, um wenigstens ihn zu retten, sie hätte Ragnar selbst aufgesucht und ihm ein Messer ins Herz gerammt. Er würde schon bald für seine Taten büßen. Sie hörte ein Raunen durch die Anwesenden gehen und sah zum Thron.
König Kirill, Beroks Vater, hatte dort Platz genommen. Zwei seiner Wachen zwangen Ragnar auf die Knie. Der Mensch zitterte wie ein Grashalm im Wind. Von seiner früheren großspurigen Art keine Spur. In den Gesichtern der Vampire spiegelten sich Überraschung und Verwirrung wider. Nur wenigen sah man an, dass sie es erwartet hatten. Alles Männer, die zum engeren Kreis um die Familien von Romanu, Taran und Berok gehörten. Cyrus und sein Vater schienen dagegen aus allen Wolken zu fallen. Sina ließ ihren Blick zu Marina schweifen, die wie ein verschrecktes Reh einige Schritte hinter ihrem Bruder stand. Verbannt in die zweite Reihe. Ungewöhnlich für eine Prinzessin, die einen Gemahl suchte. Oder die man über eine arrangierte Ehe loszuwerden trachtete. Die Vampirin hatte ihre frühere Arroganz eingebüßt, wirkte auf Sina eingeschüchtert.
„Ich danke euch für eure Geduld", begrüßte König Kirill die Anwesenden. „Wie ihr wisst, hatte König Ragnar uns gebeten, eine Patrouille auszusenden, um Abtrünnige aufzuspüren. Stattdessen hat er die jungen Männer in den sicheren Tod geschickt." Aufgebrachtes Knurren hallte durch den Saal. Auch von denen, die keine Wachen verloren hatten. Illoyalität gegenüber einem Herrscher galt wie der Verrat an ihnen allen. „Bewahrt die Ruhe. Er wird seine gerechte Strafe erhalten. Auch für andere Taten, die mir zu Ohren gekommen sind. In seinem Auftrag wurden über Jahre junge Mädchen, meist vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, hierher an den Hof verschleppt. Sie wurden gezwungen, sich ihm zu unterwerfen, wenn sie es nicht rechtzeitig geschafft haben, ihm zu entkommen. Prinz Taran hat persönlich eines dieser Mädchen gerettet, als Wachen sie zum Palast bringen wollten. Sie hat sich entschlossen, dafür mit ihm in sein Reich zu reisen." Er nickte Alina freundlich zu.
Sina rieb sich über die Arme. Ihre Unruhe kehrte wieder. Der Blick, mit dem Cyrus Taran bedachte, gefiel ihr immer weniger. Misstrauisch beobachtete sie den Prinzen, hörte den Worten Kirills nicht mehr zu. Erst, als Ragnar laut winselnd um Gnade flehte, schenkte sie dem Geschehen wieder ihre Aufmerksamkeit. Wachen schleiften den ehemaligen Herrscher aus dem Thronsaal, um ihn in den Kerker zu bringen. Wenn er nicht freiwillig seine Sünden bekannte, warteten dort Folter und möglicherweise der Tod auf ihn. Dass er bald sterben würde, stand fest. Der Verrat, den er begangen hatte, wog zu schwer, als dass eine andere Strafe angebracht wäre. Sina atmete tief durch. Ragnar würde nie wieder einem Mädchen etwas antun. Nicht, dass jemals wieder Vedma in die Hauptstadt geschickt werden würden. Doch wenigstens waren so auch die Menschenmädchen vor ihm sicher.
Eine schwere Last fiel von ihren Schultern. Romanu warf ihr einen fragenden Blick zu, schlang dann einen Arm um sie und zog sie fest an seine Seite. Somit signalisierte er deutlich einigen jungen Vampirinnen, dass er seine Wahl getroffen hatte. Die Enttäuschung in den Gesichtern – in denen der Väter – brachte Sina zum Schmunzeln. Wie sie vernommen hatte, hofften einige Könige auf ein engeres Bündnis mit Romanus Vater. Eine Heirat wäre ein geeignetes Mittel dazu gewesen, doch der Prinz gehörte ihr. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und legte ihre Hand auf seine Brust. Ihr zukünftiger Gemahl, der nur sie an seiner Seite wünschte. Ein Leben, wie sie es sich vor wenigen Monaten erhofft, aber nie für möglich gehalten hatte, lag vor ihr. Wenn sie endlich von diesem verflixten Fest abreisten.
*****
König Ragnar wären wir dann wohl los. Hoch die Tassen!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top